Die Kunst der Darstellung ist eine Ausdrucksform, die seit jeher alles Bereiche des menschlichen Lebens prägt. Richard Sennett spannt in seinem neuen Buch „Der darstellende Mensch“ einen weiten Bogen von der Antike bis zur Gegenwart, wodurch das Bild einer doppelbödigen Kunstform entsteht, die unsere Zivilisation formt, aber auch zerstören kann. Tatsächlich ist Darstellung einer der Künste, allerdings eine unreine Kunst. Richard Sennett schreibt: „Wir sollten die Kunst in ihrer ganzen Unreinheit verstehen wollen. Doch genauso sollten wir auch Kunst schaffen wollen, die moralisch gut ist, und zwar ohne jede Unterdrückung.“ In seiner ganzen schriftstellerischen Arbeit hat Richard Sennett nach dem gesucht, was die Menschen über Räume und Zeiten hinweg miteinander verbindet. Die Unterschiede, die es gibt, können Möglichkeiten des Lebens oder Ausdrucks offenlegen, die untergegangen oder durch Macht erstickt worden sind. Die Vergangenheit ist Kritik an der Gegenwart. Richard Sennett lehrt Soziologie und Geschichte an der London School of Economic und an der New York University.
Politik
Andrea Römmele fordert mehr Zukunftsmut
In einer Demokratie können die Bürger die Zukunft mitgestalten. Denn in der Regel kündigen sich große politische, ökonomische oder gesellschaftliche Veränderungen an. Sie vollziehen sich prozesshaft und langsam. Viele akute Krisen und disruptive Ereignisse sind nur die sichtbare Folge eines schon lang andauernden Trends, den die Wissenschaft schon früh vorgezeichnet hat. Diese Trends gilt es zu verstehen, zu durchdenken und mögliche Konsequenzen daraus abzuleiten. Das ist der Ausgangspunkt des neuen Buchs „Demokratie neu denken“ von Andrea Römmele. Deutschland, Europa und die Welt stehen an der Schwelle zu einer neuen Ära. Das Zeitalter westlicher Vorherrschaft geht zu Ende. Rechtspopulistische Parteien fordern die Demokratien heraus. Andrea Römmele ist Professorin für Politische Kommunikation und Vizepräsidentin an. der Hertie School in Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Demokratie, Wahlen und politische Parteien.
Das Stereotyp „Alle Politiker lügen“ ist weit verbreitet
Hannah Arendt betonte, dass „Lügen zum Handwerk nicht nur der Demagogen, sondern auch des Politikers oder sogar des Staatsmannes“ gehöre. Das ist ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand. Peter Trawny stellt fest: „Keine Frage, dass die Philosophin an ein weitverbreitetes Urteil oder Vorurteil erinnert.“ Gerade in Deutschland scheint das Stereotyp „Alle Politiker lügen“ weit verbreitet zu sein. So verbreitet sogar, dass der wahrscheinlich mächtigste Politiker, der Deutschland jemals regierte, ja über es herrschte, beim Volk so erfolgreich war, weil er alles andere als Politiker sein wollte. Das Thema ist alt. Es ist Sokrates, der in Platons großem Dialog über die beste Verfassung für die Stadt von einer edlen oder vornehmen Täuschung spricht, mit der man die Befehlenden oder sogar die ganze Stadt zu ihrem Vorteil überreden könne. Peter Trawny gründete 2012 das Matin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat.
Erfolgreiche Politik funktioniert nur ohne Egoismus
In seinem neuen Buch „Warum Politik so oft versagt“ erklärt Ben Ansell auf welche Weise Institutionen und Normen dafür sorgen, ob Politik erfolgreich ist oder ob sie scheitert. Politik ist ein heikler Begriff. Manche Menschen verbinden damit abstoßende, korrupte Machenschaften von Politikern. Für andere beschwört er Chancen herauf, was niemand allein bewerkstelligen kann. Vielleicht stimmt ja beides. Ben Ansell erläutert: „Politik bedeutet zunächst einmal die Art, wie wir kollektive Entscheidungen treffen. Die Art, wie wir in einer unsicheren Welt gegenseitige Verpflichtungen eingehen. Und Politik ist für die Lösung unserer Dilemmata von Klimawandel bis Bürgerkrieg, von globaler Armut bis zur Corona-Pandemie von wesentlicher Bedeutung.“ Doch Politik ist ein zweischneidiges Schwert: Sie verspricht nicht nur, die Probleme der Menschen zu lösen, sie schafft auch neue. Ben Ansell ist Professor für Politikwissenschaften am Nuffield College der Universität Oxford.
