Das „Projekt Aufklärung“ war insgesamt das zentrale und in seiner Vielgestaltigkeit und Konsequenz das vielleicht folgenreichste Vorhaben Europas. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Es sollte alle Medien und Institutionen erfassen, alle Stände und Länder durchdringen und massive, ja revolutionäre Folgen haben.“ Für Immanuel Kant ist Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist dabei das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Der Wahlspruch der Aufklärung lautet: „Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Eine Formel wie diese schreibt sich nicht einfach so hin. Sie ist das Resultat eines Erfahrungs- und Erwartungsprozesses. Sie spricht von der Vergangenheit wie von der Zukunft, ist Feststellung und Appell zugleich. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Aufklärung
Adam Smith propagiert die unsichtbare Hand des Marktes
Adam Smith propagierte in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“, dass die Geschicke der Gesellschaft in der unsichtbaren Hand des Marktes liegen sollten statt in der Pranke eines Alleinherrschers. Der Moralphilosoph und Ökonom sah in einem empathischen und demzufolge moralischen Verhalten der Menschen die Grundlage vernünftigen Wirtschaftens und Zusammenlebens. Die Gerechtigkeit sei „der Hauptpfeiler, der das ganze Gebäude stützt. Wird dieser Pfeiler entfernt, muss der gewaltige, der ungeheure Bau der menschlichen Gesellschaft […] in einem Augenblick zusammenstürzen“. Roger de Weck weiß: „Doch viele Liberale des 21. Jahrhunderts ärgern sich mehr über die angebliche Hypermoral als über die tatsächliche „Hypomoral“: die unterentwickelte Moral, die den esprit général der liberalen Demokratie verdirbt. Sie verkennen, dass neurechtes Moral-Bashing nichts anderes ist als ein Generalangriff auf den Liberalismus. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Die Krise der Demokratie muss man nicht als deren Niedergang deuten
Für Roger de Weck spricht vieles dafür, dass sich Aufklärung und Demokratie gemeinsam ganz gut behaupten, statt zusammen zuschanden zu werden: „Aufklärung ist Suche, und die Demokratie ist offensichtlich in eine intensive Suchphase eingetreten.“ Demgegenüber sind reaktionäre Autoritäre unwillig und ziemlich unfähig, rechtzeitig Veränderungen in der Gesellschaft aufzugreifen, auf die Einstellungen der jungen Jahrgänge einzugehen. Das schafft die Demokratie auch nicht immer gut, aber viel besser, und die von gestandenen Politikern geschmähten Aktivisten und Anhänger von Fridays for Future sind ein Katalysator ihrer Erneuerung. Sie bereichern, beleben und bestärken die liberale Demokratie. Ihre derzeitige Krise muss nicht als Niedergang gedeutet werden, sich lässt sich als Übergang begreifen: Gegen tausend Widerstände, die an ihre Substanz gehen, wechselt die Demokratie in einen vielversprechenden Modus. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Mündigkeit und Mut charakterisieren die vier Geister der Gegenwart
In seinem neuen Buch „Geister der Gegenwart“ entwirft Wolfram Eilenberger ein großes Ideenpanorama der westlichen Nachkriegszeit. Dazu begibt er sich auf die Spuren von Theodor W. Adorno, Susan Sonntag, Michel Foucault und Paul K. Feyerabend. Wolfram Eilenberger schreibt: „Dieses Buch ist das Zeugnis einer Befreiung. Sie wurde vom Autor in langen Jahren erträumt. Das Philosophieverständnis, von dem diese Befreiung geleitet ist, widerspricht den derzeit vorherrschenden Formen akademischen Philosophierens. Aber nicht der philosophischen Tradition.“ Dies erklärt auch die Auswahl der Leitgestalten dieses Buches. Alle vier hier näher vorgestellten „Geister der Gegenwart“ standen zu den seit dem Nachkrieg sich institutionell verfestigenden Formen und Schulen des Philosophierens in einem Verhältnis unterlaufender Gegnerschaft. Darüber hinaus bilden sie selbst keine Gruppe oder Schule. Auch schufen sie keine Theorie oder gar ein System.
