Jeder empfindet etwas anderes als Kränkung

Psychische Ausdrücke wie Glück, Trauer oder Angst werden mehr gefühlt als mit dem Verstand umrissen und lassen sich viel leichter emotional „begreifen“, als mit Worten beschreiben. So ist es auch beim Begriff der „Kränkung“. Reinhard Haller erläutert: „Obwohl jeder recht genau weiß – oder besser gesagt, genau spürt –, worauf sich der Ausdruck bezieht, ist es gar nicht so leicht, ihr konkret zu fassen und näher zu definieren.“ Dies hängt wohl damit zusammen, dass der Terminus sehr weit gespannt und auch ziemlich ungenau ist. Zudem kann man Kränkungen weder objektivieren noch quantifizieren. Kränkungen sind nicht nur schwer zu beschreiben, sondern sie sind vor allem nicht messbar. Sie lassen sich nicht gewichten, nicht einteilen, nicht durch psychologische Instrumente qualifizieren und kategorisieren. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

Kränkungen geschehen oft unabsichtlich und unbewusst

Reinhard Haller weiß: „Da die menschlichen Individuen bezüglich Geringschätzung, Missachtung, Entwertung und Verletzungen unterschiedlich anfällig und resistent sind, empfindet jeder etwas anderes in unterschiedlichem Ausmaß als kränkend.“ Manche erweisen sich als dickhäutig, andere als übersensibel, viele als verletzlich, manche als resilient. Der eine verfügt über hervorragende Mechanismen der Bewältigung, der andere ist Kränkungen hilflos ausgeliefert.

Zudem geschehen Kränkungen oft unabsichtlich und unbewusst. Sie können offen und verdeckt, vordergründig oder unterschwellig, direkt oder indirekt ablaufen. Ein Teil spielt sich auf verbalen oder der Handlungsebene, ein noch größerer ausschließlich im emotionalen Bereich ab. Dazu kommt, dass in der deutschen Sprache der Ausdruck Kränkung sowohl für die aktive als auch für die passive Form, für das Kränken anderer und das eigene Gekränktsein identisch ist. Der Begriff der Kränkung entfaltet seine Wirkung in beide Richtungen, als Fremdaggression und eigene Verwundung.

Die Reaktion auf eine Kränkung folgt keinen logischen Gesetzen

Kränkungen sind Pfeile, die als Waffe des Angriffs eingesetzt werden oder die eigene Person treffen, ja hin- und herfliegen können. Kränkungen sind nach dem Sprachverständnis der Psychologie also niemals eindimensional, sondern stets multifunktional wirkende Phänomene. Daneben existiert das Problem, dass jeder etwas anderes als Kränkung empfindet. Für den einen bedeutet ein barsches Wort, der harte Ton in der Stimme oder schlichtweg das Versagen einer Antwort und der nicht erwiderte Gruß eine Kränkung.

Der nächste setzt sich über ironisches Lachen, sarkastische Bemerkungen oder Schimpfworte einfach hinweg. Am Dritten prallen Besserwisserei, Tadel oder Zurückweisung folgenlos ab und erweisen sich gegen Kritik, Zurechtweisung und Schimpferei als resistent. Kränkungen werden also selektiv wahrgenommen, sehr individuell interpretiert und höchst unterschiedlich verarbeitet. Die Reaktion auf eine Kränkung folgt keinen logischen, oft auch keinen humanen Gesetzen. Fragt man die Betroffenen, was sie weshalb gekränkt hat, kommen zum Teil völlig gegensätzliche, keiner Systematik folgende Antworten von bunter Vielfalt. Quelle: „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller

Von Hans Klumbies