Der Romantiker ist tragisch isoliert

Was Narziss nie wissen wird, weil seine ganze Konzentration der betörenden Oberfläche gewidmet ist. Hinter seinem Spiegelbild liegt eine Welt, in der Bilder verfließen, in der eigene und fremdartige Gesetze herrschen. Das romantische Individuum ist tragisch isoliert und von einer ewigen Sehnsucht getrieben. Narzisstische Fantasien zerplatzen wie Seifenblasen an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien, die alle in dieselbe Richtung weisen. Nämlich dass es weder die Welt, so wie sie von Menschen wahrgenommen wird, noch die wahrnehmenden Individuen als solche überhaupt gibt. Philipp Blom fügt hinzu: „Das Bewusstsein ist seine eigene, ständig murmelnde Geschichte, die Membran aus Leben und Sinn, die kritische Zone der menschlichen Existenz, eine notwendige Fiktion.“ Ein wahrnehmendes Ich und eine wahrgenommene Welt flimmern auf. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.

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Die Moral fügt Schmerzen zu

In seinem neuen Buch „Moral als Bosheit“ beschreibt Alexander Sobek seine Auffassung über das Verhältnis von Recht und Moral. Dazu verwendet er als Instrument eine rechtsphilosophische Analyse. Dabei beschäftigt es sich auch mit der Figur des alten weißen Mannes. Denn für manche, und das sind nicht wenige, ist er das Wahrzeichen aller Übel. Und er eignet sich wunderbar dazu, gehasst zu werden. Obwohl er stereotypisch festgelegt ist, bleibt dieser Ungeliebte dennoch eine Rätselgestalt. Könnte es sich bei ihm nicht sogar um einen Wiedergänger von Vernunft und Aufklärung handeln? Immerhin tritt er so auf. Der Autor weiß, dass er für diesen inopportunen Gedanken mit allerlei Angriffen rechnen muss. Er nimmt sich jedoch vor, sie demütig zu ertragen. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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Der Mensch ist nicht mehr „Herr im eigenen Haus“

Sigmund Freud beschrieb 1917 die Kränkungen der Menschheit, nicht mehr im Mittelpunkt der Welt zu stehen und sogar Teil des Tierreichs zu sein. Und noch dazu, so schloss er aus einer eigenen Arbeit, nicht „Herr im eigenen Haus“ zu sein. Humanistische Gymnasien und aufgeklärte Philosophen konnten den Menschen als aufgeklärte Vernunftwesen feiern, solange sie wollten. Philipp Blom stellt dagegen fest: „Der Arzt und Denker Sigmund Freud glaubte zu verstehen, dass diese Ansicht auf einer frommen Illusion fußte.“ Was Individuen als sinnvolle, freie Entscheidungen oder sinnlose Zwangshandlungen wahrnahmen, war nur die trügerische Oberfläche eines Gewässers. Dessen Tiefenströmungen und tief verankerten, frustrierten und verdrängten Triebe und Erinnerungen gaben die eigentliche Lebensrichtung vor. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.

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Zorn entsteht oft durch eine Statusverletzung

In der von der Psychologin Carol Travis vorgelegten umfangreichen empirischen Untersuchung des Zorns finden sich überall Belege für „Kränkungen“, „Geringschätzigkeit“, „herablassendes Verhalten“ und eine „Behandlung, als hätte man keine Bedeutung“. Die Menschen sind heutzutage wie auch in früheren Zeiten ungemein besorgt um ihr Ansehen. Und sie haben eine endlose Bereitschaft, sich von Handlungen, die sie dem Anschein nach darin bedrohen, in Zorn versetzen zu lassen. Diese Art der empfundenen Herabsetzung bezeichnet Martha Nussbaum als „Statusverletzung“. Allein die Idee der Statusverletzung schließt bereits die Vorstellung einer Unrechtmäßigkeit ein. Denn Statusminderung ist gemeinhin beabsichtigt, wie schon der griechische Philosoph Aristoteles wusste. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Im Stoizismus ist eine Person in ihrem Denken autark

