Die eigene Identität ist nicht mehr selbstverständlich

Fast jeder Mensch erlebt heute seine Identität im Wissen, dass der Andere, der Nachbar eine andere Identität hat. Diese Erfahrung nimmt der Identität ihre Selbstverständlichkeit. Es schränkt sie ein. Sie weiß, dass sie nur eine Option unter anderen ist. Isolde Charim ergänzt: „In diesem Sinne schreibt sich Pluralisierung eben als Minus, als Weniger, als Abzug von unserer jeweiligen Identität in uns alle ein. In diesem Sinn muss sich jeder – schon von klein auf – seiner prekären Identität versichern.“ Trotzdem lassen sich die Veränderungen des Kapitalismus, den man unter den Begriff „Neoliberalismus“ fasst, nicht einfach gleichsetzen mit den psychopolitischen Veränderungen der gesellschaftlichen Identität. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Das Unbehagen am Kapitalismus ist weit verbreitet

Das unbestreitbar Neue am modernen Kapitalismus, wie er seit knapp zwei Jahrhunderten die westliche Wirtschaft formt, ist seine Dynamik. Sie entsteht, weil Unternehmen ihre Gewinne nicht anhäufen, sondern gleich wieder investieren, vorzugsweise in neue Technik, die dazu führt, dass noch mehr und noch billiger produziert und noch mehr Geld verdient wird. Und so weiter. Auf diese Weise wuchs das Vermögen, vermehrte sich die Masse der Konsumgüter, wuchs die Wirtschaft in einem bisher nie gekannten Maße. Allerdings kam es dadurch auch zu einer völlig neuen Ballung ökonomischer Macht. Heute benutzen den Begriff „Kapitalismus“ fast nur noch seine Kritiker. Vor allem bündelt der Begriff das Unbehagen am aktuellen Wirtschaftssystem. An der Tendenz, allem einen Preis zu geben. An dem Trend, für den wirtschaftlichen Vorteil jede Moral beiseite zu stellen.

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Singularitäten sind durch und durch sozial fabriziert

Die mystifizierende Haltung gegenüber Besonderheiten, die in der sozialen Welt der Kunstbetrachter und religiösen Gläubigen, den Bewunderern von Charisma und Liebenden, der Musikfans, Fetischisten von Markten und unbeirrbaren Lokalpatrioten verbreitet ist, setzt voraus, dass das, was ihnen wertvoll ist und sie fasziniert, gewissermaßen in ihrer natürlichen Essenz und unabhängig vom Betrachter wirklich authentische und einzigartige Phänomene sind. Andreas Reckwitz erläutert: „Mit Blick auf diese Mystifizierung des Authentischen hat die soziologische Analyse eine Aufklärungsfunktion. Einzigartigkeiten sind gerade nicht als vorsoziale Gegebenheiten vorauszusetzen, vielmehr gilt es, die Prozesse und Strukturen der sozialen Logik der Singularitäten zu rekonstruieren.“ „Soziale Logik“ heißt: Die Singularitäten sind nicht kurzerhand objektiv oder subjektiv vorhanden, sondern durch und durch sozial fabriziert. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Jeder Mensch hat das Recht auf Liebe

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 04/2017 dreht sich um das schönste Thema der Welt: die Liebe. Die Liebe ist vielleicht das stärkste Gefühl, das der Mensch kennt: magisch, mitreißend, buchstäblich unbeschreiblich. Chefredakteur Wolfram Eilenberger schreibt in seinem Editorial: „Zu keinen Zeitpunkt der Existenz erfahren wir uns als verletzlicher, unsicherer, ausgesetzter, machtloser als in dem Moment, indem wir einem anderen Menschen anvertrauen, ihn zu lieben, ohne dessen Antwort bereits zu kennen.“ Die Liebe hat das Potential – ob als romantisches Glück oder freundschaftliche Tiefe – die Menschen vor dem zu retten, was sie derzeit am meisten bedroht: Vereinzelung, Effizienzdenken und Identitätswahn. Das romantische Liebesideal der absoluten Einheit beruhte auf extremer Intensität und schloss Risiken bis hin zum Liebestod nicht aus. Heutzutage entsteht im Zeichen einer Schmalspurromantik der Dating Portale ein destruktiver Erwartungsdruck, die die Liebe erstickt, ja zur völligen Beziehungslosigkeit führen kann.

