Im Jahr 2017 berichteten im sozialen Netzwerk Twitter von Erfahrungen sexualisierter Gewalt. Svenja Flaßpöhler berichtet: „Frauen wie Männer auf der ganzen Welt fühlten mit den Opfern, solidarisierten sich im Netz und empörten sich über die Täter.“ Die empathische Kraft von Millionen von Menschen rund um den Globus führte zur Entmachtung und Verhaftung von Tätern. Man klagte Verdächtige öffentlich an und verschärfte das Sexualstrafrecht in Deutschland. Geschützt ist eine Frau jetzt auch dann, wenn sie zur Äußerung ihres Willens – etwa durch Drogen – gar nicht in der Lage ist. Doch was genau ist das für ein Gefühl: die Empathie? Wie kommt es, dass Menschen überhaupt mit fremden Schicksalen mitfühlen können? Die Philosophie des 18. Jahrhunderts war tief geprägt von diesen Fragen. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“.
Moral
Das Prinzip der Weltoffenheit kämpft gegen den Partikularismus
Die Idee für das Buch „Der Krieg der Worte“ von Harold James ist dem Eindruck geschuldet, dass die heutige Debatte über die Globalisierung nicht auf einem klaren Verständnis der grundlegenden Konzepte und Begrifflichkeiten fußt. Aktuell ist das Erlebnis, wie das Aufeinandertreffen zweier Prinzipien oder Philosophien die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik radikal verändern. Harold James schreibt: „Globalismus, Kosmopolitismus, Internationalismus, Multilateralismus: Es gibt viele Wörter für das Prinzip der Weltoffenheit. Auf der anderen Seite stehen Partikularismus, Lokalismus und Nationalismus.“ Ein Virus, der 2020 zum Gesicht – zur Verwirklichung – der Globalisierung wurde, hat diese Polarisierung weiter verschärft. Harold James hat eine Lehrstuhl für Geschichte an der Princeton University inne und ist Professor für Internationale Politik an der dortigen School of Public and International Affairs.
Neue Werte übernehmen die Vorherrschaft
Die Umbruchzeit der Digitalisierung dürfte Opfer kosten. Diese sind weit größer als das, was die Bürger der DDR in der Umbruchzeit der deutschen Vereinigung erlebt haben. Richard David Precht kennt die Zukunft auch nicht: „Ob es mit der Moral in Deutschland alles in allem bergab oder vielleicht doch bergauf geht, ist eine heiß umstrittene Frage.“ Auf der einen Seite steht das Gefühl jener Generation, dass Pflichtgefühl, Treue, Gemeinsinn, Arbeitsmoral, Sitte und Anstand kontinuierlich nach unten gingen. Erstaunlich nur, dass es sie, so oft totgesagt, heute irgendwie immer noch gibt. Was seit über hundert Jahren zur Neige geht, müsste eigentlich irgendwann einmal erloschen sein. Kulturpessimismus scheint oft mehr mit dem Lebensalter und den persönlichen Zukunftserwartungen zu tun zu haben als mit dem Zeitalter und den gesellschaftlichen Ausblicken auf die Zukunft. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Moralischer Fortschritt ist ein ewiger Prozess