Das Thema Kränkung im engeren Sinne spielt in der Philosophie keine große Rolle. Wohl aber hatte diese zu den assoziierten Themen wie Enttäuschung, Verletzung und Demütigung einiges zu sagen. Reinhard Haller nennt ein Beispiel: „Der Stoizismus vertritt die Ansicht, dass die Gesellschaft gar nicht demütigen kann, weil eine Person in ihrem Denken autark ist.“ Im Stoizismus werden rational begründete Gefühle wie Kränkungen gar nicht zugelassen. Denn sie könnten ja das autonome Denken überwältigen. Da jede Person in ihrem Denken eigenständig ist, kann sie von anderen gar nicht gekränkt werden. Die stoische Apathie bedeutet aber kein Fehlen von Gefühlen, wie dies bei gemütslosen Psychopathen der Fall wäre. Selbst einem Sklaven sei es möglich, seine Gefühle vor dem Herrn zu verbergen und sie ganz allein zu besitzen. Der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller arbeitet vornehmlich als Therapeut, Sachverständiger und Vortragender.

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Werte verleihen einem Menschen Sicherheit

Zu den sensibelsten Bereichen eines Menschen gehören seine Werte, besonders der Selbstwert. Werte sind die als erstrebenswert oder moralisch gut betrachteten Eigenschaften von Menschen, Verhaltensweisen, Handlungsmuster und Charaktereigenschaften, aber auch von Ideen, Sachverhalten und Gegenständen. Reinhard Haller fügt hinzu: „Aus solchen Wertvorstellungen bilden wir unsere Wertesysteme und darauf aufbauend können wir Wertentscheidungen treffen.“ Werte sind ein wichtiges Element einer jeglichen Gesellschaft und Kultur. Sie werden durch ebendiese Kultur und Gesellschaft weitergegeben. Werte geben metaphysisch-religiöse Orientierung, prägen die soziale Ausrichtung und sind zentraler Bestandteil des humanistischen Denkens. Die Wertphilosophie, die ihre Höhepunkte in der Güterethik des Aristoteles und in der „Idee des Guten“ von Platon hatte, wurde später von der Moraltheologie aufgegriffen. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

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Der Populismus macht sich zum Anwalt der Beleidigten

Der Populismus bezieht sich unter anderem auf die negativen Gefühle, die beim Brüchigwerden von Einbindungen freigesetzt werden. Er bezieht sich auf Kränkungserfahrungen. Isolde Charim erläutert: „Diese sind wesentlich an die Veränderungen gebunden, die mit der Pluralisierung der Gesellschaft einhergehen.“ Früher war der Anhänger des Populismus Teil der Gruppe, die fürs Ganze stand, er war Teil jener, die vorgaben, was Normalität ist. Und nun, zurückgeworfen auf seine Einzelheit, auf sein prekarisiertes Weniger-Ich, fühlt er sich nicht gehört, vergessen, unverstanden, ausgeschlossen, entmächtigt. Die Reaktion darauf ist das grundlegende Begehren nach Anerkennung. Es geht dabei nicht darum, ob der Populismus dieses Begehren erfüllt. Es geht auch nicht darum, ob diese Kränkung berechtigt ist. Es geht darum, dass der rechte Populismus genau hier einhakt – und sich zum Advokaten der Beleidigten macht. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Reinhard Haller kennt das Wesen der Kränkung

Ob sie es wollen oder nicht, die meisten Menschen schleppen ein ganzes Paket von dem, was man wohl als Kränkung bezeichnet, mit sich herum und werden es gar nicht so leicht wieder los. Reinhard Haller weiß: „Obwohl Bedeutung und Stellenwert von Kränkungen in unserem Leben und ihr destruktives Potential unübersehbar sind, reagieren wir bei diesem Thema wie bei den meisten psychischen Problemen zurückhaltend und verdrängend.“ Fragen nach seelischen Verletzungen erleben viele Menschen als wenig feinfühlig, eher als taktlos, manchmal als nahezu übergriffig. Es ist ihnen peinlich, über ihre Gefühle zu sprechen. Schon gar nicht wollen sie eine Schwäche – als solche empfinden sie Kränkungen – zugeben. So etwas behält man lieber für sich. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

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Reinhard Haller erkennt in der Kränkung eine Interaktion

Eine Kränkung wird keinesfalls nur über deren Art und Inhalt bestimmt, sondern hängt ebenso ab von der Person des Kränkenden und der Sensibilität des potenziell Gekränkten. Reinhard Haller erläutert: „Kränkungen sind mehr als eine gerichtete Aggression auf der einen und mehr als eine erlittene Verletzung auf der anderen Seite. Nie kann man sie eindimensional verstehen.“ Kränkungen sind nicht nur schmerzliche Emotionen oder negative Affekte, sondern Störungen des Gefühlserlebens und des Gefühlsausdrucks zugleich, ja noch mehr als beides zusammen. Kränkungen bilden intra- und interindividuelle Vorgänge, allgegenwärtige soziale Mechanismen, sie stellen zwischenmenschliche Interaktion dar. In jeder Kränkung findet ein Prozess statt zwischen jemandem, der kränkt, und jemand anderem, der gekränkt wird. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