Wohlstand verringert das Bevölkerungswachstum
Mit die beste Nachricht ist: Wenn in armen Ländern der Wohlstand steigt, und je gleichberechtigter und besser gebildet die Frauen sind, desto deutlicher sinkt die Zahl der Kinder, die geboren werden. Tatsächlich sind die Geburtenziffern nur noch in einem guten Dutzend Länder besorgniserregend. Ullrich Fichtner erklärt: „Ja, es gibt noch Weltregionen – im Tschad, in Somalia, in Niger – in denen Frauen sechs Kinder und mehr gebären; aber es gibt deren nicht mehr viele. Die Fantastereien über kommende Bevölkerungsexplosionen entbehren jeder Grundlage. Das ist der Forschungsstand. In vielen einst überbevölkerten Ländern ist die Kinderzahl pro Frau auf ein gutes Maß gesunken, und die meisten Regierungen, auch in Afrika und Südasien, setzen heute eine Politik ins Werk, die günstige demografische Effekte hat. Ullrich Fichtner ist Reporter des „Spiegel“ und gehört zu den renommiertesten Journalisten Deutschlands.
Die Staaten der Welt stehen vor gigantischen Herausforderungen
In seinem neuen Buch „Das Jahrhundert der Toleranz“ beschreibt Richard David Precht die großen Herausforderungen, die auf die Staaten der Welt im 21. Jahrhundert zukommen. Außerdem fragt er, wie ein halbwegs friedliches Miteinander möglich sein könnte und wie es sich vermeiden lässt, dauerhaft in alte Muster der Feindschaft und Konfrontation zurückzufallen. Dabei nimmt er eine philosophische Perspektive ein und bietet seinen Lesern daher keine schnellen Lösungen. Denn in der Gesellschaft, in Politik und Kultur werden Herausforderungen und Krisen nicht durch Lösungen aus der Welt geschafft. Richard David Precht erläutert: „Für welche Maßnahmen man auch immer sich entscheidet, stets werden Schwierigkeiten verlagert, überformt, in den Hintergrund gestellt oder durch andere Schwierigkeiten ersetzt.“ Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Politik ist immer emotional
In ihrem neuen Buch „Radikal emotional“ beschreibt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner wie Gefühle Politik machen. Sie vertritt dabei unter anderem die These, dass nicht nur die großen Zusammenhänge, sondern auch vermeintlich „rein private“ Alltagsentscheidungen immer politisch sind. Gefühle sind für die Autorin nichts „Privates“, dass man von der professionellen und politischen Ebene trennen kann. Maren Urner schreibt: „Die Ansicht, Emotionen hätten in der Politik nichts zu suchen, ist sogar – Achtung! – irrational. Denn Politik ist nichts anderes als ein Aushandlungsprozess über unterschiedliche Gefühle und damit verbundene Werte und Ideen innerhalb einer Gruppe von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt.“ In diesen Aushandlungsprozess sind alle Menschen involviert. Dr. Maren Urner ist Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln.
Die meisten Gemeinschaften sind exklusivistisch orientiert
Richard Rorty schreibt: „Die Frage, ob es Überzeugungen und Wünsche gibt, die allen Menschen gemeinsam sind, ist ziemlich uninteressant, wenn man nicht von der Vorstellung einer utopischen, inklusivistischen Menschengemeinschaft ausgeht, die nicht mit der Entschiedenheit, mit der sie Fremde ausschließt, stolz ist, sondern auf die Verschiedenheit der Arten von Menschen, die sie willkommen heißt.“ Die meisten menschlichen Gemeinschaften sind jedoch exklusivistisch orientiert. Ihr Identitätsgefühl und das Selbstbild ihrer Angehörigen beruhen auf ihrem Stolz darauf, bestimmten Arten von Menschen nicht anzugehören. Nämlich denen, die den falschen Gott verehren, die falschen Nahrungsmittel essen oder irgendwelche anderen abwegigen, abstoßende Überzeugungen oder Wünsche haben. Richard Rorty (1931 – 2007) war einer der bedeutendsten Philosophen seiner Generation. Zuletzt lehrte er Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University.