Die Arten von Unwissenheit sind zahlreich und vielfältig
Die Zeit scheint gekommen für einen Überblick über die Rolle der Unwissenheit – einschließlich des bewussten Ignorierens – in der Vergangenheit. Peter Burke ist zu der Ansicht gelangt, dass diese Rolle bisher unterschätzt worden ist, was zu Missverständnissen, Fehlurteilen und anderen Arten von Fehlern geführt hat, oft mit schlimmen Folgen. Das wird besonders zum jetzigen Zeitpunkt deutlich, da die Regierungen zu wenig und zu spät auf den Klimawandel reagieren. In seinem neuen Buch „Die kürzeste Weltgeschichte der Unwissenheit“ zeigt Peter Burke, sind sowohl die Arten von Unwissenheit wie auch die daraus folgenden Katastrophen zahlreich und vielfältig sind. Sechzehn Jahre lehrte Peter Burke an der School of European Studies der University of Sussex. Im Jahr 1978 wechselte er als Professor für Kulturgeschichte nach Cambridge ans Emmanuel College und ist inzwischen emeritiert.
Viele Menschen werden in starre Lebensläufe gezwungen
Sogenannte „Fachidioten“ führen ihre Follower in die Gefangenschaft der eigenen Selbstverständlichkeiten. Diese verleiten zu einem sehr gegrenzten Handeln. Die „Filter-Bubble“ ist nicht nur ein Phänomen des Digitalen, sondern zeigt sich auch im Analogen, in der Bildung. Anders Indset kritisiert: „Die Wissensgesellschaft ist ein Produkt des fatalen Nickerchens, in der trotz der Aktivierung und der Aufbruchstimmung der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts die Menschen im Wesentlichen in starre und vorbestimmte Lebensläufe gezwungen werden.“ Der Lebensplan steht bereits in der Kindheit fest. Man weiß, was einen im Leben erwartet – der Job wartet. So dient die sich zur Absolutheit gesteigerte Wissensgesellschaft der Förderung der Wirtschaft und des ökonomischen Wachstums. Auf einem kontrollierten und messbaren Bildungsweg begeben sich die Menschen in ein Leben der Konformität. Anders Indset, gebürtiger Norweger, ist Philosoph, Publizist und erfolgreicher Unternehmer.
Die Aufklärung muss sich gegen Cancel Culture verteidigen
Die Stärke des aufklärerischen Projekts ist zugleich ihre Schwäche. Im Vertrauen auf die menschliche Vernunftfähigkeit nimmt sie ihre Kritiker als Gesprächspartner ernst und bekämpft sie nicht als Feinde. Julian Nida-Rümelin ergänzt: „Ihre Stärke beruht auf ihrer Universalität und Inklusivität, ihre Schwäche ebenso. Wenn sie sich mit den Mitteln ihrer Feinde, zu denen Cancel Culture ganz wesentlich gehört, verteidigen würde, gäbe sie sich selbst auf. Sie muss sich verteidigen, ohne ihre eigenen Grundlagen zu gefährden.“ Unter Cancel Culture versteht Julian Nida-Rümelin eine kulturelle Praxis, die Menschen abweichender Meinungen zum Schweigen bringt, indem sie erstens die Äußerung dieser Meinungen unterbindet, behindert oder zumindest erschwert. Zweitens, indem sie Personen, die diese Meinung haben, zum Schweigen bringt, aus dem Diskurs ausgrenzt oder zumindest marginalisiert. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und „public intellectuals“.
Cancel Culture zieht sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit
Cancel Culture ist ein uraltes Phänomen, das sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit zieht. Dazu zählen Praktiken, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, deren Auffassungen von den eigenen in störender Weise abweichen. Julian Nida-Rümelin stellt fest: „Manchmal sind diese Praktiken todbringend, wie in den Ketzerprozessen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Neben der Androhung oder Vollstreckung des physischen Todes gibt es die Praxis des sozialen Todes, des nachhaltigen Ausschlusses aus der Gemeinschaft.“ Im Römischen Imperium war die Verbannung neben der Ermordung ein bei Kaisern und anderen Potentaten beliebtes Instrument der Cancel Culture. Auch das Scherbengericht in den griechischen Stadtstaaten zählt dazu. Es zwang beispielsweise Alkibiades, den Feldherren und lange Zeit Liebling der Athener, mitten im Krieg gegen Syrakus zum Abbruch seiner militärischen Mission und zur Rückkehr nach Athen. Dort musste er sich vor einem Tribunal verantworten. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und „public intellectuals“.