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Jeder empfindet etwas anderes als Kränkung

Psychische Ausdrücke wie Glück, Trauer oder Angst werden mehr gefühlt als mit dem Verstand umrissen und lassen sich viel leichter emotional „begreifen“, als mit Worten beschreiben. So ist es auch beim Begriff der „Kränkung“. Reinhard Haller erläutert: „Obwohl jeder recht genau weiß – oder besser gesagt, genau spürt –, worauf sich der Ausdruck bezieht, ist es gar nicht so leicht, ihr konkret zu fassen und näher zu definieren.“ Dies hängt wohl damit zusammen, dass der Terminus sehr weit gespannt und auch ziemlich ungenau ist. Zudem kann man Kränkungen weder objektivieren noch quantifizieren. Kränkungen sind nicht nur schwer zu beschreiben, sondern sie sind vor allem nicht messbar. Sie lassen sich nicht gewichten, nicht einteilen, nicht durch psychologische Instrumente qualifizieren und kategorisieren. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

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Das Recht beschreibt Forderungen und Zumutungen

Unter „Recht“ versteht Thomas Fischer ein besonderes System von Regelungsmechanismen. Das Recht beschreibt nicht Gegebenheiten oder Kausalabläufe, sondern Forderungen und Zumutungen. Das Strafrecht als spezieller Regelungsbereich ist durch Voraussetzungen und Bedingungen geprägt, die nicht allein den Zusammenhang des Rechtssystems insgesamt berühren, sondern weitere Fragen nach den Grundlagen des Rechts als soziales Steuerungssystem aufwerfen. Thomas Fischer erläutert: „Es ist in den modernen Gesellschaften heute klar und gedanklich vorausgesetzt, dass Strafrecht in der Gesellschaft „gemacht“ wird und ihn nicht von außen vorgegeben ist. Ausnahmen in kleineren fundamentalistischen Gemeinschaften spielen praktisch keine Rolle.“ Damit wirft Thomas Fischer die Frage auf, auf welche Weise und aus welchen Quellen das Strafen und das Strafrecht entstehen. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Die frühe Sozialisation prägt den Optimismus oder den Pessimismus

„Liebe allein genügt nicht“, hat der berühmte Psychoanalytiker Bruno Bettelheim über die Sozialisation des Menschen geschrieben, aber ohne Liebe besteht kaum Hoffnung für den Optimismus. Jens Weidner erläutert: „Fehlende Zeit lässt sich nicht durch Geld und teure Geschenke kompensieren, so materiell sind junge Menschen nicht, sie verzweifeln eher an der fehlenden Zuneigung und Wärme, sie verzweifeln auch an manchen prägenden Karrierekillerphrasen bedenkenloser Eltern, die zur Grundlage ihrer pessimistischen Lebenseinstellung werden.“ Der schlimmste Satz, den Jens Weidner in einem Beratungsgespräch gehört hat, lautet: „Wir hätten dich abtreiben sollen. In diesem Moment hätte er die Eltern schlagen können. Denn Kinder, die sich so etwas in jungen Jahren anhören müssen, vergessen das nie, und sie werden im Leben alles dafür tun, dass sich solche Kränkungen nicht wiederholen. Jens Weidner ist Professor für Erziehungswissenschaften und Kriminologie.

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Perfektionisten sind stark von einem Burn-out bedroht

Immer häufiger wird die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen als Ursache für einen Burn-out gesehen. Klaus Biedermann erläutert: „Man hat festgestellt, dass es vor allem diejenigen trifft, die hohe Ansprüche an sich selbst haben: Menschen, die alle Aufgaben perfekt erledigen wollen und gleichzeitig nicht selten ein schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl haben.“ Sie trauen sich selbst eher wenig zu und können mit Kränkungen, Enttäuschungen oder Frust nicht gut umgehen. Ihnen fehlen geeignete Bewältigungsstrategien. Gleichzeitig möchten sie von allen geliebt und akzeptiert werden. Sie haben ein großes Bedürfnis nach Harmonie und schaffen es nur selten, Nein zu sagen. Darüber hinaus tun sich meist schwer damit, Kompromisse einzugehen oder Aufgaben abzugeben. Dr. phil. Klaus Biedermann leitet seit mehr als 30 Jahren Selbsterfahrungskurse und Burn-In-Seminare in seiner Sommerakademie auf der Insel Korfu.