In der Politik wurde immer schon gelogen
Bei der Gegenwart, so kann man lesen, handelt es sich um ein postfaktisches Zeitalter. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Ungeniert können Populisten Lügen verbreiten, ihre Anhänger wissen das und jubeln trotzdem oder vielleicht gerade deshalb.“ Dem Wahrheitsfreund graut, zumal er ja, so muss man den erschütterten Kommentaren zur „post-truth politics“ entnehmen. Denn er ist in einer Zeit groß geworden, in der Wahrheit in der Politik noch eine entscheidende Kategorie war und sich die Wähler an den besseren und faktengetreuen Argumenten orientierten. Natürlich stimmt diese in die Vergangenheit projizierte Idylle nicht. In der Politik wurde immer schon gelogen und immer schon haben die Anhänger diese Politik das augenzwinkernd akklamiert. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.
Freiheit und Gleichheit gehören zu den Grundrechten
Immanuel Kants kleine Schrift „Zum ewigen Frieden“ hat spätestens mit der durch sie angeregten Gründung des Völkerbunds 1919 einen weltpolitischen Rang erhalten. In ihr werden im ersten Definitionsartikel, der die Staaten auf eine republikanische Verfassung verpflichtet, drei Prinzipien genannt. Diese seien unbedingt zu beachten. Volker Gerhardt stellt fest: „Zwei der Prinzipien, nämlich die Freiheit und die Gleichheit der Bürger, sind uns aus den Grundrechtskatalogen bekannt.“ Aber das zwischen ihnen stehende dritte Prinzip der Abhängigkeit aller Bürger „von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung“ ist erklärungsbedürftig. Denn in einer offenen Welt, in der man seinen Wohnort selbst bestimmen kann, wirkt die Bindung an die Gesetzgebung eines einzigen Staates befremdlich. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Der „europäische Geist“ erlebte eine Krise
War man um die Mitte des 17. Jahrhunderts durch die zermürbende Erfahrung des Krieges klüger geworden? ES kann jedenfalls kein Zufall sein, dass mehr oder weniger simultan europaweit Tendenzen zu beobachten sind, an allem, was mit überkommenen Machtstrukturen zu tun hat, Kritik zu üben. Jürgen Wertheimer weiß: „Das betrifft Regierungsformen wie Denkstile. England unter der republikanischen Diktatur Oliver Cromwells oder die Revolte der Niederlande gegen die spanische Hegemonie sind nur zwei Beispiele für die beginnende Korrosion traditioneller Herrschaftsgefüge.“ Weit deutlicher jedoch als im Bereich der Politik zeigen sich die Zeichen eines generellen Umbruchs im Bereich der Künste und Wissenschaften. Denn der „europäische Geist“ erlebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine massive Krise. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Geschmack ist die weibliche Form des Genius
Geschmack bezeichnete F. Scott Fitzgerald – ganz Gentleman der alten Schule – als die weibliche Form des Genius. In diesem Sinne wäre die Boutiquisierung der Kultur – folgte man dem Machismo Fitzgeralds – auch ein Erfolg der weiblichen Emanzipation. Ulf Poschardt erklärt: „Die Kultur wird metrosexuell. Vielleicht überlebt das Buch am Ende nur am Coffeetable und das Tanztheater nur in Modeschauen.“ Die Organisation und Reproduktion von Lebensstilen verlangen als Mündigkeitsanstrengung vor allem „kulturelles Kapital“, wie das Pierre Bourdieu vermutet. Kurz vor dem Eintritt in die Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts hat der Postmaterialismus die Mündigwerdung reidealisiert und dabei auch die Rollenbilder verschoben. Die Klimabewegung Fridays for Future trat 2019 als eine extrem weibliche Protestbewegung hervor. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).
