Der Kapitalismus führte zu einer Heiligsprechung des Konsums

Das Erstaunliche an der derzeitigen Lage ist: Selbst in einer ungewöhnlich langen wirtschaftlichen Wachstumsphase, wie sie Deutschland gerade erlebt und von der viele profitieren, ist der Unmut so groß, dass ihn etwas die neue Große Koalition mit milliardenschweren Wohltaten zuschütten muss. Und noch so viele Subventionen sorgen nicht dafür, dass die Kritik am Kapitalismus abebbt. Der Ausgleich zwischen Reich und Arm scheint nicht mehr zu funktionieren, jedenfalls nicht gut genug, um Aufruhr im System zu vermeiden. Dabei steht der Kapitalismus nicht bloß technisch-ökonomisch infrage, sondern vor allem philosophisch. Denn der Kapitalismus ist eben auch eine Frage der Werte. Intrinsische Motive und solidarische Effekte verpuffen allzu oft, sobald Geld ins Spiel kommt. Dieses Wirtschaftssystem ist voll von widersprüchlichen Effekten. Einer der stärksten ist die Grundüberzeugung, dass das Streben des Einzelnen nach dem eigenen Vorteil am Ende zu einem besseren Leben für alle führt.

Die Leistungsgesellschaft wird nur eine Episode in der Geschichte der Menschheit bleiben

Am besten funktioniert der Kapitalismus, wenn bei der Arbeit äußerste Disziplin herrscht – und im Konsum äußerste Disziplinlosigkeit. Das war ja auch das Neue am Kapitalismus. Er führte zu einer Adelung der Arbeit, die es zuvor in der Geschichte nicht gegeben hatte, und zu einer Heiligsprechung des Konsums, die auch neu war. Der Philosoph Richard David Precht, einer der produktivsten Denker des Landes, ist sich sicher, dass ebendiese Arbeits- und Leistungsgesellschaft, wie sie sich in den letzten 200 Jahren entwickelt hat, irgendwann an ihr Ende kommt und nur eine Episode in der Geschichte der Menschheit bleiben wird.

Richard David Precht findet das alles andere als schlimm und blickt zurück: „Ein freier Mann im antiken Griechenland hat sich dadurch definiert, dass er nicht gearbeitet hat, und er hat sich trotzdem nicht gelangweilt.“ Für den Wohlstand sorgten damals die Sklaven, Frauen und Ausländer. Diesen Part, meint Richard David Precht, würden in Zukunft mehr und mehr die Roboter und Computer übernehmen. Außerdem zertrümmert er gern die Gewissheiten des Status quo, etwa die Selbstgewissheit der Deutschen, das ihr Fleiß sie noch aus jeder Krise gezogen hat.

Richard David Precht hält Vollbeschäftigung für eine Illusion

Richard David Precht erläutert: „Ich sehe das als normale, fast lineare historische Entwicklung. Zu Beginn der industriellen Revolution haben die Arbeiter oft noch 80 Stunden in der Woche geschuftet, heute liegt die Arbeitszeit einer Vollzeitkraft bei 41 Stunden.“ Der nächste Schritt werde eben sein, dass „sehr viele Leute nicht mehr gezwungen sein werden, arbeiten zu müssen“. Natürlich weiß David Richard Precht, dass nichts brisanter ist, als am politischen Ziel der Vollbeschäftigung zu rütteln.

Schließlich werden Digitalisierung und Robotisierung der Arbeitswelt und die damit einhergehende Vernichtung von mutmaßlich Millionen Arbeitsplätzen in der Politik derzeit eher nicht als Chance diskutiert, sondern als Katastrophe. Darum halten alle Parteien am Ziel der Vollbeschäftigung fest. Für Richard David Precht ist die Vollbeschäftigung ein Mythos beziehungsweise eine Illusion. Der Philosoph sieht die Entwicklung eher nüchtern: „Wenn man alles so laufen lässt wie jetzt, dann führt der Vormarsch der Roboter zu Massenarbeitslosigkeit und Elend.“ Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies

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