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Hans-Peter Nolting erklärt den Unterschied zwischen Abwehr und Vergeltung

Von Schulkindern bis zur großen Politik werden Akte der Vergeltung immer wieder damit begründet, man wehre sich nur gegen das üble Verhalten der anderen Seite. Zwischen den Begriffen Vergeltung und Abwehr gibt es Überschneidungen, aber ebenso wichtige Unterschiede. Hans-Peter Nolting erklärt: „Die echte Abwehr beziehungsweise Verteidigung will eine Bedrohung oder Belästigung beenden.“ Ganz anders verhält es sich aber zum Beispiel bei einer nachträglichen Tracht Prügel. Sie ist ein Racheakt, und Rache ist ein Akt der Bestrafung. Die reine Vergeltung will weder einen Vorteil erlangen noch einen Nachteil abwenden, sondern sie möchte den Übeltäter leiden sehen. Denn dies verschafft die eigentliche Befriedigung – die Genugtuung. Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Dozent für Psychologie an der Universität Göttingen.

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Eyal Winter unterscheidet zwischen autonomen und sozialen Emotionen

Emotionen bilden einen Mechanismus, der Menschen dazu befähigt, Entscheidungen zu treffen. Sie wurden im Lauf der Evolution geformt und entwickelt, um die Überlebenschancen des Menschen zu verbessern. Eyal Winter fügt hinzu: „Die Menschheit verfügt neben den Emotionen über einen weiteren wichtigen Mechanismus, der uns bei der Entscheidungsfindung hilft, nämlich die Fähigkeit zur rationalen Analyse.“ Im Gegensatz zu Gefühlen wie Angst, Betrübtheit und Bedauern, die als autonome Emotionen bezeichnet werden können, sind Gefühle wie Wut, Neid, Hass und Mitgefühl soziale Emotionen. Sie sind per Definition interaktiv. Wut oder Mitleid empfindet ein Mensch gegenüber anderen; Bedauern dagegen empfindet er über eigene Handlungen. Die Unterscheidung zwischen autonomen und sozialen Emotionen ist besonders wichtig, um den Begriff der „klugen Gefühle“ zu verstehen. Eyal Winter ist Professor für Ökonomie und Leiter des Zentrums für Rationalität an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

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Martha Nussbaum plädiert für eine Kultur der Gelassenheit

Martha Nussbaum kritisiert in ihrem neuen Buch „Zorn und Vergebung“ die Vergebung aus folgendem Grund: In zwischenmenschlichen Beziehung wird die Vergebung oftmals zu einem Mittel der Disziplinierung und Schuldzuweisung. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass Vergebung nicht die richtige Antwort auf eine Kränkung ist. Ähnlich den griechischen Stoikern plädiert sie für eine Kultur der Gelassenheit. Martha Nussbaum fordert, dass der Mensch sich bewusst wird, wie belanglos die meisten Kränkungen sind, und so den Zorn erst gar nicht entstehen lässt. Eine große Gefahr sieht sie in dem zügellosen, unbändigen Zorn: „Von einem solchen Zorn ist man besessen, er ist zerstörerisch und nur dazu da, Leid und Verderben zu bringen.“ Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Philipp Hübl begibt sich auf die Spur des unbewussten Denkens

Der niederländische Psychologe Ap Dijksterhuis hat in einem vieldiskutierten Experiment die Vernunft des Abwägens in Frage gestellt. Seine provokante These lautet: Bei komplexen Entscheidungen wie einem Autokauf hilft bewusstes Nachdenken nicht weiter. Besser sei, sich keinen Kopf zu machen, eine Nacht darüber zu schlafen und dann spontan zu entscheiden. Ap Dijksterhuis erklärt dies damit, dass dem unbewussten Denken mehr Kapazitäten zur Verfügung stünden und es daher dem bewussten Abwägen überlegen sei. Seinen Ansatz nennt er „Theorie des unbewussten Denkens.“ Philipp Hübl hält diese Theorie für fragwürdig. Denn es gibt etwa ein Dutzend Experimente anderen Forschern, die den Annahmen des Niederländers widersprechen. Denn in der Regel entscheidet derjenige am besten, der bewussten Zugriff auf alle verfügbaren Informationen hat. Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart.