Das eilige Meinen richtet tagtäglich Verseuchungen an
Aus Wolfgang Hildesheimers „Mitteilungen an Max“ stammt das Zitat, das Reinhard K. Sprenger zum Titel seiner Aufsatzsammlung „Gehirnwäsche trage ich nicht“ wählte. Es verweist auf die Verseuchungen, welche die Pathosformeln und das eilige Meinen tagtäglich anrichten. Versammelt sind in seinem neuen Buch vorrangig Texte, die er in der NZZ – „Neue Zürcher Zeitung“ publizierte. Seit Angedenken übt sich der Mensch, den Zufall zu bändigen, die Fülle der Möglichkeiten zu begrenzen, seine Welt zu ordnen und festzulegen. Und je mehr ihm das gelingt, desto mehr leidet er unter dem Restrisiko. Desto mehr artikuliert sich das Bedürfnis, den Zufall möglichst vollständig aus dem Leben zu verbannen. Man will kontrollieren, alles, irgendwie, auch den eigenen Körper. Reinhard K. Sprenger, promovierter Philosoph, ist einer der profiliertesten Führungsexperten Deutschlands.
Die Kluft zwischen arm und reich steigt
Extreme Ungleichheit ist kein Naturgesetz. Sie ist die Folge einer Politik, die Profite vor Menschen stellt. Um Ungleichheit zu reduzieren, müssen Regierungen für eine faire Besteuerung sorgen. Zudem müssen sie in öffentliche soziale Dienste investieren und die Benachteiligung von Frauen beseitigen. Klaus Peter Hufer weiß: „Die Kluft zwischen Arm und Reich steigt nicht nur weltweit, sondern auch innerhalb der reichen Länder des Westens und des Nordens.“ Im Jahr 2018 verfügten 26 Personen über ebenso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das sind 3,8 Milliarden Menschen. Der britische Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier stellt fest: „Der Kapitalismus löst sein wichtigstes Versprechen – einen ständig steigenden Lebensstandard für alle – immer weniger ein. Einige profitieren weiterhin, aber andere wurden abgehängt.“ Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.
In Europa gab es lange keine Demokratie
Es ist für Silvio Vietta eigentlich unfassbar, wie lange nach der römischen Republik und deren Zusammenbruch dann die Demokratie in Europa ruht. Es war eine Art Grabesruhe für Jahrhunderte. Im Mittelalter gab es zaghafte Neuansätze in den sich bildenden Stadtkulturen. Die Schweiz macht sich nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Habsburger Vorherrschaft in der Schlacht von Sempach 1386 frei von deren Vorherrschaft. Das kleine Land in Mitteleuropa beschritt damit einen Weg hin zu einer halb-direkten Demokratie. Silvio Vietta fügt hinzu: „Ansätze zu einer parlamentarischen Demokratie gab es vor allem in England, wo ab dem 13. Jahrhundert der Monarchie ein Parlament gegenübertrat.“ Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.
Die Metamorphose wirkt im Unterbewusstsein
Bei einer Metamorphose gründet die Kraft, die einen Menschen durchdringt und verändert, nicht auf einem bewussten und persönlichen Willensakt. Emanuele Coccia erklärt: „Sie kommt anderswoher, ist älter als der Körper, den sie formt, und wirkt jenseits aller Entscheidung. Vor allem aber ist sie frei von dem Impuls, die Vergangenheit oder die Identität zu verdrängen oder zu negieren.“ Ein metamorphisches Wesen hat, im Gegenteil, alle Ambition abgelegt, sich in einem einzigen Gesicht wiedererkennen zu wollen. Das Leben, das durch die Raupe und den Schmetterling hindurchgeht, kann auf keines der beiden heruntergebrochen werden. Es kann mehrere Gestalten gleichzeitig bewohnen und beherbergen und schöpft aus dieser amphibischen Eigenschaft seine Kraft. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.
Volker Gerhardt entwirft eine Philosophie der Demokratie
Von der ersten Demokratie in Athen bis zu den Vereinten Nationen beschreitet Volker Gerhardt in seinem neuen Buch „Individuum und Menschheit“ einen langen Weg durch die Weltgeschichte. Lange bevor es die erste Demokratie gegeben hat, gab es ihre Definition als politische Ordnung, in der die Freiheit eines jeden mit seiner Gleichheit vor dem Gesetz verbunden ist. Der Einzelne wurde als Individuum anerkannt und galt zugleich als Ursprung eines gemeinschaftlichen Ganzen. Dieses umfasst letztlich alle Menschen und gewinnt seine Einheit durch nichts Geringeres als das Recht. Doch die Demokratie blieb in der langen Zeit ihres Bestehens umstritten und gefährdet. Und es scheint, als stehe sie auch in der Gegenwart vor einer weiteren großen, vielleicht sogar vor ihrer ultimativen Bewährungsprobe. Volker Gerhardt lehrte bis 2012 als Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Dort ist er auch weiterhin als Seniorprofessor tätig.