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Wilhelm Schmid erörtert die Bedeutung der Freundschaft

Viele Menschen, die in einer engen Verbindung zueinander stehen, ohne dabei allerdings ständig zusammen zu sein, bezeichnen sich als Freunde. Sie behaupten laut Wilhelm Schmid mit großer Selbstverständlichkeit, einander zu mögen, ja, sogar zu lieben, ohne dabei ein Missverständnis zu befürchten. Dennoch scheint diese Beziehung anders zu sein als diejenige zwischen Liebenden oder Mitgliedern einer Familie, wenngleich es Überschneidungen gibt. Auf die Frage, ob es sich bei einer Freundschaft wirklich um Liebe handeln kann, antwortet Wilhelm Schmid: „Jedenfalls handelt es sich um eine Art der Zuwendung und Zuneigung auf allen Ebenen des Menschseins, die dafür zur Verfügung stehen, also muss es Liebe sein. Körperlich wird dies deutlich, wenn zwei die Nähe zueinander suchen, die Köpfe zusammenstecken und sich gelegentlich umarmen.“ Wilhelm Schmid lebt als freier Autor in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt.

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Die Vernunft setzt sich gegen das Glück der Menschen durch

Die idealistische Philosophie der bürgerlichen Epoche hatte das Allgemeine, das sich in den isolierten Menschen durchsetzen sollte, unter dem Titel der Vernunft zu verstehen versucht. Der Mensch erscheint als ein gegen die anderen in seinen Trieben, Gedanken und Interessen vereinzeltes Ich. Die Überwindung dieser Vereinzelung, der Aufbau einer gemeinsamen Welt geschieht laut Herbert Marcuse durch die Reduktion der konkreten Individualität auf das Subjekt des bloßen Denkens, das vernünftige Ich. Herbert Marcuse erklärt: „Die Gesetze der Vernunft bringen unter Menschen, deren jeder zunächst nur seinem besonderen Interesse folgt, schließlich eine Gemeinsamkeit zustande.“ Dabei können einige Formen der Anschauung und des Denkens als allgemeingültig sichergestellt werden. Aus der Vernünftigkeit eines Individuums lassen sich gewisse allgemeine Maximen des Handelns gewinnen.

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Facebook und andere soziale Netzwerke erhalten Freundschaften

Noch vor rund einem Jahrzehnt gaben in der Wissenschaft warnende Stimmen den Ton an, die ganz im Sinne des Harvard-Politologen Robert Putnam vermuteten, neue Medien und Technologien würden zur Vereinzelung und nachlassendem Engagement für gesellschaftliche Belange führen. Der britische Philosoph Roger Scruton glaubte damals, dass sich etwas im Menschen verändere, wenn er Beziehungen nur noch über den Bildschirm aufrecht erhalte. Er schrieb im Magazin „The New Atlantik“: „Wenn man Freunde wie ein YouTube-Video anklickt, erfasst man all die feinen verbalen und körperlichen Signale eines Menschen nicht mehr. Das Gesicht des anderen ist ein Spiegel, in dem man sich selber sieht.“ Roger Scruton ging von der Annahme aus, dass in sozialen Netzwerken virtuelle Freunde die realen Freunde einfach ersetzen würden. Das ist aber laut heutigem Stand der Wissenschaft so nicht der Fall.

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Alain Ehrenberg plädiert für eine Politik der Autonomie

Der Pariser Sozialforscher Alain Ehrenberg hat im Suhrkamp Verlag sein zweites Buch veröffentlicht: „Das Unbehagen in der Gesellschaft“. Vor zwölf Jahren stellte der Autor in seinem Erstlingswerk „La fatigue d’être soi“ fest, dass die meisten westlichen Menschen sich in einem Zustand der völligen Erschöpfung befinden, nachdem sie aus den vormodernen Zwängen und Routinen befreit worden waren. Die Massen waren für Alain Ehrenberg einfach fix und fertig. Er schrieb: „Sich befreien, macht nervös, befreit sein, depressiv. Die Angst, man selbst zu sein, versteckt sich hinter der Erschöpfung, man selbst zu sein.“ Er vertrat die Meinung, dass der mündige Souverän abdankt, wenn ein Individuum bunte Pillen schlucken muss, um gut gelaunt seiner Büroarbeit nachgehen zu können. Aber ohne einen souveränen Bürger ist die Gesellschaft in Gefahr, das Gemeinwesen droht auseinanderzubrechen.

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