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Die Meinungs- und Redefreiheit sind der „Lebenssaft“ der Demokratie

Auf der einen Seite gibt es für Timothy Garton Ash tatsächliche eine Explosion der Hassrede im weitesten Sinn; das meiste davon kann seiner Meinung nach getrost ignorieren. Auf der anderen Seite besteht die pathologische Bereitschaft, sich sofort verletzt zu fühlen, schon bei der allerkleinsten Kränkung. Timothy Garton Ash stellt fest: „Das ist eine Infantilisierung des öffentlichen Diskurses, die ich leider bei meinen Studenten in Oxford und Stanford beobachten kann. Die Universitäten sollten Tempel der Redefreiheit sein, in denen alles, auch die anstößigste Meinung, auf zivilisierte Weise diskutiert werden kann.“ Selbst anstößige Geschichten sind kein Grund, jemanden von der öffentlichen Debatte auszuschließen. Es gibt verschiedene Hypothesen, die sich allerdings teilweise widersprechen, woher die Überempfindlichkeit vieler Menschen in liberalen Gesellschaften kommt. Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

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Heidi Kastner hält Paartherapien für pompöse Begräbnisse

In ihrem neuesten Buch „Tatort Trennung. Ein Psychogramm“ beschäftigt sich Heidi Kastner mit der Liebe, zu hohen Erwartungen und dem Mord an ehemals geliebten Menschen. Ihrer Meinung nach kann man sich auf eine Trennung nicht wirklich vorbereiten, da die meisten asymmetrisch verlaufen: „Meistens ist es einer, der sich innerlich zu trennen beginnt und das nicht kommuniziert. Der Überrumpelte reagiert dann natürlich mit Entsetzen, Überraschung, Kränkung.“ In dieser akuten Phase ist alles eine Überforderung. Aber wenn das vorbei ist, sollte man laut Heidi Kastner nicht hergehen und dieses ganze Kapitel der eigenen Biografie als fatalen Irrtum abschreiben. Man sollte sich vergegenwärtigen, was es in der Beziehung an Gutem gegeben hat. Heidi Kastner ist seit 2005 Chefärztin der forensischen Abteilung des Landesnervenklinik Linz.

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David Brooks stellt verschiedene Formen des Stolzes vor

Was ist Hochmut beziehungsweise Stolz? Heutzutage ist das Wort „Stolz“ positiv besetzt. David Brooks erläutert: „Es bedeutet mehr oder minder, ein gesundes Selbstwertgefühl zu besitzen.“ Wenn man es negativ verwendet, denkt man in erster Linie an eine überhebliche Person, jemanden, der aufgeblasen und egoistisch ist, angibt und herumstolziert. Aber das ist nicht der Kern des Stolzes. Es ist lediglich eine Manifestation der Krankheit Stolz. In einer anderen Definition besteht Stolz in der Zufriedenheit, die man aus dem zieht, was man aus eigener Kraft erreicht hat, wobei die geleistete Arbeit das Maß des Selbstwerts ist. Es ist die Überzeugung, dass man von sich aus, durch eigene Anstrengung die Erfüllung erreichen kann. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.

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Überempfindlichkeit führt zu zerstörerischen Effekten

Menschen mit einer Überempfindlichkeit gegen potentielle Kränkung und Zurückweisung (RS) haben große Angst vor Ablehnung in engen Beziehungen. Sie rechnen damit, verlassen zu werden, und sie provozieren oftmals durch ihr eigenes Verhalten die Zurückweisung, vor der sie sich fürchten. Walter Mischel erklärt: „Die zerstörerischen Effekte dieser großen Empfindlichkeit können wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirken, wenn sie unkontrolliert bleiben.“ Die Gedanken hochempfindlicher Menschen drehen sich oft zwanghaft um die Frage, ob sie wirklich gemocht oder geliebt werden, und ihre Grübeleien lösen in dem Maße, wie sich ihre Verlassensängste verstärken, eine weitere Kaskade heißer Wut- und Grollgefühle aus. Auf ihren eigenen Stress und die verärgerten und unangemessenen Reaktionen ihrer Partner reagieren sie ihrerseits mit noch größerem Kontrollzwang – ganz offen oder mit passiver Aggression. Walter Mischel gehört zu den wichtigsten und einflussreichsten Psychologen der Gegenwart.