Die Moderne umfasst drei Phasen
Generell lässt sich die Geschichte der Moderne in drei Phasen einteilen: die der bürgerlichen Moderne, der organisierten Moderne und der Spätmoderne. Andreas Reckwitz erläutert: „Die bürgerliche Moderne als erste Version der klassischen Moderne verdrängt in Europa und Nordamerika im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts allmählich die traditionelle Feudal- und Adelsgesellschaft.“ Die frühe Industrialisierung, die Aufklärungsphilosophie, und die Verwissenschaftlichung, die Entstehung von überregionalen Warenmärkten und kapitalistischen Produktionsstrukturen, die allmähliche Verrechtlichung und Demokratisierung, die Urbanisierung und die Ausbildung des Bürgertums als kulturell tonangebende Klasse mit Ansprüchen der Selbstdisziplin, der Moral und der Leistung lassen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft eine soziale Logik des Allgmeinen entstehen. Überall setzten sich die technische, die kognitive und die normative Rationalisierung allmählich durch. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.
Silvio Vietta kennt den Wert der Demokratie
Silvio Vietta kann im Rückblick auf die Geschichte der Demokratie viele Argumente für sie ausfindig machen. Erstens: Die Demokratie entsteht mit der Ersten Aufklärung in der Antike als eine Art Entmythisierung der Vorstellung, die Götter oder ein Gott lenke die Geschichte. Der Mensch als Gattungswesen muss daher selbst „erwachsen“ werden, und seine Politik wie Geschichte selbst verantworten. Silvio Vietta stellt fest: „Demokratie bedeutet in diesem Sinne einen Reifungsprozess der ganzen Menschheit.“ Zweitens: Schon Perikles in der antiken Demokratie stellt diese selbst in den Zusammenhang einer Mündigwerdung der demokratischen Polis und auch des einzelnen Bürgers. Dieser muss ja nun die Verantwortung für seine Geschicke selbst in die Hand nehmen und sollte daher kulturell gebildet, gut informiert und persönlich gereift sein. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.
News bedeuten heute vor allem „Skandal“
Viele Menschen sehen sich heute nach Tiefgang. Davon ist Anders Indset überzeugt. Donald Trumps Popularisierung von Fake News führt zu einer Gegenreaktion. Sie verstärkt den Druck auf die Validierung. Anders Indset stellt fest: „Das Phänomen lässt uns mehr Masse mit mehr Klasse gleichsetzen.“ In früheren Zeiten war der Abstand zwischen Ereignis und Bericht größer. Es gab wenige Quellen. Darum hatte man Zeit für eine umfangreiche Recherche. Heute bleibt nicht einmal die Zeit, Die Fehlaussagen und Unwahrheiten aufzuarbeiten. Durch die Demokratisierung und Technologisierung wurde jeder zum Broadcaster, kostenfrei von überall. Das Problem der neuen Technologien ist, dass News heute vor allem „Skandal“ bedeuten. Je größer die Masse, desto lauter, schräger und skurriler muss es sein. Anders Indset, gebürtiger Norweger, ist Philosoph, Publizist und erfolgreicher Unternehmer.
Die Emanzipation verändert auch die Männer
Noch zur Zeit der Aufklärung wurden Knechte wie Mägde, aber auch Frauen ganz allgemein als unmündig angesehen. Immanuel Kant bezeichnete 1793 noch die Unmündigkeit der Frauen als natürlich gegeben und nannte sie in einem Atemzug mit der der Kinder. Ulf Poschardt stellt fest: „Mündige Männer freuen sich gut zweihundert Jahre später über die Emanzipation der Frauen.“ Die „emancipatio“ meinte im Lateinischen die Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Gewalt oder auch die Freilassung eines Sklaven. Mündigkeit kennt kein Geschlecht. Sie ist eine universalistische Idee von Humanität und Fortschritt. Durch den Prozess der Emanzipation werden nicht nur Frauen andere, auch die Männer verändern sich mit ihnen. Die kulturellen Rollenbilder verschieben sich drastisch und schnell. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).
Der Neue Moralische Realismus klärt auf
Markus Gabriel stellt die ethischen Grundbegriffe der neuen Aufklärung vor, die sich aus einigen Kernthesen ergeben. Die Kernthesen des Neuen Moralischen Realismus lauten wie folgt. Erstens gibt es von den Privat- und Gruppenmeinungen unabhängige moralische Tatsachen. Diese bestehen objektiv. Zweitens sind die objektiv bestehenden moralischen Tatsachen durch den Menschen erkennbar, also geistabhängig. Sie richten sich an Menschen und stellen einen Moralkompass dessen dar, was man tun soll, tun darf oder verhindern muss. Sie sind in ihrem Kernbestand offensichtlich und werden in dunklen Zeiten durch Ideologie, Propaganda, Manipulation und psychologische Mechanismen verdeckt. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Menschen können ihr Schicksal selbst bestimmen
Wahrscheinlichkeit ist keine neue Idee. Es gibt schon lange die Vorstellung, dass die Menschen der Zukunft nicht passiv entgegensehen müssen. Sondern sie können ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Dies wurde einstmals als Selbstbehauptung gegen die Götter gesehen sowie gegen die unergründliche Natur. Es ist für Jonathan Aldred kein Zufall, dass moderne Konzepte über Wahrscheinlichkeiten sich in der westlichen Gesellschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts endgültig durchsetzen. Denn dies geschah zu einer Zeit, als der eiserne Griff der Kirche sich durch den Triumph der Aufklärung zu lockern begann. Probabilistisches Denken stand für den zuversichtlichen Glauben, die stoische Unterwerfung unter Ungewissheiten durch Fortschritt hinter sich lassen zu können. Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.
Die Frühe Neuzeit ist das Zeitalter der Überreichweiten
In seinem neuen Buch „Überreichweiten“ setzt sich Martin Mulsow mit neuen Perspektiven einer globalen Ideengeschichte auseinander. Im Fokus bei diesem Unternehmen stehen dabei transnationale und vor allem transkulturelle Verbindungen von Wissensbeständen. Dabei ist für Martin Mulsow Unverbundenheit ein genau so wichtiger Umstand wie Verbundenheit. Der Autor weiß: „Jede transkulturelle Forschung ist notwendigerweise standortgebunden. Das hängt mit der jeweils eigenen intellektuellen Sozialisierung zusammen.“ Und eine globale Ideengeschichte ist nicht anders als in Fallstudien zu betreiben. In seinem Buch interpretiert Martin Mulsow die Frühe Neuzeit als ein Zeitalter der Überreichweiten. Als eine Zeit, in der Quellen aus nah und fern sozusagen dasselbe funkten, ohne dass man mit dieser Verdopplung zurechtkam und sie manchmal nicht einmal bemerkte. Martin Mulsow ist Professor für Wissenschaftskulturen an der Universität Erfurt und Direktor des Forschungszentrums Gotha.
Die absolute Wahrheit gibt es nicht
Absolute Wahrheit mag ein möglicher Gedanke sein, doch er erreicht und berührt die Menschen nicht. Eben weil er in ihrer immer endlichen Perspektive – in ihrem individuellen Leben – keine sie persönlich betreffende Rolle spielt und spielen kann. 1+1=2 lässt sie vollkommen kalt. Peter Trawny ergänzt: „Selbst, wenn ein Leben ohne Rechnen denkbar ist, habe ich keine persönliche Beziehung zu ihm.“ Sind die Menschenrechte eine solche absolute Wahrheit, da sie für jeden Menschen als solchen gelten, so ist doch bis heute offenbar, wie unbedeutend sie sind. Wenn es Menschenrechte gibt, dann müssen diese mit einer Welt zusammenhängen, in der die Menschen wirklich und wahrhaftig leben. Sie müssen also Mitglieder einer Gemeinschaft sein, die für diese Menschen einzutreten in der Lage ist. Peter Trawny gründete 2012 das Matin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat.