Die Politik Merkels und Putins führte ins Verderben
Thomas Mayer erzählt in seinem Buch „Russlands Werk und Deutschlands Beitrag“ die deutsch-russische Geschichte bis zum Ukraine-Krieg. Er beschreibt das Geschehen anhand der Biografien von Angela Merkel und Wladimir Putin. Auf ihre Weisen waren die beiden Politiker Repräsentanten einer Zeit des unechten Friedens. Thomas Mayer hat ein Buch geschrieben, das deutlich macht, wie sehr die liberale Demokratie des Muts bedarf. In den frühen Morgenstunden des 24. Februars überfielen die Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin die Ukraine. Der Berliner Politikbetrieb war geschockt. Die Vorhersage des Angriffs durch die US-amerikanischen Nachrichtendienste hatte man als Kriegsgeheul beiseitegeschoben. Nun war man fest davon überzeugt, dass die ukrainischen Truppen dem Überfall ein paar Stunden oder höchstens wenige Tage standhalten könnten. Der promovierte Ökonom Thomas Mayer leitet das Research Institute der Vermögensverwaltung Flossbach von Storch.
Auch die Guten lügen
Zeitgenossenschaft bedeutet, sich tastend dem anzunähern, was die Zeit, in der man lebt, ausmachen könnte. Konrad Paul Liessmann unternimmt in seinem Buch „Lauter Lügen“ mit seinen Texten solche Annäherungsversuche. Bei dieser Aufgabe, von markanten Vorkommnissen auf den Geist der Zeit zu schließen oder in manchen Nachrichten die Signaturen der Epoche zu erkennen, bewegt man sich stets auf schwankendem Boden und dünnem Eis. Es gibt nicht wenige Menschen, die die Gegenwart als postfaktisches Zeitalter bezeichnen. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Ungeniert können Populisten Lügen verbreiten, ihre Anhänger wissen das und jubeln trotzdem oder vielleicht gerade deshalb.“ Das ist jedoch nicht verwunderlich, denn in der Politik geht es nicht um Wahrheit, sondern um Machtfragen. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.
Die Politik neigt zu Protektionismus
Wenn man wissen will, wie es nach der Corona-Pandemie mit der Globalisierung weitergeht, sollte man zwei Dimensionen unterscheiden. Clemens Fuest erläutert: „Erstens Marktreaktionen, also Verhaltensänderungen der Unternehmen und der Verbraucher. Zweitens Reaktionen der Politik wie etwa eine verstärkte Neigung zu Protektionismus.“ Werden die Unternehmen ihre Wertschöpfungsketten nach der Krise verändern? Man kann damit rechnen, dass international agierende Firmen in Zukunft darüber nachdenken, welche Produkte sie selbst herstellen und welche sie zukaufen. Beides ist mit Risiken verbunden. Es kann durchaus sein, dass eine Epidemie, eine Naturkatastrophe oder einen Unfall die eigene Produktion lahmgelegt, während Zulieferer davon nicht betroffen sind. Wenn man sich für Outsourcing entscheidet, können die Zulieferer aus dem Inland oder dem Ausland kommen. Clemens Fuest ist seit April 2017 Präsident des ifo Instituts.
Die globale Politik ist von Gewalt bedroht
Das Philosophie Magazin hat eine neue Sonderausgabe mit dem Titel „Impulse für 2023“ veröffentlicht. Darin präsentiert es ausgesuchte Essays und Gespräche zu den großen Fragen der Gegenwart. Gegliedert ist das Heft in vier große Blöcke: Weltunordnung, die Herrschaft der Technik, Natur als Subjekt sowie Gesellschaft und Politik. Der russische Überfall auf die Ukraine ist zugleich ein Anschlag auf politische Gewissheiten. Die Überzeugung, dass Handel Frieden stiftet oder dass sich die Menschheit auf ein einziges, liberales Modell zubewegt, hat großen Schaden genommen. Es zeichnet sich im Gegenteil eine nichtwestliche Weltunordnung ab, eine gewaltsame Umwälzung der globalen Politik. Für Jürgen Habermas unterschlägt der schrille Ton in der deutschen Debatte um die Zeitenwende die Komplexität der Situation und das Risiko einer nuklearen Katastrophe.
