Cancel Culture zieht sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit

Cancel Culture ist ein uraltes Phänomen, das sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit zieht. Dazu zählen Praktiken, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, deren Auffassungen von den eigenen in störender Weise abweichen. Julian Nida-Rümelin stellt fest: „Manchmal sind diese Praktiken todbringend, wie in den Ketzerprozessen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Neben der Androhung oder Vollstreckung des physischen Todes gibt es die Praxis des sozialen Todes, des nachhaltigen Ausschlusses aus der Gemeinschaft.“ Im Römischen Imperium war die Verbannung neben der Ermordung ein bei Kaisern und anderen Potentaten beliebtes Instrument der Cancel Culture. Auch das Scherbengericht in den griechischen Stadtstaaten zählt dazu. Es zwang beispielsweise Alkibiades, den Feldherren und lange Zeit Liebling der Athener, mitten im Krieg gegen Syrakus zum Abbruch seiner militärischen Mission und zur Rückkehr nach Athen. Dort musste er sich vor einem Tribunal verantworten. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und „public intellectuals“.

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Der Populismus kritisiert die Eliten

In der wissenschaftlichen Literatur gibt es die verschiedensten Definitionen für Populismus. Eine davon lautet: „Im Zentrum des Populismus stehen die Kritik er herrschenden Eliten und der Rückgriff auf das einfache Volk. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Agitationsform oder ein politisches Stilmittel, wie gelegentlich behauptet wird, sondern auch um ein ideologisches Merkmal.“ Klaus-Peter Hufer ergänzt: „Im Unterschied zum Rechtsextremismus versteht sich der Rechtspopulismus keineswegs als antidemokratisch. Er beansprucht im Gegenteil die Vertretung der wahren Demokratieform, indem er den vermeintlichen Volkswillen gegen die Rechte der Einzelnen oder Minderheiten in Stellung bringt. Je antiliberaler und antipluralistischer er auftritt, desto größer sind seine Schnittmengen zum Extremismus.“ Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.

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Die Demokratie lebt von der Kritik

Ausgewogene Kritik und Kritikfähigkeit sind wesentliche Werte und Voraussetzungen des zivilen Staates der Demokratie. Silvio Vietta ergänzt: „Sie sind auch notwendige Voraussetzungen zur Selbst-Bildung einer guten Individualität.“ Eine selbstkritische Einstellung ist nötig, um die richtige Schule und Berufsausbildung für sich auszuwählen. Sie hilft später dabei, den richten Beruf und vor allem auch den richtigen Partner fürs Leben zu finden. Ein gutes Zusammenleben zwischen Menschen setzt Kritikfähigkeit voraus, den richtigen Blick für die Schwächen und Stärken des Partners – wie auch die eigenen Schwächen und Stärken. Kritikfähigkeit beinhaltet auch die Fähigkeit, berechtigte Kritik auszuhalten. Im Allgmeinen ist das eine Leistung einer stabilen Persönlichkeit. Kritik und Kritikfähigkeit setzen also die Bildung zu einer eigenen Urteilsfähigkeit voraus. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Die Aufklärung regte zum Denken an

Zum eigenen Denken gehört Kritik als Instrument der Wahrheitssuche. Die Kritikfähigkeit gilt als Bedingung der Möglichkeit der Unterscheidung von wahr und falsch, dies auch und gerade im Bereich der Politik. Silvio Vietta weiß: „Die antike wie neuzeitliche Aufklärung war durchtränkt vom Geiste der Kritik.“ Dabei war ein Hauptprogrammpunkt der neuzeitlichen Aufklärung, den Verstand so zu schulen, dass er zu kritischem Denken befähigt war. Aufklärung in diesem Sinne war Denkschulung. Dagegen kommt es in totalitären Systemen zur Vermengung von Kritik und Ideologie, vor allem im Marxismus. Ausgewogene Kritik und Kritikfähigkeit sind Voraussetzung für die Bildung von Individualität. Zudem sind sie Bedingung einer guten Regierung in der Demokratie. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Gute Eliten dienen den anderen

Gute Regierungen dienen den Regierten, schlechte Regierungen dienen sich selbst. Oder – frei nach William Shakespeare – dienen oder sich bedienen: Das ist hier die Frage. Katja Gentinetta stellt fest: „Mit diesen wenigen Sätzen ist das Qualitätskriterium für Eliten eigentlich schon umrissen. Platon hat es formuliert, Aristoteles hat es ausgeführt und systematisiert.“ Genauso gilt: Gute Eliten dienen den anderen beziehungsweise allen, schlechte Eliten dienen sich selbst. Nach der Wahrnehmung von Katja Gentinetta ist dieses Kriterium weitgehend außer Blick geraten, ja verloren gegangen. Aktuell herrscht eine „Gleichmachergesellschaft“, die zwar begrüßenswerter Weise ein Produkt der fortschreitenden Demokratisierung ist, jedoch zu Überschießen neigt. Dieser Entwicklung ist es geschuldet, dass ein Qualitätskriterium für Eliten weitgehend verschwunden ist. Dr. Katja Gentinetta ist Politikphilosophin, Publizistin und Lehrbeauftragte an den Universitäten St. Gallen, Zürich und Luzern.

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Die Zivilisation führt Krieg gegen die Kultur

Der moderne Kulturbegriff hat viele Ursprünge. Bedeutung erlangte er erstmals Ende des 18. Jahrhunderts als Kritik am Industrialismus, aber auch als Gegenpol zum Revolutionsbegriff. Terry Eagleton ergänzt: „Gleichzeitig begann die Kultur für den romantischen Nationalismus eine zentrale Rolle zu spielen. Im 19. Jahrhundert tauchte der Kulturbegriff in den Debatten über Kolonialismus und Anthropologie auf. Er diente aber auch als Ersatz für schwindende religiöse Werte.“ In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Kultur zu einer regelrechten Industrie. Und sie fand in bisher unbekanntem Ausmaß Eingang in das öffentliche Bewusstsein. In den mittleren Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts erlangte sie zentrale Bedeutung für neue Formen des politischen Konflikts. Das ist eine Entwicklung, die sich in der Gegenwart als Multikulturalismus und Identitätspolitik fortsetzt. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Das Grundgesetz hält Deutschland zusammen

Das Grundgesetz Deutschlands ist eine großartige Errungenschaft, auf welche die Deutschen stolz sein können. Hier sind die Werte festgeschrieben, auf das Land zusammenhalten. Georg Pieper erläutert: „Sie garantieren, dass jeder sagen kann, was er denkt; lieben kann, wen er will; glauben kann, an wen oder was er mag; sein Leben gestalten kann, wie es seinen Vorstellungen entspricht.“ Sich dazu zu bekennen ist nicht nur eine Voraussetzung für den gesellschaftlichen Frieden, sondern kann noch dazu dem Einzelnen sehr viel Stärke geben. Das ist für Georg Pieper einer der wichtigsten Wege, Ängste in etwas Positives umzuwandeln. Auch die Mehrzahl der Mitbürger islamischen Glaubens empfindet eine klare Loyalität zum Grundgesetz. Gerade wenn sie Erfahrungen mit restriktiven politischen Systemen gemacht haben. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Alle Menschen sind frei und mit gleichen Rechten geboren

Nach Jahrtausenden der religiösen Dogmatik und des Aberglaubens entwickelten mutige Philosophen ein neues Menschenbild. Alle Menschen sind frei und mit gleichen Rechten geboren, alle sind gleich vor dem Gesetz, und die einzigen Kriterien für Wissen sind Fakten und Rationalität. Philipp Blom ergänzt: „Auf dieser Grundlage können Menschen in Frieden miteinander leben und Fortschritt schaffen, der das Leben aller verbessert. Die Erlangung und Verteidigung der Freiheit ist oberstes Ziel von Individuen und Gesellschaften.“ Dieses neue Denken, dass man als „Aufklärung“ bezeichnete, wurde anfangs bekämpft und unterdrückt, konnte sich aber im Laufe von zwei Jahrhunderten durchsetzen. Nach den Philosophen und der Französischen Revolution kamen die Arbeiterbewegung, die Abschaffung der Sklaverei und danach die Dekolonisierung, die Civil-Rights-Aktivisten in den USA, Feministinnen, die Entkriminalisierung der Homosexualität, die Achtung von Minderheiten als Gradmesser der Zivilisiertheit. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Jeder empfindet etwas anderes als Kränkung

Psychische Ausdrücke wie Glück, Trauer oder Angst werden mehr gefühlt als mit dem Verstand umrissen und lassen sich viel leichter emotional „begreifen“, als mit Worten beschreiben. So ist es auch beim Begriff der „Kränkung“. Reinhard Haller erläutert: „Obwohl jeder recht genau weiß – oder besser gesagt, genau spürt –, worauf sich der Ausdruck bezieht, ist es gar nicht so leicht, ihr konkret zu fassen und näher zu definieren.“ Dies hängt wohl damit zusammen, dass der Terminus sehr weit gespannt und auch ziemlich ungenau ist. Zudem kann man Kränkungen weder objektivieren noch quantifizieren. Kränkungen sind nicht nur schwer zu beschreiben, sondern sie sind vor allem nicht messbar. Sie lassen sich nicht gewichten, nicht einteilen, nicht durch psychologische Instrumente qualifizieren und kategorisieren. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

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In der westlichen Welt macht sich ein Gefühl des Niedergangs breit

In der westlichen Welt hat sich ein seltsames Gefühl der Ohnmacht ausgebreitet angesichts einer technischen Revolution, die dem Einzelnen doch eigentlich alle Möglichkeiten in die Hand zu geben scheint. Emmanuel Todd erläutert: „Worte, Bilder und Waren zirkulieren frei und in rasantem Tempo. Wir sehen eine medizinische Revolution, die eine fortschreitende Verlängerung des Lebens verheißt.“ Zwischen 1999 und 2014 stieg der Anteil der Internetnutzer von 5 auf 50 Prozent. Ländern verwandelten sich in Dörfer, Kontinente in Kantone. Dennoch macht sich in den hochentwickelten Staaten das Gefühl eines unaufhaltsamen Niedergangs breit. So sank beispielsweise im gleichen Zeitraum in den USA das durchschnittliche Einkommen von 57.909 auf 53.718 Dollar. Die Sterblichkeit der weißen Amerikaner zwischen 45 und 54 ist gestiegen. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

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Ohne Eliten wären die restlichen 99 Prozent der Bevölkerung verloren

Das Philosophie Magazin 06/2018 stellt im Titelthema die Frage: „Brauchen wir Eliten?“ und erhält darauf die unterschiedlichsten Antworten. Der Philosoph und Bestsellerautor Wolfram Eilenberger beantwortet die Frage mit einem klaren Ja, denn ohne die wahre Elite wären die übrigen 99 Prozent der Bevölkerung verloren. Was dieses 1 Prozent dieser Individuen herausragen lässt, sind ihre besonderen Talente und Sehnsüchte. Was sie zu sozialen Störenfrieden macht, ist ihr Beharren auf dem Willen zum exzellenten Ausscheren. „Elite“ ist der gängige Begriff für sie, „Gründer“ wäre ein weitaus treffender. Wolfram Eilenberger erläutert: „Denn ihre eigentliche Funktion für das Ganze besteht eben darin: Sie gründen relevante Anfänge – sei es in Form einer Religion, einer Philosophie, einer Technik, eines Unternehmens, eines Stils, eines Systems oder auch nur Standards.“

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Fehlende Balance der Identität führt zu Gereiztheit

Wer an mangelnder Balance seiner Identität leidet, kann nicht im rechten Augenblick das richtige tun. Dieser Mangel entsteht zum Beispiel, wenn Wunschkarriere und sozialer Status auseinanderklaffen, wenn man sich hohe Ziele steckt, bar nur niedrige erreicht. Jens Weidner erläutert: „Diese Dissonanz führt zu übertriebener Gereiztheit, sei es gegenüber der fürsorglichen Partnerin oder gegenüber vermeintlichen Kritikern. Denn deren Kritik streut Salz in die Wunde.“ Es schmerzt ja ohnehin, selbst gesteckte Ziele nicht gepackt zu haben, und um den Schmerz zu überspielen, schlägt man übertrieben zurück. Mangelnde Balance der Identität verführt auch schnell dazu, andere im Team klein zu machen, um sich selbst zu überhöhen. Sogar auf Kosten besserer Ideen der anderen. „Splendid Isolation“ heißt diese psychologische Mechanismus. Jens Weidner ist Professor für Erziehungswissenschaften und Kriminologie.

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Erlernte Hilflosigkeit lässt sich in Optimismus verwandeln

Auf die Frage „Warum fördert lebenslanges Lernen den Optimismus?“ gibt Jens Weidner folgende Antwort: „Wer lernt, wird klüger – in der Schule, in der Ausbildung, im Studium. Wer lebenslang lernt, auch noch mit dreißig, mit fünfzig, mit sechzig Jahren potenziert sein Wissen um ein Vielfaches, hat unterschiedliche Lösungsstrategien im Hinterkopf, kann zielführender, erfolgreicher agieren und kommt damit schlichtweg weiter als andere.“ Martin Seligman, der Präsident der American Psychological Association, hat sich der Frage intensiv gewidmet, ob man Optimismus lernen kann, und er beantwortet sie mit einem glasklaren Ja. Seine Studien verfolgten das Ziel erlernte Hilflosigkeit in Optimismus zu verwandeln. Eine seiner zunächst wenig spektakulären Kernaussagen lautet: Der Optimist hat einen zuversichtlichen Blick auf private sowie berufliche Möglichkeiten und wirtschaftliche Entwicklungen. Jens Weidner ist Professor für Erziehungswissenschaften und Kriminologie.

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Manfred Spitzer beschreibt die Generation Ich

Als Angehörige der Generation der Babyboomer kann sich Manfred Spitzer noch gut daran erinnern, dass der Drang nach Freiheit und Autonomie, die Ablehnung vermeintlich „verstaubter“ Werte, die Kritik am „System“ etc. in der damaligen Jugendkultur eine bedeutende Rolle gespielt haben. Manfred Spitzer ergänzt: „Unser Verhalten wird den damals schon etwas Älteren wahrscheinlich egozentrisch und wenig einfühlsam vorgekommen sein.“ Damals war man in der Regel als Gruppe unterwegs – man ging gemeinsam demonstrieren und belegte Gruppenseminare zur Selbstfindung. Niemand fand das damals paradox. Man redete damals nächtelang über Probleme, man studierte, wohnte und lebte zusammen. Das war wichtig. Auf die Generation der Babyboomer folgte die Generation X. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen.

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Der Kapitalismus führte zu einer Heiligsprechung des Konsums

Das Erstaunliche an der derzeitigen Lage ist: Selbst in einer ungewöhnlich langen wirtschaftlichen Wachstumsphase, wie sie Deutschland gerade erlebt und von der viele profitieren, ist der Unmut so groß, dass ihn etwas die neue Große Koalition mit milliardenschweren Wohltaten zuschütten muss. Und noch so viele Subventionen sorgen nicht dafür, dass die Kritik am Kapitalismus abebbt. Der Ausgleich zwischen Reich und Arm scheint nicht mehr zu funktionieren, jedenfalls nicht gut genug, um Aufruhr im System zu vermeiden. Dabei steht der Kapitalismus nicht bloß technisch-ökonomisch infrage, sondern vor allem philosophisch. Denn der Kapitalismus ist eben auch eine Frage der Werte. Intrinsische Motive und solidarische Effekte verpuffen allzu oft, sobald Geld ins Spiel kommt. Dieses Wirtschaftssystem ist voll von widersprüchlichen Effekten. Einer der stärksten ist die Grundüberzeugung, dass das Streben des Einzelnen nach dem eigenen Vorteil am Ende zu einem besseren Leben für alle führt.

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Der Mensch gibt sich durch die Verwendung von Zeichen Sinn und Orientierung

Laut Ernst Cassirer (1874 – 1945) ist der Mensch vor allem ein zeichenverwendendes und zeichenhervorbringendes Wesen – ein „animal symbolicum“. Wolfram Eilenberger ergänzt: „Er ist mit anderen Worten ein Wesen, das sich selbst und seiner Welt durch die Verwendung von Zeichen Sinn, Halt und Orientierung gibt. Das wichtigste Zeichensystem des Menschen ist dabei seine natürliche Muttersprache.“ Doch gibt es zahlreiche andere Zeichensysteme – in Ernst Cassirers Begrifflichkeit: „symbolische Formen“ –, etwa die des Mythos, der Kunst, der Mathematik oder der Musik. Diese Symbolisierungen, seien es sprachliche, bildliche, akustische oder gestische Zeichen, verstehen sich in der Regel nicht von selbst. Der fortlaufende Prozess, in dem Zeichen in die Welt gesetzt und durch andere Menschen interpretiert und verändert werden, ist der Prozess der menschlichen Kultur. Wolfram Eilenberger war langjähriger Chefredakteur des „Philosophie Magazins“, ist „Zeit“-Kolumnist und moderiert „Sternstunden der Philosophie im Schweizer Fernsehen.

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Singularitäten sind durch und durch sozial fabriziert

Die mystifizierende Haltung gegenüber Besonderheiten, die in der sozialen Welt der Kunstbetrachter und religiösen Gläubigen, den Bewunderern von Charisma und Liebenden, der Musikfans, Fetischisten von Markten und unbeirrbaren Lokalpatrioten verbreitet ist, setzt voraus, dass das, was ihnen wertvoll ist und sie fasziniert, gewissermaßen in ihrer natürlichen Essenz und unabhängig vom Betrachter wirklich authentische und einzigartige Phänomene sind. Andreas Reckwitz erläutert: „Mit Blick auf diese Mystifizierung des Authentischen hat die soziologische Analyse eine Aufklärungsfunktion. Einzigartigkeiten sind gerade nicht als vorsoziale Gegebenheiten vorauszusetzen, vielmehr gilt es, die Prozesse und Strukturen der sozialen Logik der Singularitäten zu rekonstruieren.“ „Soziale Logik“ heißt: Die Singularitäten sind nicht kurzerhand objektiv oder subjektiv vorhanden, sondern durch und durch sozial fabriziert. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Es gibt immer mehr Grauzonen des Rechts

Eine Mehrheit der Deutschen, 62 Prozent, glaubt, dass die Menschen vor dem Gesetz nicht gleich sind, sondern es zum Bespiel von einem teuren Anwalt abhängt, ob man Recht bekommt. Jens Gnisa ergänzt: „Immer noch 57 Prozent gehen davon aus, dass der Ausgang eines Gerichtsverfahrens vor allem durch den Richter und nicht die Gesetze bestimmt wird.“ Fast zwei Drittel der Bevölkerung hält die Gerichte für überlastet, und ein noch größerer Anteil wünscht sich schnellere Prozessabläufe. Jens Gnisa gibt zu, dass es in der Tat immer mehr Grauzonen des Rechts gibt, die Raum für Interpretation in alle Richtungen lassen. Die aktuellen Ursachen dafür liegen vor allem in dem Verlust der inneren Sicherheit, der den Bürgern intuitiv immer deutlicher bewusst wird. Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes.

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Die Lebensverhältnisse vieler Bürger sind unsicher geworden

Die heutige Gesellschaft mutet ihren Bürgern gravierende Unsicherheiten ihrer Lebensverhältnisse zu. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Sie werden kontinuierlich mit verstörenden Nachrichten über die Katastrophen dieser Welt konfrontiert, sie leiden an Verlusten an verlässlicher Orientierung und einer Aufkündigung von Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit.“ Und immer mehr Menschen erfahren, dass ihr Leben zu einer prekären Gratwanderung zwischen Meistern und Absturz geworden ist. In einer solchen Lage sehen sich viele Menschen in ihrem Selbstwertgefühl zutiefst verunsichert. Diese Erschütterungen des persönlichen Selbst hält auf Dauer niemand aus. Daher unternehmen Menschen, die sich ihnen ausgesetzt sehen, alles, was noch in ihrer Hand liegt, ihre Identität und Selbstwertschätzung zu schützen und zurückzugewinnen. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Kultur kann als eine Art soziales Unbewusstes verstanden werden

Seit so etwas wie Kultur existiert, hat sie das Zusammenleben der Menschen geprägt. In seinem neuen Buch „Kultur“ plädiert Terry Eagleton leidenschaftlich für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und liefert zugleich eine Anleitung, wie man seine persönlichen Beziehungen vertieft und dadurch zugleich die Zivilgesellschaft stärkt. Da der Begriff „Kultur“ sehr facettenreich ist, nähert sich Terry Eagleton seinem Gegenstand wohlweislich aus verschiedenen Perspektiven. Nachdem er sich mit der Bedeutung des Wortes „Kultur“ auseinandergesetzt hat, beschreibt er anschließend den entscheidenden Unterschied zwischen der Idee der Kultur und dem Begriff der Zivilisation. Danach befasst er sich mit der postmodernen Doktrin des Kulturalismus und unterzieht dabei die Begriffe Diversität, Pluralität, Hybridität und Inklusivität einer Kritik. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Die Aufklärung gilt als Zeitalter der Vernunft

Die Aufklärung wurde und wird gerne als das Zeitalter der Vernunft bezeichnet. Zweifellos war „Vernunft“ eine der großen Leitbegriffe der Aufklärung, die Hoffnung auf Vernunft zusammen mit der Hoffnung auf Freiheit eine ihrer großen Leitideen. Dies gilt besonders für die Idee einer allgemeinen Menschenvernunft, worin in jeder seine Stimme hat. Zu den erklärten Zielen der Aufklärung gehört die „Ausbesserung“ des Verstandes und die Läuterung des Willens, insgesamt also die Beförderung der theoretischen und praktischen Vernunft im Individuum und im Gemeinwesen. Der Mensch sollte sich mittels des richtigen Gebrauchs seines Vernunftvermögens selbst befreien und intellektuell, besonders aber moralisch, vervollkommnen. Als die Voraussetzung für die Realisierung wurde die allgemeine Menschenvernunft als Naturanlage und die Gewährung von für die Äußerung, den Austausch und die Verbreitung vernünftiger Gedanken erforderlichen Grundfreiheiten als äußere Bedingungen betrachtet.

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Wissen und Kunst sind für die Menschen unverzichtbar

Zwei Dinge sind für den Menschen unverzichtbar und bilden doch gegenüber dem Alltag ein Gegenmodell: Wissen und Kunst. Beide sind integrale Bestandteile einer freien Gesellschaft und spielen doch eine Sonderrolle. Otfried Höffe ergänzt: „Ferner sind beide für die Moderne wesentlich, womit diese erneut ihr Interesse zeigt, anthropologische Grundinteressen zu realisieren, sogar zur Blüte zu bringen.“ Schließlich besteht hinsichtlich der Freiheit eine formale Ähnlichkeit: Beide erlauben dem Menschen ein hohes Maß an Kreativität und Kritik, die allerdings unterschiedliche Gestalten annimmt. Ebenso fällt die Ambivalenz von Freiheit bei ihnen unterschiedlich aus. Eine Antriebskraft seit der frühen Moderne, zugleich ein Kernelement eines aufgeklärten Liberalismus bildet die Freiheit der menschlichen Vernunft. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Markus Gabriel befasst sich mit der Erklärung von Handlungen

Jeder kennt von sich selbst und seinen Begegnungen mit anderen Menschen den Eindruck, dass man sich manchmal nicht sicher ist, was wirklich die Motive des eigenen Handelns sind. Deswegen suchen Menschen nach Handlungserklärungen, also nach Erklärungen, die sie verstehen lassen, warum jemand etwas Bestimmtes tut. Markus Gabriel erklärt: „Dabei können wir entweder Wohlwollen oder Hintergedanken vermuten.“ Ersteres verbirgt sich hinter den freundlichen Listen: Man unterstellt jemandem Freiheit, was eine wohlwollende Deutung eines allem Anschein nach erfreulichen Ereignisses ist. Fiese Listen ersetzen den Anschein des Wohlwollens entweder durch Hintergedanken oder durch Erklärungen, die es erlauben, eine Person von den Zumutungen der Freiheit zu entlasten. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Der Optimist ist ein lächelnder Siegertyp

Fast jeder würde lieber mit einem Optimisten zusammenarbeiten als mit einem mürrischen Realisten. Der Optimist bringt Farbe in den gemeinsamen Arbeitsalltag, erkennt sich bietende Chance und tut fast alles dafür, sie zu realisieren. Jens Weidner fügt hinzu: „Bei gleicher Qualifikation wird der Optimist fast immer bevorzugt, wusste schon Niccolò Machiavelli, der ihn einen modernen Condottiere, einen lächelnden Siegertyp nannte.“ Denn er ist nicht nur erfolgsorientiert, sondern es macht zudem einfach Spaß, mit ihm zusammenzuarbeiten. Optimismus ist die Verheißung, dass alles gelingen könnte, im Beruflichen ebenso wie im Privaten und schon dafür sollte man ihn lieben. Optimisten fühlen sich demnach auf der Gewinnerseite des Lebens – unabhängig davon, ob sie es objektiv gerade sind, denn es könnte ja noch werden. Jens Weidner ist seit 1995 Professor für Erziehungswissenschaften und Kriminologie an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Hamburg.

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Der Gebildete scheint aus der Zeit gefallen zu sein

Alle reden von Bildung. Nur mit ihr lässt sich in rohstoffarmen Ländern wie Deutschland und Österreich der Wohlstand von heute auch in Zukunft erhalten. Während das Schlagwort Bildung jeden Tag in vielen Medien an vorderster Stelle steht, ist der Gebildete, das eigentliche Ziel aller Bildungsanstrengungen, nicht nur aus dem Wortschatz verschwunden. Es scheint sogar so, als hätte sich jeder ernsthafte Bildungsanspruch zu einem Ärgernis entwickelt. Die Gründe dafür nennt Konrad Paul Liessmann in seinem neuen Buch „Bildung als Provokation“. Um zu fundierten Ergebnissen zu gelangen, hat er die Parteienlandschaft und soziale Netzwerke untersucht. Außerdem geht er der Frage nach, warum es für viele Menschen so unangenehm ist, gebildeten Personen zu begegnen. Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien.

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