In Europa gab es lange keine Demokratie
Es ist für Silvio Vietta eigentlich unfassbar, wie lange nach der römischen Republik und deren Zusammenbruch dann die Demokratie in Europa ruht. Es war eine Art Grabesruhe für Jahrhunderte. Im Mittelalter gab es zaghafte Neuansätze in den sich bildenden Stadtkulturen. Die Schweiz macht sich nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Habsburger Vorherrschaft in der Schlacht von Sempach 1386 frei von deren Vorherrschaft. Das kleine Land in Mitteleuropa beschritt damit einen Weg hin zu einer halb-direkten Demokratie. Silvio Vietta fügt hinzu: „Ansätze zu einer parlamentarischen Demokratie gab es vor allem in England, wo ab dem 13. Jahrhundert der Monarchie ein Parlament gegenübertrat.“ Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.
Die Aufklärung hat seit jeher Feinde
Der mit der Aufklärung verbundene Fortschritt hatte seit jeher Feinde. Dazu gehören heue auch religiöse Konservative. Ihnen missfallen Ideen wie die Evolution und einigen sind die Toleranz und der Liberalismus ein Dorn im Auge. Hinzu kommen Menschen, deren wirtschaftliche Interessen im Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stehen. Joseph Stiglitz nennt als Beispiel die Eigentümer von Bergbauunternehmen und ihre Arbeiter. Da sie in erheblichem Umfang zur globalen Erwärmung und zum Klimawandel beitragen, müssen sie damit rechnen, dass man ihren Betrieb schließt. Um die politische Macht zu erlangen, bedurfte es der Unterstützung der Wirtschaft insgesamt, die als Gegenleistung Deregulierung und Steuersenkungen verlangte. Joseph Stiglitz war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford. Er wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.
Die Aufklärung prägte Europa nachhaltig
Europa mag oft unbelehrbar erscheinen. Es ist aber auch unzerstörbar. Eines der Überlebensprojekte bestand in einem neuen Denkstil. Ein intellektueller Kraftakt. Jürgen Wertheimer ergänzt: „Doch es gab auch ganz andere Wege der Erneuerung – solche ästhetischer Art. Barocke Kirchen und Paläste schossen aus dem Boden, „Rom“ zog alle Register, um verlorenes Terrain gutzumachen.“ In allen katholisch geprägten Ländern entstanden Inszenierungen der Macht und Pracht. Diese hatten nur ein Ziel: die Menschen in ihren Bann zu schlagen, sie zu überwältigen. Die Jesuiten verfolgten diesen Plan bereits seit Mitte des 16. Jahrhunderts. Das geschah zu einer Zeit, in der Papsttum immer stärker in Bedrängnis geraten war und die Reformation dessen Autorität bedrohte. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Amartya Sen kennt die globalen Wurzeln der Demokratie
Die Demokratie wir oft als eine typisch westliche Idee hingestellt, die der nicht-westlichen Welt fremd ist. Die Probleme vor dem der Westen heute im Nahen Osten und überall sonst steht, schätzt man laut Amartya Sen vollkommen falsch ein. Oft wird bezweifelt, dass es den westlichen Ländern gelingen wird, dem Irak oder einem sonstigen Land die Demokratie „aufzuzwingen“. Für Amartya Sen besteht jedoch nicht der geringste Zweifel daran, dass die modernen Begriffe von Demokratie und öffentlichem Diskurs stark von europäischen und amerikanischen Analysen und Erfahrung beeinflusst wurden. Insbesondere von der geistigen Kraft der europäischen Aufklärung. Dazu gehören die Beiträge von Demokratietheoretikern wie Marquis de Condorcet, James Madison, Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.
Die Weisheit ist mit der Freiheit verbunden
Frédéric Lenoir bringt oftmals die Weisheit mit der Freiheit in Verbindung. Inwiefern kann die Weisheit einen Menschen freier machen? Frédéric Lenoir denkt dabei nicht an politische Freiheiten – wie beispielsweise Bewegungsfreiheit, Meinungs- oder Redefreiheit –, sondern an innere Freiheit. Frédéric Lenoir weiß: „Man kann zahlreihe politische Rechte haben und doch Sklave seiner Leidenschaften oder seiner Glaubensmaximen und irrigen Ideen sein.“ Das kann man von zahlreichen Weisen lernen. Insbesondere von Baruch de Spinoza, dessen Hauptwerk „Ethik“ einen echten Weg in Richtung Freiheit weist. Baruch de Spinoza glaubte jedoch nicht an die Freiheit der Entscheidung, das heißt an eine natürliche Fähigkeit, eine Entscheidung ganz ohne inneren Zwang zu treffen. Jedoch glaubte er an die Befreiung von der Sklaverei der Leidenschaften. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.
Der Liberalismus muss sich reflexiv regenerieren
Im Zeitalter der Philosophen, der Aufklärung, geboren, hält der neuzeitliche Liberalismus ein weiteres Element für unverzichtbar. Zum Erfahrungsbezug, zu dem legitimatorischen Individualismus und dem freien Spiel der Kräfte innerhalb von Verfassung und Recht tritt eine handlungsrelevante Selbstkritik, sichtbar im Willen, sich angesichts neuer Herausforderungen zu verändern. Otfried Höffe stellt klar: „Ohne dieses Element, eine reflexive Regeneration ist der Liberalismus nicht zukunftsfähig; vor allem verdient er ohne es nicht, als aufgeklärt zu gelten.“ So hat sich der in Europa dominante Liberalismus längst um politische Mitwirkungsrechte und um freiheits- und demokratiefunktionale Sozialrechte erweitert. Otfried Höffe fordert die Grundelemente des Liberalismus in einer interkulturell verständlichen Sprache zu legitimieren. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.
Hybris ist die Stellung des Menschen zur Natur
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt sich in Deutschland eine radikale Kulturkritik. Warum gerade in Deutschland? Silvio Vietta antwortet: „Weil dieses Land zu dieser Zeit eine Phase der akzelerierten Industrialisierung und Technisierung durchläuft.“ Bereits Friedrich Nietzsche kritisiert diese Form der Modernisierung radikal. Er nennt das darin waltende Verhältnis des Menschen zur Natur, zu Gott wie zum Menschen Hybris, das heißt Anmaßung, Überheblichkeit. Nach Friedrich Nietzsche nimmt sich das ganze moderne Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus. Hybris ist heute die ganze Stellung des Menschen zur Natur. Dazu gehört die Vergewaltigung der Natur mit Hilfe der Maschinen und der Erfindungen der Techniker und Ingenieure. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.
Friedrich Nietzsche sagt ja zum Übermenschen
Friedrich Nietzsche nimmt in „Jenseits von Gut und Böse“ an, dass es gewisse Moralen gäbe. Mit deren Hilfe über deren Urheber an der Menschheit Macht und schöpferische Laune aus. Für Christian Niemeyer ist der Eindruck hier kaum vermeidbar, Friedrich Nietzsche spräche hier von sich und der Motivstruktur. Diese wurde ihm zum Anlass, als Menschenersatz den Übermenschen zu konzipieren. Der österreichische Arzt und Psychoanalytiker Paul Federn betrachtete Friedrich Nietzsches Philosophie als eine Kontrastbildung gegen seine eigene Existenz. In dieser Logik geriet Nietzsches Übermensch sehr schnell zum „Wunschtraum einer kranken Seele“. Friedrich Nietzsche selbst etikettiert sich selbst als „Dynamit“. Respektive auch als eines Denkers, „der die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet“. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.
Die Aufklärung suchte nach Gewissheiten
Die europäische Aufklärung ist ganz durchtränkt vom Geiste der Kritik. Vor allem die aufklärerische Bibelkritik hat das kritische Denken damals sogar in die Religion getragen. Denn sie arbeitete die historischen und subjektiven Bedingungen der Entstehung von Bibeltexten heraus. Dadurch wurde der Anspruch einer direkten Gottesbotschaft durch diese Forschungen zur Historizität der Bibel stark relativiert. Silvio Vietta erläutert: „Die Aufklärung verfolgte dann auf der Grundlage der Erkenntnisse neuzeitlicher Naturwissenschaften über den Kosmos und auch Menschen das Ziel, endlich klar zwischen falschen und richtigen Urteilen über die Welt zu unterscheidenden. Sie suchte in Bezug auf die Wahrheit nach „Gewissheit“. Der Vorreiter dieser Denkbewegung war René Descartes. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.