Markus Gabriel stellt fest: „Moralischer Fortschritt hat keine Ziellinie. Er ist ein ewiger, niemals abzuschließender Prozess, auch deswegen, weil sich die nichtmoralischen Tatsachen ständig verändern.“ Weil Menschen geistige, geschichtliche Lebewesen sind und sich die Natur ebenfalls dauernd transformiert, gibt es kein endgültiges moralisches Ergebnis. Sondern es gibt nur eine nie gänzlich erfüllte Aufforderung, das Richtige zu tun und das Falsche zu unterlassen. Moral geleitet die Menschen nicht in ein irdisches Paradies. Und die universellen Werte führen nicht automatisch in einen Endzustand der menschlichen Versöhnung mit der Natur und allen Menschen. Es gibt eine sehr menschliche Neigung, das eigene Verhalten als moralisch richtig und das von anderen als fragwürdig einzustufen. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Die Rechtsphilosophie klärt das Verhältnis von Recht und Moral
Das Verhältnis von Recht und Moral ist die Grundfrage der Rechtsphilosophie. Alexander Somek erläutert: „Sie ist es deswegen, weil bei ihrer Beantwortung auf dem Spiel steht, und ob, bejahendenfalls, weshalb das Recht einen signifikanten Beitrag zu unserem vernünftigen Verhalten leistet. Wären wir vernünftige Wesen, auch wenn es das Recht nicht gäbe und wir bloß moralisch wären? Die Moral ist der Inbegriff der Gründe, die besagen, was Menschen tun oder nicht tun sollen. Oftmals wird zwischen der individuellen Klugheit oder Rationalität einerseits und der Moral andererseits unterschieden, zumal die Moral im Unterschied zur klugen oder rationalen Verfolgung des Eigeninteresses Menschen kategorische Gründe gibt, andere zu respektieren und deren Interessen zu achten. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
Jede Verletzung ist gefühlt
Gewiss sind vor der Moral der Gegenwart nicht alle Deutungen gleich. Die Kraft emotivistischer Urteile ist abhängig von der Identität des Urteilenden. Alexander Somek stellt fest: „Den Opfern gesteht man einen privilegierten erstpersonalen Zugang zur Verletzung zu. Denn jede Verletzung ist gefühlt.“ Das Gefühl verursacht, wenn das Opfer nicht völlig eingeschüchtert oder emotional unempfindlich geworden ist, ein „Buh“. Wenn die Opfer sagen, dass etwas verletzend ist, dann muss man ihnen glauben. Und wenn die Opfer nicht selbst sprechen, kommen ihnen Opferkundler zur Hilfe. Diese haben ihre Urteilskraft in den Sozial- und Kulturwissenschaften erworben und geschult. Eine Moral, die man in die Hände der Beleidigten legt, predigt nicht das Recht, sondern die Rache. Sie neigt daher zum Exzess. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
Von der Unruhe kommt man nicht so leicht los
Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 05/2024 beschäftigt sich mit der Frage: „Wie komme ich zur Ruhe?“ Die Ruhe ist eine große Sehnsucht vieler Menschen, doch sie ist nur schwer zu erreichen, wie bereits die Stoiker in der Antike wussten. Heute inmitten digitaler Ablenkung, politischer Krisen und spätmoderner Leistungsansprüche scheint sie weiter entfernt denn je. Der Philosoph Ralf Konersmann schreibt: „Charakteristisch für die Situation ist unser ambivalentes Verhältnis zur Unruhe: Wir leiden unter ihr, möchten sie aber auch nicht missen. Ich habe deshalb die Unruhe, unsere moderne Unruhe, eine Passion genannt.“ Inzwischen sind jedoch Trends wie Arbeitszeitreduktion zugunsten der Familien oder die Priorisierung von Hobbys auf dem Vormarsch. Ralf Konersmann erkennt in solchen Initiativen den Versuch, Alternativen zu entwickeln. Dennoch haben auch sie das Potential, neue Unruhe zu erzeugen. Die Unruhe ist also etwas, von dem man nicht so leicht loskommt.