Vier Tugenden führen zu einem guten Leben
Es ist immer gut, wenn man mit sich im Reinen, oder wie Aristoteles sagt, „befreundet“ ist. Denn dann kann man besser angemessen mit den eigenen Bedürfnissen und den Anforderungen der Welt umgehen. Und wie erlangt man Vortrefflichkeit? Richard David Precht antwortet: „Indem man nach Tugenden strebt, allen voran nach Gerechtigkeit, nach Weisheit, nach Tapferkeit und nach Mäßigung. Diese vier Leitsterne leuchten dem Menschen aus, was es heißt, ein gutes Leben zu führen.“ Und je stärker man sich an ihnen orientiert, umso mehr nimmt man sie in sich auf und modelliert damit seinen Charakter. Diese Vorstellung herrschte zumindest in der Antike vor. So weit, so persönlich und so individuell. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Die Weltspitze stellt eine Elite dar
Das Menschen unterschiedlich leistungsfähig und auch leistungswillig sind, ist unbestritten. In nahezu allen Bereichen in denen Menschen tätig werden, gibt es begabte und weniger begabte, fähige und weniger fähige sowie erfolgreiche und weniger erfolgreiche. Das muss nicht besonders betont werden. Jeder will von einem ausgezeichneten Arzt behandelt, von einem hervorragenden Lehrer unterrichtet sowie von einem exzellenten Banker beraten werden. Konrad Paul Liessmann ergänzt: „Und selbstverständlich gehen wir davon aus, dass es in Wissenschaft, Kunst und Sport unterschiedliche Niveaus gibt. Dass sich Herausragendes vom Mittelmäßigen unterscheidet und dass diejenigen, die an die Weltspitze kommen, einem strengen Prozess der Selektion unterworfen waren, also im Wortsinn eine Auslese, eine Elite darstellen.“ Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.
Gereiztheit ist ein Kennzeichen der Gegenwart
Strenge Sozialnormen bei unterschwelliger Gereiztheit sind ein Kennzeichen der Gegenwart. Richard David Precht ergänzt: „Und die Zahl derer, denen politische Fragen zum Ventil werden, um Druck abzulassen, ist beachtlich. Ob es sich dabei um Migration oder Corona-Maßnahmen handelt, spielt dabei fast keine Rolle. Am Ende kommt es auf den Anlass wahrscheinlich weit weniger an, als den Empörten selbst bewusst ist.“ Und ist die Covid-19-Pandemie einmal ausgestanden, findet sich gewiss schnell das nächste Ventil. Richard David Precht hat einen heißen Tipp: „Maßnahmen und Auflagen gegen die drohende Klimakatastrophe …“. Die seit der Antike sozial eingeforderte Tugend der Mäßigung kennt also eine Schattenseite. Dabei handelt es sich um das versteckte Unmaß. Dabei fragt sich allerdings: Warum ist in letzter Zeit gerade der Staat zum Zielobjekt unmäßiger Wut geworden? Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Die Grundrechte stehen an erster Stelle
Zwei Jahre, in denen eine essenzielle Krise auf die nächste folgte, habe das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland substanziell verformt. Dabei ist es zu einer schier unglaublichen Machtkonzentration der Exekutive gekommen. Ulrike Guérot fordert in ihrem neuen Buch „Wer schweigt, stimmt zu“, dass der Wert von Grundrechten dringend neu im Bewusstsein der Deutschen verankert werden muss. Die Gesellschaft darf niemanden von der Teilhabe am Diskurs ausgrenzen, den mit Ausgrenzung beginnt laut Ulrike Guérot die Erosion der Demokratie. Gewinner sind ihrer Meinung nach vor allem Tech-Giganten wie Facebook, Twitter sowie YouTube und Finanzgiganten, die schlussendlich digitale Überwachungssystem installieren. Sie haben den Körper als letzte Ware im Visier und Heilsversprechen im Gepäck. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn.