Mit seinem Buch „Alles Lügner!?“ gibt Thomas Erikson seinen Lesern alle Werkzeuge dafür in die Hand, einen Lügner zu erkennen – ob es nun ein guter Freund oder ein Kollege ist, ein Cousin oder der Chef. Der Autor beschreibt zudem einige Taktiken, mit denen man eine Lüge aufdecken kann. Das ist wichtig. Denn wer will sich schon hereinlegen lassen. Die Mittel, die Thomas Erikson beschreibt, kann man in allen Interaktionen mit anderen anwenden. Der Autor betont: „Und nicht weniger wichtig – viele wenden dieselben in ihren Interaktionen mit Ihnen an.“ Das Eigenartigste an Lügen ist, dass alle sie hinnehmen. In unterschiedlichem Maße, gewiss, aber Thomas Erikson ist noch niemandem begegnet, der wirklich immer die Wahrheit hören möchte. Thomas Erikson ist ein schwedischer Verhaltensexperte, international gefragter Vortragsredner, Leadership-Coach und Buchautor.
Wahrheit
Die eine Wahrheit gibt es nicht
Richard Rorty weist einen Gedanken zurück, nämlich den Gedanken der Annäherung an die eine Wahrheit. Anstatt geltend zu machen, dass die Realität eine und die Wahrheit Übereinstimmung mit dieser Realität ist, behaupten die Anhänger von Charles Sanders Peirce, dass die Idee der Annäherung in die Voraussetzungen des Diskurses eingebaut sind. Sie alle sind einhellig der Meinung, dass der Hauptgrund, weshalb die Vernunft nicht naturalisiert werden kann, darin liegt, dass die Vernunft normativ ist und Normen nicht naturalisiert werden können. Allerdings kann man, wie sie sagen, dem Normativen Platz schaffen, ohne zu der herkömmlichen Vorstellung von einer Pflicht zurückzukehren, die dem intrinsischen Wesen der einen Realität entsprechen soll. Richard Rorty (1931 – 2007) war einer der bedeutendsten Philosophen seiner Generation. Zuletzt lehrte er Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University.
Jeder möchte eine angenehme Wahrheit erzeugen
Die Differenz zwischen innerer und äußerer Rechtmäßigkeit ist ein typisch menschlicher Spannungszustand, der alle Bereiche des Alltags bestimmt. Ille C. Gebeshuber ergänzt: „Wir wollen gut sein und in diesem Zusammenhang für uns und die Mitmenschen eine Wahrheit erzeugen, die für alle angenehm und akzeptabel ist.“ Inwieweit sich Menschen dadurch von der Wirklichkeit entfernen, ist ihnen oft nicht bewusst. Die Psychoanalyse hat in diesem Bereich viele für den Homo sapiens unangenehme Entdeckungen gemacht. Aber das wird oft verdrängt, denn wer lässt sich schon gerne einen Spiegel vorhalten? Auf jeden Fall gilt: Eine Halbwahrheit, die einem das Gefühl gibt, im Recht zu sein, ist viel angenehmer als eine unangenehme Wahrheit, die eigentlich zutrifft. Aber recht zu behalten und das Richtige zu tun, ist nicht immer das Gleiche. Ille C. Gebeshuber ist Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien.
Konsumenten selektieren ihre Medien
Die Realität umgibt die Menschen mit Sachzwängen und zwingt sie so, ihre kindliche Seite in die hintersten Winkel ihres Geistes zu verbannen. Ille C. Gebeshuber fügt hinzu: „Dabei hören wir nicht auf, Kind zu sein, nur die Spielregeln ändern sich. Die eigene Weltsicht wird solide und der Platz in der Gesellschaft akzeptiert. Die Informationen, denen die Erwachsenen nun ausgesetzt sind, haben privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Charakter.“ Gesellschaftlich relevante Informationen begleiten alle Menschen auf Schritt und Tritt. Heute haben sich Medien zu einem Informationssturm entwickelt, der dem Konsumenten einiges an selektivem Geschick abverlangt. Das hat seine Vorteile, aber auch seine Nachteile. Vor allem fällt es dem Konsumenten leicht, die verschiedenen Informationsquellen derart zu selektieren, dass sie seinen Neigungen und Interessen entsprechen. Ille C. Gebeshuber ist Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien.
Die Begrenztheit des Planeten Erde ist offensichtlich
Das Dilemma zwischen Bewegung und Begrenztheit beschäftigt Anders Levermann schon lange. Vor allem die Frage: Wie ist unendlichen Wachstum auf einem begrenzten Planeten möglich? Als theoretischer Physiker forscht Anders Levermann seit zwanzig Jahren in der physikalischen Klimaforschung und seit nunmehr einem Jahrzehnt zusätzlich an den ökonomischen Aspekten des Problems. In seinem Buch „Die Faltung der Welt“ verbindet Anders Levermann Überlegungen aus den beiden Welten – den Natur- und den Wirtschaftswissenschaften. Die Begrenztheit des Planeten Erde ist offensichtlich. Das Dilemma entsteht dann, wenn man davon überzeugt ist, dass eine fortwährende Weiterentwicklung unausweichlich ist. Diese Weiterentwicklung muss darüber hinaus frei von Beschränkungen erfolgen, um tatsächlich effektive Lösungen für neue Herausforderungen zu finden. Der Physiker Anders Levermann arbeitet seit mehr als 20 Jahren am Potsdam-Institut für Klimaforschung. Zudem ist er Professor am physikalischen Institut der Universität Potsdam.
Viele Menschen propagieren ihre eigene Wahrheit
In der Kakophonie einer schreienden Welt ist es schier unmöglich, eine Wahrheit von der anderen zu unterscheiden. Ille C. Gebeshuber erläutert: „Viel zu viele propagieren ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Meinung. Von der erzkonservativen Kurzsichtigkeit bis hin zu fantastischen Verschwörungstheorien.“ Und diese vielen Wahrheitswelten betreffen nicht nur die Bereiche, die man sieht, sondern vor allem jene, die man überhaupt nicht sehen kann, weil man dazu verleitet wird, in die falsche Richtung zu blicken. Zur Inflation der Wahrheiten kommt noch das Informationsparadox des Informationssturms. Obwohl die Menge an Informationen immer weiter zunimmt, nimmt der Anteil an spezifischen Informationen ab. Die Einspeisung von Inhalten in die Informationskanäle und Datenspeicher durchläuft einen Filter. Dadurch ist der Zugang zu bestimmten Informationen eingeschränkt. Ille C. Gebeshuber ist Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien.
Die demonstrierte Entblößung symbolisiert den Sex
Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Es ist die angedeutete oder demonstrierte Entblößung vor allem jener Körperteile, die das Begehren und den Sex symbolisieren, die in der Öffentlichkeit das zweideutige Interesse an der Nacktheit generieren.“ Und dies nicht nur, weil der öffentliche Raum nicht der richtige Ort für intime Signale ist. Sondern vor allem deshalb, weil das Erotische selbst der vollkommenen Entblößung gegenüber höchst ambivalent ist. Das Erotische lebt von einer Gestik des Entblößens. Diese weiß, dass das Wechselspiel von Enthüllen und Verhüllen nicht nur in einem faktischen Sinn das Begehren strukturiert. Sondern sie gibt dem Eros auch seine philosophische Dignität. Denn immerhin dachte sich das Abendland die Wahrheit als ein Weib, die seiner Enthüllung harrt. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.
Ohne Gottlob Frege gäbe es heute keine digitale Revolution
Gottlob Frege gehört für Markus Gabriel zu den größten Logikern aller Zeiten. Als Mathematiker hat er maßgeblich zur Erfindung moderner symbolischer Logiken beigetragen. Das heißt, zu den mathematischen Zeichensystemen, die man heute noch verwendet, um die abstrakten Gedanken der Mathematik auszudrücken. Markus Gabriel stellt fest: „Gottlob Frege hat eine eigene Schriftsprache erfunden, um auf diese Weise die logischen Beziehungen zwischen Gedanken übersichtlicher darstellen zu können.“ Diese Schriftsprache nennt er die „Begriffsschrift“. Ohne Gottlob Freges Begriffsschrift gäbe es heute keine digitale Revolution. Er hat auch eine der wichtigsten Texte über das Denken geschrieben, seinen unscheinbaren kleinen Aufsatz „Der Gedanke“ von 1918. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Vor dem Bildschirm sitzen die Zuschauer stets in der ersten Reihe
Von den Menschen früherer Zeiten unterscheidet die heute lebenden, dass sie Zuschauer geworden sind. Alain Finkielkraut erklärt: „Wir schauen Ereignissen zu, von denen unsere Vorgänger durch mündliche Berichte oder die Lektüre erfuhren. Dieses „Wir“ kennt keine Ausnahme mehr: Ganz gleich, wo wir leben, mit dem Bildschirm sitzen wir stets in der ersten Reihe.“ Das Bild von George Floyd, dem am 25. Mai 2020 in Minneapolis gezielt die Luft abgedrückt wurde, ist um die ganze Welt gegangen, ein unerträgliches Bild. „Ich kann nicht atmen“, keuchte der Farbige, während ihm sein Peiniger ungerührt und sogar lächelnd das Knie auf den Hals drückte, bis er starb. Die Amerikaner, die danach spontan auf die Straße gegangen sind, um ihre Empörung kundzutun, versteht Alain Finkielkraut umso besser, als der Mord an George Floyd nicht der erste seiner Art war. Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.
Ein Fake verfolgt meist unlautere Absichten
Thomas Strässle stellt fest: „Die gegenwärtige Debatte über den Fake ist in erster Linie eine politische Debatte, keine philosophische oder ästhetische. Sie hat es mit einem Phänomen zu tun, das sich als manipulativer Übergang an Fiktionalität über die Faktizität beschreiben lässt.“ Solche Manipulationen können aus unterschiedlichsten Gründen und mit verschiedenen Zielen geschehen. Sie erfolgen aber meist aus unlauteren Absichten. Entsprechend trägt die Debatte auch moralische Züge. Der Fake gilt als eine Plage der Gegenwart, die mit allen Mitteln bekämpft und nach Möglichkeit wieder aus der Welt geschafft werden soll. Univ. – Prof. Dr. Thomas Strässle ist Leiter des spartenübergreifenden Y Instituts an der Hochschule der Künste in Bern. Zudem ist er Professor für Neuere deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich.
Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften
Seit Platon waren sich die Philosophen bewusst, dass die Sinne täuschen und Überzeugungen irregeleitet sein können. Aber sie nahmen an, dass den Menschen von Natur aus ein Drang zur Wahrheit innewohne und die Vernunft sie auf dem Weg zu ihr leiten würde. Jonathan Rauch blickt zurück: „Vor fast 300 Jahren formulierte der schottische Philosoph David Hume seine Kritik an dieser Standardauffassung.“ In seinem „Traktat über die menschliche Natur“ trug er eine der in dieser Sache entschiedensten und bekanntesten Thesen vor. Er schreibt: „Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften und sollte auch nur das sein. Auf kein anderes Amt kann sie Anspruch erheben als ihnen zu dienen und zu gehorchen.“ Jonathan Rauch studierte an der Yale University. Als Journalist schrieb der Politologe unter anderem für das National Journal, für The Economist und für The Atlantic.
Die meisten Gemeinschaften sind exklusivistisch orientiert
Richard Rorty schreibt: „Die Frage, ob es Überzeugungen und Wünsche gibt, die allen Menschen gemeinsam sind, ist ziemlich uninteressant, wenn man nicht von der Vorstellung einer utopischen, inklusivistischen Menschengemeinschaft ausgeht, die nicht mit der Entschiedenheit, mit der sie Fremde ausschließt, stolz ist, sondern auf die Verschiedenheit der Arten von Menschen, die sie willkommen heißt.“ Die meisten menschlichen Gemeinschaften sind jedoch exklusivistisch orientiert. Ihr Identitätsgefühl und das Selbstbild ihrer Angehörigen beruhen auf ihrem Stolz darauf, bestimmten Arten von Menschen nicht anzugehören. Nämlich denen, die den falschen Gott verehren, die falschen Nahrungsmittel essen oder irgendwelche anderen abwegigen, abstoßende Überzeugungen oder Wünsche haben. Richard Rorty (1931 – 2007) war einer der bedeutendsten Philosophen seiner Generation. Zuletzt lehrte er Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University.
Die Welt ist zu kompliziert geworden
Viele Menschen hoffen insgemein, der Weg in eine bessere Welt sei möglich. Doch selbst Übermorgen werden die Politiker der Welt auch keine Lösung für die Probleme der Welt finden. Ille C. Gebeshuber stellt fest: „Selbst der einfache Ansatz, dass der erste Schritt in eine bessere Welt darin besteht, dass alle die Regeln und Gesetze unserer Gesellschaft einhalten, erscheint undurchführbar.“ Die Bürger sehen, dass die Ankündigungen großer Schritte, die man nie ausführt, viel einfacher ist als das Gehen kleiner Schritte, die sofort Geld und Aufwand kosten. Zu kompliziert ist die Welt geworden und zu groß sind die Eigeninteressen einzelner. Aber man weiß einige Dinge. Zum einen weiß man, dass der Weg der globalen Gesellschaft nicht mehr lange so weitergehen kann. Ille C. Gebeshuber ist Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien.
In der Politik wurde immer schon gelogen
Bei der Gegenwart, so kann man lesen, handelt es sich um ein postfaktisches Zeitalter. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Ungeniert können Populisten Lügen verbreiten, ihre Anhänger wissen das und jubeln trotzdem oder vielleicht gerade deshalb.“ Dem Wahrheitsfreund graut, zumal er ja, so muss man den erschütterten Kommentaren zur „post-truth politics“ entnehmen. Denn er ist in einer Zeit groß geworden, in der Wahrheit in der Politik noch eine entscheidende Kategorie war und sich die Wähler an den besseren und faktengetreuen Argumenten orientierten. Natürlich stimmt diese in die Vergangenheit projizierte Idylle nicht. In der Politik wurde immer schon gelogen und immer schon haben die Anhänger diese Politik das augenzwinkernd akklamiert. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.
Nicht selten verdunkelt sich der Raum der Öffentlichkeit
Heutzutage ist nicht nur eine Abkehr von der Wahrhaftigkeit, sondern auch von der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit überhaupt, zu beobachten. Juliane Rebentisch stellt fest: „Die Effekte dieser Abkehr, die mit einer offiziellen Geringschätzung der Welt und der Öffentlichkeit einhergehen, sind dramatisch.“ Denn durch diese Geringschätzung wird nicht nur die Frage, ob etwas wahr oder unwahr ist, ersetzt durch die nach den eigenen Interessen.“ Eine solche Umstellung wird vielmehr die Gemeinsamkeit der Welt, in der allein ihr Bestand gewahrt werden kann, zerfallen lassen. Hannah Arendt schreibt: „In der Geschichte sind Zeiten, in denen der Raum der Öffentlichkeit verdunkelt und der Bestand der Welt fragwürdig wird, nicht selten.“ Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.
Die Täuschung setzt eine Rücksichtnahme auf andere voraus
Täuschungen erfüllen eine wichtige soziale Funktion. Von ihnen kann sogar eine beträchtliche zivilisierende Wirkung ausgehen. Robert Pfaller zieht eine wichtige Schlussfolgerung über die Rolle der Täuschung innerhalb der Kultur: „Die Täuschung setzt eine Rücksichtnahme auf den anderen voraus. Um jemanden täuschen zu können, müssen Sie sich ein Bild von den Wünschen und Erwartungen des anderen gemacht haben.“ Um die Wahrheit zu sagen, braucht man das hingegen nicht. Da muss man sich nur mit dem Sachverhalt beschäftigen, den man beschreibt, nicht aber mit der Person, zu der man spricht. Die Wahrhaftigkeit ist also oft nicht mehr als eine Form der Bequemlichkeit. Man erspart es sich einfach, sich mit dem anderen zu beschäftigen, mit dem man kommuniziert. Prof. Dr. Robert Pfaller lehrt Philosophie an der Kunstuniversität Linz.
Die Wahrheit stabilisiert das Leben der Menschen
Hannah Arendt hält wie Martin Heidegger an der terranen Ordnung fest. So beschwört sie oft Halt und Dauer. Byung-Chul Han fügt hinzu: „Nicht nur Weltdinge, sondern auch die Wahrheit haben menschliches Leben zu stabilisieren. Im Gegensatz zur Information besitzt die Wahrheit eine Festigkeit des Seins.“ Dauer und Beständigkeit zeichnen sie aus. Wahrheit ist Faktizität. Sie leistet jeder Veränderung und Manipulation Widerstand. So bildet sie das Fundament der menschlichen Existenz. Hannah Arendt schreibt: „Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann. Metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.“ Bezeichnenderweise siedelt Hannah Arendt die Wahrheit zwischen Erde und Himmel an. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Die Postmoderne verursacht alle Übel
Die Postmoderne ist an allem schuld. Denn sie ist der Ausgangspunkt für die Übel der Gegenwart, für die vier apokalyptischen Reiter Konstruktivismus, Relativismus, Moralismus und Identitätspolitik. Daniel-Pascal Zorn erklärt: „Für die Postmoderne ist die reale Welt nur eine Konstruktion. Nämlich ein Effekt von Machtansprüchen und anonymen Strukturen, der keinen Zugriff auf eine gemeinsame Wirklichkeit mehr erlaubt: Konstruktivismus.“ Hier gibt es keine Wahrheit mehr, nur noch relative Meinungen, die versuchen, sich gegen andere Meinungen durchzusetzen: Relativismus. Weil man dabei keine verbindlichen Maßstäbe mehr akzeptiert, ersetzt man Fakten und Tatsachen durch fiktive Vorstellungen und gedankliche Konstrukte. Deshalb gelingt die Durchsetzung von Meinungen nur noch mit moralischer Erpressung: Moralismus. Daniel-Pascal Zorn studierte Philosophie, Geschichte und Komparatistik. Seit 2021 ist er Geschäftsführer des Zentrums für Prinzipienforschung an der Bergischen Universität Wuppertal.
Die Pluralität der Meinungen führt zur Wahrheit
Orientiert man sich an Sokrates, so liegt die besondere Stellung des Philosophen gerade nicht in einem gegenüber dem Feld der Meinung substanziell verschiedenen Zugang zur Wahrheit. Auch er kann schließlich die Bedingung der Endlichkeit nicht überwinden. Sie liegt vielmehr in einer Bereitschaft zur staunenden Infragestellung der eigenen Überzeugungen. Nur wenn man die Pluralität der Meinungen selbst vergleicht, kann man allein die Wahrheit erschließen. Und dies immer wieder neu. Juliane Rebentisch erläutert: „Denn in ihrer Abhängigkeit vom Abgleich der Perspektiven muss die Wahrheit geschichtlich und also als fallibel gedacht werden.“ Laut Sokrates besteht die Rolle des Philosophen nicht darin, den Staat zu regieren, sondern dessen Bürger permanent zu irritieren. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.
John Locke kennt keine Tabus
Kategorien wie Gerechtigkeit, Treue, Schuld, Sünde, Gewissen, alles, woran sich Menschen zu orientieren pflegen, sind nur temporäre Vereinbarungen, Verhandlungssache. John Locke behauptet das nicht einfach, sondern belegt seine These mit reichem empirischem Material. Jürgen Wertheimer erläutert: „Eine Art Gehirnforschung aus dem Geist der anthropologischen Expertise, eine Ethnophilosophie ohne Tabus und Grenzen der Schicklichkeit.“ Es beginnt ein Großreinemachen im Augiasstall der Gewohnheiten, der Vorurteile und mentalen Restbestände aller Couleur. Wenn Menschen das, woran sie zu glauben gewohnt sind, für unumstößliche Wahrheiten halten, benehmen sie sich nicht anders als Kinder, die man blindem Gehorsam lehrte. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass letztlich Gott und die Welt auf dem Spiel stehen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Freiheit ist zunächst einmal eine Fiktion
Freiheit ist vorab nichts anderes als eine Idee, eine Fiktion, eine Unterstellung. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Es mag nun Wesen geben, denen diese Idee gefällt und die gerne danach handeln. In diesem Moment sind sie tatsächlich frei. Es ist genau so, als ob die Freiheit ihres Willens überzeugend nachgewiesen worden wäre. Oder, sehr verkürzt, aber treffend: Wir sind genau dann frei, wenn wir so tun, als wenn wir frei wären.“ Immanuel Kants Moralphilosophie und sein Kategorischer Imperativ beruhen auf diesem „Als ob“, gründen in der Fiktion der Freiheit. Alle damit zusammenhängenden Annahmen haben dieses „Als ob“, die Fiktion zur Voraussetzung. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.
Dem Menschen ist seine Autonomie sehr wichtig
Die Freiheit wird auch heute noch immer hochgeschätzt. Immanuel Kant schrieb einst, dass man von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch machen sollte. Aber um welche Freiheit geht es? Der amerikanische Informatiker und Künstler Jaron Lanier vergleicht moderne Menschen mit Wölfen. Wie kann das sein? Rebekka Reinhard antwortet: „Eigentlich ist der moderne, aus dem soliden Umfeld der Tradition gerissene Mensch doch ein unvergleichliches Individuum, eine Singularität. Dieser Mensch möchte kein skinnerisches Versuchstier sein. Autonomie ist ihm sehr wichtig.“ Die Computer-Logik dagegen übersetzt Vieldeutigkeit in Eindeutigkeit und kennt nur zwei Zustände: Entweder – Oder. So blitzschnell, dass sie wie aus Versehen ein Gleichheitszeichen zwischen „subjektiv“ und „objektiv“ setzt. Die Philosophin Rebekka Reinhard war, bis zur Einstellung der Zeitschrift, stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.
Jede Meinung ist zunächst zu gut wie jede andere
Die Idee einer parlamentarischen Demokratie ist darauf angelegt, durch Debatten einen Konsens zu erzeugen, der vorher nicht bestand. In den Konsens sollen, wie bei einem Kompromiss, verschiedene Perspektiven mit einfließen. Damit soll sichergestellt werden, dass möglichst viele Bevölkerungsgruppen, in die sich die Wählerschaft einteilt, repräsentiert sind. Markus Gabriel erklärt: „Im Raum der freien Meinungsäußerung ist somit zunächst einmal jede Meinung so gut wie jede andere.“ Ob sie auch wahr ist, spielt scheinbar keine Rolle. Deshalb führt diese Vorstellung dazu, dass man den Wert der Wahrheit in ethisch dringlichen und schwierigen Fragen durch Strategien der Kompromisslösung ersetzt. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Der Klimawandel ist eine Tatsache
Tatsachen sind Wahrheiten, so viel steht fest. Peter Trawny beginnt mit dieser weitverbreiteten Feststellung und bezieht sich dabei auf einen Streit über eine Reaktion auf die Klimakrise. Die Aktivistin Greta Thunberg sagt, dass die Menschheit „schon sämtliche Tatsachen und Lösungen“ zum Problem kennt. Sie muss nur noch „aufwachen und etwas verändern“. Deshalb fordert sie: „Ich will, dass ihr in Panik geratet.“ In Panik geraten kann man in der Tat nur, wenn eine wirkliche Gefahr schon sehr bedrohlich geworden ist. Wenn man nicht mehr daran zweifeln kann, dass man ohne unmittelbare Gegenmaßnahmen Schaden nehmen wird. Daher fügt sie hinzu: „[…] ich sage das nur, weil es wahr ist.“ Peter Trawny gründete 2012 das Matin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat.
Die eine unabhängige Wahrheit gibt es nicht
Gotthold Ephraim Lessing war davon überzeugt, dass es die eine unabhängige Wahrheit nicht gibt. Sondern dass es Wahrheit nur durch den Vergleich der Perspektiven verschiedener Menschen geben kann. Denn im Streit der Meinungen, im Prozess des Austauschs von Gründen, ist es möglich, dass die jeweils perspektivischen Bestimmungen der Wahrheit an Allgemeinheit gewinnen. Dadurch werden sie mehr als subjektive, willkürliche Bestimmungen oder bloße Meinungen. Juliane Rebentisch erklärt: „Dennoch aber, und auch das war Lessing durchaus bewusst, kann keine Bestimmung der Wahrheit die Bedingung der Endlichkeit aufheben. Auch die jeweils als allgemein gültig akzeptierten Bestimmungen bleiben prinzipiell an die Möglichkeit ihrer Bestreitung ausgesetzt.“ Nichts, auch das, was sich als Wahrheit etablieren mag, ist vor dieser Möglichkeit sicher oder sollte es sein. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.