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Die Hälfte der Leute sind mit ihren Freundschaften unzufrieden

Trotz vieler guter Freundschaften such der Psychotherapeut Wolfgang Krüger dennoch ständig nach neuen Freundschaften: „Weil ich sehe, dass der Freundeskreis kleiner wird, je älter man wird. Manche Freunde sind schon gestorben, andere weggezogen, einige fangen im Alter an, Menschen zu meiden. Und es gibt Freundschaften, aus denen die Luft raus ist. Man muss also immer wieder neue Freunde finden.“ Schon ab 30 schrumpft der Freundeskreis. Solange man im Kindergarten, Schule, Ausbildung, Studium ist, befindet man sich in festen Gruppen. Man begegnet dort immer den gleichen Menschen. Da haben auch Schüchterne Freundschaften. Schwierig wird es dagegen nach der Ausbildung, denn dann muss man selbst die Initiative ergreifen, um Freunde zu finden. Dr. Wolfgang Krüger, Psychotherapeut in Berlin, forscht über Freundschaften und bietet auch Freundschaftsberatung an.

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Kränkungen sind die Wurzel der meisten Übel in der Welt

Gerichtspsychiater Reinhard Haller glaubt, dass fast jedem menschlichem Problem eine Kränkung zugrunde liegt. Reinhard Haller, der zugleich Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik ist, wird seit Jahren mit der Begutachtung großer Kriminalfälle beauftragt. Bei den Tätern sieht er die auffällige Gemeinsamkeit der Gekränktheit. Kränkungen bedeuten Angriffe auf Selbstachtung, Ehrgefühl und Werte. Sie treffen einen Menschen im Innersten. Und doch haben sie auch eine positiven Einfluss auf die Menschheit – auf ihre Kulturgeschichte und ihr Zusammenleben. Reinhard Haller sieht in der Kränkung die Wurzel der meisten Übel in der Welt. Gleichzeitig redet komischerweise fast niemand über diese Empfindung. Reinhard Haller nennt einen Grund dafür: „Kränkungen sind was für Warmduscher und Weicheier, sagt man sich. Kränkungen sind peinlich. Darum bleiben sie meistens im Verborgenen.“

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Die Würde hat in den meisten Fällen sehr viel mit Mut zu tun

Es gibt Situationen im Leben, in denen Menschen eine Würde ausstrahlen, die sie ihrer Aufrichtigkeit und dem Mut verdanken, zu sich selbst zu stehen, auch vor anderen. Erfahrungen der Würde durch Aufrichtigkeit macht man nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Privatbereich. Peter Bieri nennt Beispiele: „Nach langer Zeit und heftigem Widerstand bringen wir den Mut auf, uns schwierige Dinge einzugestehen: die Erleichterung bei einem Tod oder einer Trennung; das Bedürfnis nach Vergeltung bei einer Kränkung; die Kränkung selbst; eine Wut eine Eifersucht.“ Und auch noch etwas anderes gibt es: sich einzugestehen, dass man ein Gefühl nicht besitzt, beispielsweise Zuneigung oder Mitleid. Peter Bieri, geboren 1944 in Bern, studierte Philosophie und Klassische Philologie und lehrte als Professor für Philosophie in Bielefeld, Marburg und an der Freien Universität Berlin.

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Die Philosophen können die Menschen nicht glücklich machen

Eine große Kränkung für die Eitelkeit des Menschen bedeutet es, dass die Hervorbringungen seiner größten Kunstfertigkeit und seines größten Fleißes den geringsten Werken der Natur nicht ebenbürtig sind, nicht an Schönheit und auch nicht an Wert. Selbst bei jenen Stücken, die man Kunstwerke nennt, findet David Hume, dass an den besten ihrer Art die besondere Schönheit der Kraft und dem glücklichen Einfluss der Natur geschuldet ist. David Hume fügt hinzu: „Dem naturgegebenen Enthusiasmus der Dichter verdanken wir, was ihre Werke bewunderungswürdig macht. Das größte Genie, wenn die Natur es einmal im Stich lässt, wirft seine Leier auf die Seite und gibt sich nicht der Hoffnung hin, nach Regeln der Kunst solch göttliche Harmonie zu erreichen, die allein aus natürlicher Eingebung hervorgehen kann.“ David Hume, der von 1711 bis 1776 lebte, gehört zu den Klassikern der europäischen Philosophie.

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