Vielen Menschen ist am Schutz von Minderheiten gelegen
Markus Gabriel stellt fest: „Minderheiten kann man keineswegs stets den Anspruch zugestehen, Gehör zu finden und bei Entscheidungsprozessen mit am Tisch zu sitzen.“ Pädokriminelle, Antidemokraten, eindeutige Verfassungsfeinde, Mörder usw. haben aufgrund ihrer moralischen Defizite schlichtweg nicht das Recht, als Minderheiten vor institutioneller Härte geschützt zu werden. Vielen Menschen ist jedoch zu Recht am Schutz von Minderheiten gelegen. Zu schützende Minderheiten sind meistens solche, denen man nachweisbar Unrecht angetan hat. Man muss sie besonders schützen, um ihnen das volle moralische und juristische Recht zukommen zu lassen, dessen man sie beraubt hat. Es gehört zu der moralisch empfehlenswerten Seite der Demokratie, dass sie zu Unrecht unterdrückten Minderheiten Gehör verschafft. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Es gibt eine neue Moral und den Willen zur Umerziehung
Was der Mensch hervorbringt, misst man stets an derselben Elle der Humanität, dem Maßstab gleichberechtigter Menschenwürde. Alain Finkielkraut fügt hinzu: „Keine Möglichkeit wird übersehen, eine Mühe gescheut, wenn es darum geht, Geist und Herz zu öffnen.“ Man beurteilt Philip Roth und Milan Kundera als zu sexistisch, um den Nobelpreis zu verdienen. Und man verdammt Vladimir Nabokovs „Lolita“ aus allen Lehrveranstaltungen der Universitäten. So kann man sich rühmen, niemanden mehr zu privilegieren und die Missetaten und Wunschvorstellungen der letzten Vertreter der patriarchalischen Gesellschaft zu verdammen. Der Bannstahl der neuen Moral und der Wille zur Umerziehung entspringen jedoch nicht dem „Tugendideal der Askese“, sondern einem „egalitären Ideal“. Man hütet sich übrigens, das Wort Tugend zu verwenden, weil man sich unbedingt vom Krieg gegen die Libido distanzieren will. Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.
Das Moralspektakel verändert das Handeln der Menschen
Philipp Hübls neues Buch „Moralspektakel“ besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil geht es um die Frage, wie das Moralspektakel entstehen konnte und wie es das Handeln der Menschen und der Gesellschaft verändert. Der Autor erklärt, wie das moralische Statusspiel gespielt wird und warum man moralisches Prestige als Kapital ansehen kann, das man vermehren, investieren, aber auch inflationär verwenden und fälschen kann. Dieser Teil analysiert die aktuelle Situation und daher ein Projekt der deskriptiven Ethik. Anhand der empirischen Forschung beschreibt und erklärt Philipp Hübl, wie Menschen tatsächlich moralisch handeln. Der zweite, kritische Teil gehört zum Bereich der normativen Ethik, ist also wertend und nicht nur beschreibend. Darin geht es um die negativen Seiten des Moralspektakels. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).
Viele Menschen suchen bei der Arbeit den Sinn des Lebens
Früher war der Job einfach nur zum Geldverdienen da. Heute geht es vielen Menschen bei der Arbeit um nichts weniger als den Sinn des Lebens. Sie meinen, dass sinnvolle Jobs jene sind, durch die die Welt ein bisschen besser wird. Ist die Suche nach dem Sinn bei der Arbeit nicht eigentlich die Suche nach Moral? Nämlich nach hehren Prinzipien allgemeinverbindlichen Handelns? Oder nach den unbestreitbaren und ewig gültigen Guten? Das nobelste aller Ziele wäre dann ein guter Mensch zu sein. Ingo Hamm stellt die Frage noch einmal anders: „Ist Sinn = Moral? Suchen wir insgeheim nicht nach einer sinnvollen, sondern in Wirklichkeit nach einer moralischen Aufgabe?“ Vielleicht ist das lediglich eine simple Wortverwechslung. Dr. Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt.
Nicht jeder ist immer ein guter Mensch
Beim moralischen Wahlakt geht es immer um den fundamentalen Zielkonflikt zwischen positiven externen Effekten und dem Eigennutz. Armin Falk erläutert: „Wir wägen das moralisch Wünschbare ab mit den Unannehmlichkeiten und Nachteilen, die mit unseren Handlungen verbunden sind.“ In diesem Zielkonflikt, so simpel er erscheinen mag, liegt der Kern des Problems begründet, warum nicht jeder und immer ein guter Mensch ist und nicht automatisch den allgemein akzeptierten moralischen Vorstellungen folgt. Schlicht deswegen, weil es „teuer“ ist. Wer nicht bereit ist, die Kosten zu tragen, verhält sich nicht altruistisch, sondern egoistisch. Wäre der moralische Akt kostenlos zu haben, wären wohl alle Menschen moralische Superhelden. Armin Falk leitet das Institut für Verhaltensökonomik und Ungleichheit (briq). Außerdem ist er Direktor des Labors für Experimentelle Wirtschaftsforschung, sowie Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn.
Es gibt universelle moralische Prinzipien
Der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt und andere Forscher neigen zu einem Relativismus, der zugespitzt lautet: Jede Kultur hat ihre eigene Moral. Philipp Hübl erläutert: „Wenn die Moral den Gefühlen gehorchen muss, kanns sie als Sklavin der Leidenschaften schwerlich universell sein.“ Im Westen ist moralischer Relativismus heute oft aus Minderheitenschutz heraus, also aus Fürsorge und Fairness motiviert. Denn es besteht die Angst, in der Moral kolonialistisch oder „ethnozentrisch“ zu verfahren. Doch universelle moralische Prinzipien sind nicht „westlich“, nur weil einige von ihnen zuerst im Westen formuliert wurden. Genauso wenig ist das Prinzip des gewaltlosen Widerstands gegen Unterdrücker „indisch“, nur weil es Mahatma Gandhi als Erster erfolgreich gegen die britischen Besatzer eingesetzt hat. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).
Gutem Verhalten geht eine „schwierige Freiheit“ voraus
Der litauisch-französische Philosoph Emmanuel Lévinas hat einige wunderschöne Seiten über die „schutzlose“ menschliche Haut geschrieben. Charles Pépin erklärt: „Unsere Haut ist viel dünner als die der anderen Säugetiere. Es ist gar nicht so schwer – zumindest materiell gesprochen –, einen Menschen zu töten.“ Das erste moralische Gebot „Du sollst nicht töten“ hat erst dann einen Sinn, wenn der Andere als Gegenüber wirklich anwesend ist. Nur dann wendet er einem Anderen sein Gesicht zu und macht ihn für sein Überleben verantwortlich. Emmanuel Lévinas bezeichnet diese Verantwortung sogar als Geiselschaft. Man kann es sich jetzt nicht mehr aussuchen und hat die Pflicht, sich um den Anderen zu kümmern. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Es gibt einen moralischen Kompass
Wie Menschen eine Sachlage beurteilen und wie sie sich in einer gegebenen Situation fühlen, gehört zum moralischen Nachdenken. Markus Gabriel erläutert: „Die universalen Werte nehmen uns unsere konkreten Entscheidungen nicht ab. Der moralische Kompass zeigt uns auf, in welche Richtung wir gehen sollen. Die einzelnen Schritte müssen aber immer noch wir als immer auch irrtumsanfällige Individuen gehen.“ Ansonsten wäre man nicht frei, denn das eigene Handeln wäre sozusagen durch die moralischen Kräfte der universalen Werte vorbestimmt. Die Grundthese des moralischen Realismus besagt in diesem Zusammenhang, dass Wertvorstellungen wahr oder falsch sein können. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Freiheit ist zunächst einmal eine Fiktion
Freiheit ist vorab nichts anderes als eine Idee, eine Fiktion, eine Unterstellung. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Es mag nun Wesen geben, denen diese Idee gefällt und die gerne danach handeln. In diesem Moment sind sie tatsächlich frei. Es ist genau so, als ob die Freiheit ihres Willens überzeugend nachgewiesen worden wäre. Oder, sehr verkürzt, aber treffend: Wir sind genau dann frei, wenn wir so tun, als wenn wir frei wären.“ Immanuel Kants Moralphilosophie und sein Kategorischer Imperativ beruhen auf diesem „Als ob“, gründen in der Fiktion der Freiheit. Alle damit zusammenhängenden Annahmen haben dieses „Als ob“, die Fiktion zur Voraussetzung. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.
Der „europäische Geist“ erlebte eine Krise
War man um die Mitte des 17. Jahrhunderts durch die zermürbende Erfahrung des Krieges klüger geworden? ES kann jedenfalls kein Zufall sein, dass mehr oder weniger simultan europaweit Tendenzen zu beobachten sind, an allem, was mit überkommenen Machtstrukturen zu tun hat, Kritik zu üben. Jürgen Wertheimer weiß: „Das betrifft Regierungsformen wie Denkstile. England unter der republikanischen Diktatur Oliver Cromwells oder die Revolte der Niederlande gegen die spanische Hegemonie sind nur zwei Beispiele für die beginnende Korrosion traditioneller Herrschaftsgefüge.“ Weit deutlicher jedoch als im Bereich der Politik zeigen sich die Zeichen eines generellen Umbruchs im Bereich der Künste und Wissenschaften. Denn der „europäische Geist“ erlebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine massive Krise. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Die Moral wird zur Komplizin des Bösen
Die begründungsabstinente Unbekümmertheit der Moral in der Gegenwart manifestiert sich an der Identifizierung sexistischer oder rassistischer Signale. Über deren verwerflichen Charakter herrscht große Einmütigkeit. Bei der Einmütigkeit handelt es sich jedoch nicht um den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Alexander Somek fragt: „Ist eine Darstellung dann sexistisch, wenn sie Frauen als Sexualobjekte zeigt, obwohl doch das wechselseitige Sich-Zum-Objekt-Machen zur Sexualität gehört?“ Es wäre doch wohl verkehrt anzunehmen, dass durch die Affirmation des Umstands, dass heterosexuelle Männer auf Frauen stehen, die Unterordnung der Frau unter den Mann ratifiziert wird. Wäre die „Heteronormativität“ der Skandal, dann müsste auch gezeigt werden, in welchem Zusammenhang sie mit dem männlichen Sexismus steht. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
Es gibt einen moralischen Fortschritt
Markus Gabriel fordert: „Forschung muss sich am moralischen Wohl der Menschheit ausrichten.“ Wären alltägliche Situationen moralisch unauflösbar, von Dilemmata geprägt, wäre es unmöglich, absichtsvoll das Richtige zu tun. Wenn man dann doch einmal das Richtige, sprich das Gute täte, wäre dies reiner Zufall in einer komplexen Lage. Doch das würde bedeuten, dass man niemals in der Lage wäre, moralisch zu handeln. Die Handlungen wären ein Spielball des Zufalls, den man allenfalls noch annähernd mit verhaltensökonomischen oder evolutionsbiologischen Modellen beschreiben könnte. Nur so könnte man statistische Aussagen darüber machen, wie Menschen sich verhalten und wie man sie lenken kann. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Gefühle bestimmen heute alles
Unverhältnismäßiges Aggressionsverhalten ist nicht auf Covid-19-Leugner oder Verharmloser der Epidemie beschränkt. Richard David Precht weiß: „Es findet sich ebenso auf der Seite von Konformisten, denen die Pflichterfüllung zum unbegrenzten und rüden Missionsauftrag wird. Das Gefühl, aus legitimer Aggression zu handeln, schmiedet beide Seiten viel enger zusammen, als es ihrem Selbstverständnis entspricht.“ Es gibt viele Gründe, warum Maßhalten mit den eigenen Emotionen heute nicht mehr die gleiche Rolle spielt wie in der Antike. Und von dort bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Gefühle gelten heute als legitim und bestimmen alles, vom privaten Gespräch bis zur medialen Berichterstattung. Stets geht es darum, wie ein Mensch etwas fühlt. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Moralische Urteile geben kein Wissen wieder
In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war das Wichtigste an der Moral die Frage nach ihrer kognitiven Dimension. Das bedeutet nicht, dass in der gesellschaftlichen Erfahrung ihr Wahrheitsanspruch im Vordergrund gestanden wäre. Alexander Somek weiß: „In gewisser Weise war das Gegenteil der Fall. Vor vierzig oder fünfzig Jahren verstanden sich viele als Relativisten oder gar Skeptiker.“ Die Moral der Gegenwart ist davon auffällig verschieden. In der Praxis des moralischen Urteils manifestiert sich ein Selbstverständnis über die Bedeutung des moralischen Urteils. Das entspricht in der Metaethik dem, was man gemeinhin als „Emotivismus“ bezeichnet. Nach emotivistischer Auffassung geben moralische Urteile kein Wissen wieder. Sie haben keinen kognitiven Gehalt. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
Die Politik braucht die Bereitschaft des Kampfes
Den Menschen ist die Unterscheidung von Freund und Feind nicht fremd. Die Moral unterscheidet zwischen gut und böse, die Ästhetik zwischen schön und hässlich, die Ökonomie zwischen nützlich und schädlich. Der Mensch braucht bei der freiheitlichen Begegnung einen Maßstab, um die Mitmenschen in Gruppen von Nahe- und Fernstehenden zu unterscheiden. Paul Kirchhof weiß: „Für Carl Schmitt ist dieses die Unterscheidung zwischen Freund und Feind.“ Sie ist seiner Meinung nach notwendig, um politische Handlungen und Motive zu erklären und zu verstehen. Ist der Andere existenziell etwas Anderes und Fremdes, sind Konflikte mit ihm möglich. Bedroht das Anderssein des Fremden die eigene Existenz, muss man den anderen abwehren und bekämpfen. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.
Das Ende der Literatur scheint gekommen zu sein
In seinem neuen Buch „Vom Ende der Literatur“ kritisiert Alain Finkielkraut: „Man liest nicht mehr, man korrigiert und klagt an.“ Der Bannstrahl der neuen Moral und der Wille zur Umerziehung entspringen nicht dem Tugendideal der Askese, sondern einem egalitären Ideal. Man hütet sich übrigens, das Wort Tugend zu verwenden, weil man sich unbedingt vom Krieg gegen die Libido distanzieren will. Im Kapitel „Erbaulicher Kitsch statt sexistischer Klischees“ behauptet Alain Finkielkraut, dass es sich beim Neofeminismus um Vandalismus handelt: „Unter dem großtönenden Vorwand, das Privileg der Männlichkeit abzuschaffen, wird die Sprache entstellt – bis zur Unleserlichkeit und Unaussprechlichkeit.“ Man ersetzt den Reichtum einer Sprache, den zahllose Schriftsteller mitgeschaffen haben, im Namen der Gleichberechtigung durch ein grauenhaftes Kauderwelsch. Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.
Wahrheit ist der Wille der Überwältigung
Für Friedrich Nietzsche bedeutet der Wille zur Wahrheit: „Ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht.“ Und hiermit befindet er sich auf dem Boden der Moral. Im Nachlass vom Herbst 1887 findet sich sogar noch eine Steigerungsform. Wahrheit sei ein Name „für den Willen der Überwältigung. Wahrheit hineinlegen, als ein aktives Bestimmen, nicht als Bewusstsein von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den Willen zur Macht.“ Christian Niemeyer weist darauf hin, dass man gegen diese Pointe das Bedenken vortragen könnte, Friedrich Nietzsche moralisiere hiermit das Wahrheitsproblem. Und er verfehle die in seinem Grundansatz an sich die sehr viel zwingendere Psychologisierung des Moralbegriffs. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.
Markus Gabriel erforscht die Komplexität
Viele Menschen kennen das Problem, dass die Komplexität des modernen Alltags enorm gestiegen ist. Daher können sie manchmal nicht mehr nachvollziehen, wie eigentlich individuell die richtige Entscheidung zu treffen ist. Manche Menschen ergeben sich deshalb dem Zynismus und glauben, moralisch anspruchsvolle Politik sei gar nicht möglich. Sie wollen den eigenen Wohlstand auf Kosten anderer sichern. Markus Gabriel kritisiert: „Wer so denkt, rechtfertigt sich selbst gegenüber moralischen Widersprüchen, die bei Lichte betrachtet schwer erträglich sind. Allerdings täuscht der Eindruck eines nicht auflösbaren Knäuels ethischer Schwierigkeiten.“ Bei genauer Betrachtung gibt es für Markus Gabriel keine wirklichen ethischen Dilemmata, also keine unauflösbaren Situationen. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.