Politik ist ein heikler Begriff. Manche verbinden damit abstoßende korrupte Machenschaften von Politikern. Für andere beschwört er Chancen herauf – die Möglichkeit, gemeinsam etwas zu erreichen, was niemand allein bewerkstelligen kann. Oder vielleicht stimmt beides. Ben Ansell stellt fest: „Politik bedeutet zunächst einmal die Art, wie wir kollektive Entscheidungen treffen. Die Art, wie wir in einer unsicheren Welt gegenseitige Verpflichtungen eingehen. Und Politik ist für die Lösung unserer Dilemmata von Klimawandel bis Bürgerkrieg, von globaler Armut bis zur Corona-Pandemie von wesentlicher Bedeutung.“ Doch Politik ist ein zweischneidiges Schwert: Sie verspricht nicht nur, unsere Probleme zu lösen, sie schafft auch neue. Die Gesellschaft braucht sie, aber oft verabscheuen die Bürger sie auch. Ben Ansell ist Professor für Politikwissenschaften am Nuffield College der Universität Oxford.
Demokratie
Reaktionäre stemmen sich gegen das Mehrdeutige
„Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“: Reaktionäre haben klare Kategorien. Ihre zweigeteilte Welt ist konfliktuell – Elite versus Volk, Nation versus Fremde, wir versus die anderen. Roger de Weck weiß: „Sie stemmen sich gegen das Mehrdeutige, das eine lebendige Gesellschaft prägt.“ In der Transformation von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik stimmen viele einst eindeutige Kategorien nicht mehr. Ihre alte Klarheit ist nicht auf der Höhe der neuen Unübersichtlichkeit. Beispielsweise gerät die Arbeitsgesellschaft in immer größere Verlegenheit, den Begriff der Arbeit überhaupt zu erfassen. Der bewegliche Laptop hat die Einteilung in Büroarbeit und Heimarbeit gesprengt. Im Netz verwischt die Zweiteilung in Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Und die unbezahlte Arbeit, zum Beispiel die Care-Arbeit, die in der Volkswirtschaftslehre nicht als Arbeit vorgesehen war, wurde endlich als maßgebend entdeckt. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
In einer Demokratie können sich Bürger selbst Verbote auferlegen
Es würde die Marktwirtschaft wie die Demokratie beschädigen, starrköpfig die derzeitige Umwelt- und Klimapolitik der Selbsttäuschung fortzuführen. Die Erderwärmung zu drosseln, erfordere „beispiellose Veränderungen in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft“, einen Wandel auch „in menschlichem Verhalten und Lebensstilen“ so die wachrüttelnde Botschaft des Weltklimarats Intergovernmental Panel on Climate Chance (IPCC). Roger de Weck betont: „Demokratie ist die einzige Staatsform, in der sich Bürgerinnen und Bürger letztlich selbst Gebote und Verbote auferlegen können. Und diese neue Herausforderung spricht nicht etwa für weniger, sondern für mehr Demokratie.“ Nicht selten dient China als Beispiel dafür, wie rasch eine Diktatur Maßnahmen zum Schutz der Umwelt treffen könne. Aber: Nur in einer diktatorischen Volksrepublik konnte das Regime die Umweltzerstörung zuvor dermaßen auf die Spitze treiben. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Andrea Römmele fordert mehr Zukunftsmut
In einer Demokratie können die Bürger die Zukunft mitgestalten. Denn in der Regel kündigen sich große politische, ökonomische oder gesellschaftliche Veränderungen an. Sie vollziehen sich prozesshaft und langsam. Viele akute Krisen und disruptive Ereignisse sind nur die sichtbare Folge eines schon lang andauernden Trends, den die Wissenschaft schon früh vorgezeichnet hat. Diese Trends gilt es zu verstehen, zu durchdenken und mögliche Konsequenzen daraus abzuleiten. Das ist der Ausgangspunkt des neuen Buchs „Demokratie neu denken“ von Andrea Römmele. Deutschland, Europa und die Welt stehen an der Schwelle zu einer neuen Ära. Das Zeitalter westlicher Vorherrschaft geht zu Ende. Rechtspopulistische Parteien fordern die Demokratien heraus. Andrea Römmele ist Professorin für Politische Kommunikation und Vizepräsidentin an. der Hertie School in Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Demokratie, Wahlen und politische Parteien.
Die Emanzipierten solidarisieren sich in wachsenden Bündnissen
In der Gegenwart präsentieren Soziale Netzwerke viel unreflektierten Mist, schlecht Informierte, Selbstdarstellung, Wut und Hass. Aber sie sind auch der Ort eines neuen Gewissens, das Menschen daran erinnert, dass es die Interessen, das Engagement und eine Achtsamkeit für die Belange von Individuen gibt, die früher nicht gehört wurden. Hadija Haruna-Oelker ergänzt: „Es ist ein Ort, dem Medien heute vermehrt Gehör schenken, und der deshalb in den Mainstream, in das breite Publikum, also in die Mitte gewandert ist. Und auch, wenn sich manche in Kämpfen verlieren, hat auch diese Art der Auseinandersetzung seine Berechtigung.“ Denn solange eine Anerkennung der Anliegen bestimmter Gruppen nicht selbstverständlich ist, wird es Identitätspolitik geben. Hadija Haruna-Oelker lebt als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Hauptsächlich arbeitet sie für den Hessischen Rundfunk.
Die Demokratie sollte direkt-partizipatorisch sein
Andreas Urs Sommer stellt fest: „Wir sind zu divers geworden. Jedenfalls für die traditionelle repräsentative Demokratie. Unsere Diversität ist zu groß, als dass wir noch repräsentiert werden könnten.“ Und überdies sind die Bürger durchaus entscheidungsmächtig und entscheidungsfähig. Sie alle. Also sollte laut Andreas Urs Sommer die Demokratie direkt-partizipatorisch sein. Aber wie soll eine solche Demokratie funktionieren? Dank gemeinsamer Werte, sagen womöglich viele Menschen. Geteilte Werte kann man allerdings in einer direkt-partizipatorischen Demokratie nicht voraussetzen. Oder doch nur den Wert, andere Werte anderer Menschen gelten zu lassen. Hans Kelsen, einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, hat seine „relativistische Wertelehre“ auf „das Prinzip der Toleranz“ gründen wollen. Univ.-Prof. Dr. Andreas Urs Sommer ist unter anderem Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Die Gewaltenteilung ist ein zentrales Element der Demokratie
Die Gerichtsbarkeit, die Medien und die Universitäten sind systemrelevant für die Demokratie. Die dritte Gewalt hat dabei den Zweck das geltende Recht zu verteidigen, anstatt die Außerkraftsetzung des Rechts zu legitimieren. Laut Ulrike Guérot war die Gewaltenteilung während der Coronakrise über Monate außer Kraft gesetzt. Obwohl es sich dabei um ein zentrales Element einer jeden Demokratie handelt. Ulrike Guérot stellt fest: „Es ist gut, dass mit Jahresbeginn 2022 einige Gerichte wieder aufzuwachen scheinen und Klagen gegen absurde Eindämmungsmaßnahmen stattgaben.“ Diese sind wachsamen Juristen schon lange wegen Verfassungswidrigkeit ein Dorn im Auge. Doch es geht nicht nur um die Gerichte. Ebenso sind die Medien ihrer Aufgabe als sogenannte vierte Gewalt im Staate nicht nachgekommen. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn.
Die Demokratie kann sich gegen Rechtsextremisten verteidigen
In seinem Buch „Machtübernahme“ beschreibt Arne Semsrott, was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren. Und er liefert konkrete Strategien dafür, wie die Bürger die demokratische Gesellschaft verteidigen können. Der Autor spielt immer wieder Szenarien durch, welche die Konsequenzen einer rechtsextremistischen Machtübernahme behandeln. Noch gab es allerdings noch keine alptraumhafte Wahlnacht, nach der die Alternative für Deutschland (AfD) in die Regierung kommt. Aber es ist nicht schwer sich auszumalen, wie der weitere Aufstieg der Partei aussehen könnte. Die AfD ist im Kern eine rechtsextreme, eine menschenfeindliche, eine verfassungsfeindliche Partei. Bausteine ihrer Ideologie basieren auf der Annahme, dass manche Menschen mehr wert sind als andere. Ihre Vorstellungen sind durchzogen von Rassismus, von Queer- und Frauenfeindlichkeit. Die AfD ist dominiert von Menschen, die autoritäre und national-völkische Ideen verwirklichen wollen. Arne Semsrott ist Politikwissenschaftler und Aktivist.
Gegenstände und Verfahren von Volksentscheiden sind begrenzt
Wenn das Recht im Staatsvolk wurzelt und vom Denken der Bürger geprägt wird, sichert die Demokratie nachhaltig eine bürgergerechte Staatlichkeit, hält aber nicht jeden Bürger für einen geeigneten Gesetzgeber. Paul Kirchhof erläutert: „Moderne Verfassungen anerkennen eherne Gesetze und weisen die Gesetzgebung grundsätzlich in die Kompetenz des Parlaments. Das Gesetz gilt auch gegenüber dem unmittelbar geäußerten Volkswillen.“ Gegenstände und Verfahren von Volksentscheiden sind begrenzt. Das hat drei Gründe. Erstens: Das Volk trifft freiheitsberechtigt Mehrheitsentscheidungen, entscheidet nicht – wie der Gesetzgeber – freiheitsverpflichtet. Der von einem Volksentscheid Betroffene wird deshalb den Verlust oder zumindest die Schwächung seiner Menschen- und Bürgerrechte hinnehmen müssen. Zweitens: Zudem ist die Fragestellung – die Verurteilung einzelner Bürger von Mytilene je nach ihrer Schuld – oft nicht zu einer Abstimmungsfrage zu vereinfachen, die mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten wäre. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.
Parteien und Medien vervielfältigen Botschaften
Demokratie ist undenkbar ohne politische Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Der Wert dieser Rechte erhöht sich entscheidend, wenn Organisationen ihren Gebrauch erleichtern. Dabei handelt es sich um „vermittelnde Institutionen“. Offensichtlich vermögen Vereinigungen, politische Parteien und die sogenannten alten Medien wahre Wunder zu wirken, wenn es darum geht, eine Botschaft zu vervielfältigen. Jan-Werner Müller weiß: „Politische Gleichheit lässt sich am besten begreifen als Gleichheit der Chancen auf politische Partizipation. Konkret setzt das einen einigermaßen leichten Zugang zu intermediären Mächten voraus sowie nicht völlig illusorische Möglichkeiten, neue Instanzen dieser Art zu schaffen.“ Die Öffentlichkeit ist ein niemals endender Film, kein Schnappschuss, oder eher noch eine Vielzahl gleichzeig laufender Filme und Plots. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.
Viele Menschen geben die Zukunft quasi auf
Sobald Menschen zu viele schlechte Prognosen hören, fallen sie in eine Art Starre. Florence Gaub erläutert: „Anstatt zu handeln, Entscheidungen zu treffen, und etwas vorzustellen und die Zukunft zu beeinflussen, tun wir nichts. Wir geben die Zukunft quasi auf.“ Das ist an sich schon schlimm genug, aber das ist noch nicht alles. Negative Zukünfte können nämlich mit positiven ausbalanciert werden, ja meistens ist die Zukunft eine Mischung aus beiden, aber da, wo früher eine erstrebenswerte Zukunft lag, gähnt nun eine Leere. Früher bestand für die meisten Westeuropäer die gute Zukunft aus Wohlstand und Freiheit, und sie ging einher mit dem Wunsch, diese Zukunft in den Rest der Welt zu exportieren. Dr. Florence Gaub ist Politikwissenschaftlerin, Militärstrategin und Zukunftsforscherin. Sie leitet als Direktorin den Forschungsbereich NATO Defense College in Rom.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat eine moralische Revolution eingesetzt
Vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Welt eine unvorstellbare moralische Revolution erlebt, eine Erfolgsgeschichte des Guten, von der Umsetzung der Menschenrechte bis hin zur Verbreitung von Demokratie und Freiheit. Philipp Hübl fügt hinzu: „Gleichzeitig sind Krieg, Gewalt, Krankheiten, Armut und Hunger dramatisch zurückgegangen, was innerhalb eines Jahrhunderts zu einer Verdopplung der Lebenserwartung weltweit von etwa 35 Jahren auf über 70 Jahre geführt hat.“ Noch um das Jahr 1900 war die weltweite Kindersterblichkeit so hoch, dass fast jedes zweite Kind das fünfte Lebensjahr nicht erreichte. Heute sterben zwar immer noch vier Prozent aller Kinder, aber das ist weniger als ein Zehntel des ursprünglichen Anteils. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).
Erfolgreiche Politik funktioniert nur ohne Egoismus
In seinem neuen Buch „Warum Politik so oft versagt“ erklärt Ben Ansell auf welche Weise Institutionen und Normen dafür sorgen, ob Politik erfolgreich ist oder ob sie scheitert. Politik ist ein heikler Begriff. Manche Menschen verbinden damit abstoßende, korrupte Machenschaften von Politikern. Für andere beschwört er Chancen herauf, was niemand allein bewerkstelligen kann. Vielleicht stimmt ja beides. Ben Ansell erläutert: „Politik bedeutet zunächst einmal die Art, wie wir kollektive Entscheidungen treffen. Die Art, wie wir in einer unsicheren Welt gegenseitige Verpflichtungen eingehen. Und Politik ist für die Lösung unserer Dilemmata von Klimawandel bis Bürgerkrieg, von globaler Armut bis zur Corona-Pandemie von wesentlicher Bedeutung.“ Doch Politik ist ein zweischneidiges Schwert: Sie verspricht nicht nur, die Probleme der Menschen zu lösen, sie schafft auch neue. Ben Ansell ist Professor für Politikwissenschaften am Nuffield College der Universität Oxford.
Das Denken verbindet das Subjekt mit dem Objekt
Das Denken ist eine wirkliche, objektiv existierende Schnittstelle, die Subjekt und Objekt verbindet. Der Mensch verfügt über einen besonders ausgebildeten Denksinn. Mittels dessen kann er sich in der Wirklichkeit der Gedanken umschauen. Denken ist selber etwas Wirkliches. Markus Gabriel stellt fest: „Weder die Flügel unserer Einbildungskraft noch unsere modernen Simulationen, die uns virtuelle Realitäten erleben lassen, reichen hin, um der Wirklichkeit wirklich zu entfliehen.“ Der Neue Realismus richtet sich gegen die heutige Entfremdung von der Wirklichkeit. Denn die Wirklichkeit ist niemals zur Science-Fiction geworden – und verschwunden ist sie schon gar nicht. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Die Lehren aus den Weltkriegen bestachen in ihrer Einfachheit
Patriotisch zogen die Menschen in den Ersten Weltkrieg, im Bann eines neuerlichen Nationalismus folgte der Zweite und der Holocaust. Roger de Weck stellt fest: „Danach war das Trauma so schwer, dass es die Menschen nachhaltiger zur Vernunft anhielt als sonst üblich. Überdies stieg die Lebensdauer. Leidtragende konnten länger als vorangegangene Kohorten die abschreckende Erfahrung der Gewalt ihren Kindern und Enkeln vermitteln.“ Und die zivilisatorischen Lehren aus der Katastrophe waren von genialer Einfachheit: Rücksicht auf die Schwächeren, also soziale Marktwirtschaft, und Rücksicht auf die Nachbarn, also europäische Einigung. Das setzte den Rahmen für Kompromisse, damit Konflikte nicht abermals eskalierten, weder innerhalb der Länder noch unter den Nachbarn. Da entfaltete sich die ganze Kraft der Demokratie. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Die EU konzentriert und verdichtet sich auf Brüssel
Europa konzentriert sich auf einen unglaublich kleinen Ort, der „Brüssel“ genannt wird. Robert Menasse schreibt: „Siebenundzwanzig Staaten, fast vierhundertfünfzig Millionen Menschen auf einer Fläche von über vier Millionen Quadratkilometern: zusammengefallen und verdichtet auf Brüssel.“ Die Europäische Union (EU) scheint nur noch als diese Chiffre zu existieren: Brüssel, das die Souveränität der Nationalstaaten, nationale Interessen und vor allem die Demokratie, die nur als nationale vorstellbar sei, verschlucken will. So erscheint heute der vorherrschende politische Europadiskurs. Vor rund siebzig Jahren sind europäische Nationen bewusst und planvoll in einen gemeinsamen nachnationalen Prozess eingetreten. Denn diese Generation der Politiker hatte in nur einer Lebenszeit ihre Erfahrungen mit gleich mehreren verheerenden nationalistischen Kriegen gemacht. Seit 1988 lebt der Romancier und kulturkritische Essayist Robert Menasse hauptsächlich in Wien.
Neue Technologien bedrohen die Demokratie
Noch beunruhigender als die potenziellen Bedrohungen durch die neuen Technologien für die Wirtschaft und die Privatsphäre sind jene für die Demokratie. Joseph Stiglitz erklärt: „Die neuen Technologien sind zweischneidige Schwerter. Befürworter haben das Positive hervorgehoben: Die Schaffung eines größeren öffentlichen Raums, in dem jeder seine Stimme zu Gehör bringen kann. Aber wir haben auch eine viel dunklere Seite kennengelernt. Etwa als sich Russland wiederholt in demokratische Wahlen eingemischt hat, scheinbar in dem Bestreben, das Vertrauen in westliche Demokratien zu untergraben.“ Die neuen Technologien lassen sich zur Manipulation einsetzen. Nicht nur um ökonomische Erträge zu steigern, sondern auch, um gewisse Meinungen zu fördern und andere in Zweifel zu ziehen. Joseph Stiglitz war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford. Er wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.
Parteien und Medien bilden Systeme
Vermittelnde Institutionen erfüllen ihre Aufgaben nicht automatisch von selbst, und offensichtlich operieren sie nicht im luftleeren Raum. Jan-Werner Müller erläutert: „Sie sind vielmehr Teil von Systemen: Parteien bilden Parteiensysteme, Medien bilden Mediensysteme. Deren Struktur kann sich von Land zu Land beträchtlich unterscheiden.“ Welche Art von System jeweils entsteht, hänge ganz wesentlich von dem ab, was der US-amerikanische Soziologe Paul Starr „konstitutive Entscheidungen“ genannt hat. Das lässt sich gut am Beispiel von Parteien nachvollziehen. In den USA einigte man sich 1842 auf das Prinzip der Mehrheitswahl. Das soll heißen: Der Gewinner bekommt alles, der Verlierer nichts.“ In Verbindung mit der Direktwahl des Präsidenten machte diese Entscheidung die Entstehung eines Zweiparteiensystems so gut wie unvermeidlich. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.
Beim Schutz von Vulnerablen geht Freiheit auf allen Seiten verloren
Die Kennzeichnung von Menschen als vulnerable dient dazu, deren Anliegen und Interessen als besonders bedeutsam zu markieren und die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen. Was allerdings eher neu zu sein scheint, ist der Umfang, in dem Vulnerabilitäten ernstgenommen werden. Frauke Rostalski schreibt in ihrem neuen Buch „Die vulnerable Gesellschaft“: „Aktuelle Debatten über Vulnerabilität lassen sich deshalb zugleich für ein Zeichen dafür deuten, dass eine Wertediskussion ansteht und ein Wertewandel im Gang ist – ein Wandel, der nicht zuletzt mit rechtlichen Mitteln vollzogen werden soll.“ Damit tritt aber eine weitere Kategorie auf den Plan, die für das gesellschaftliche Miteinander von besonderer Bedeutung ist: die Freiheit. Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsrecht, Medizinstrafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln.
Viele Menschen hegen die Liebe zum Reichtum
Alexis de Tocqueville fragt in den 1830er-Jahren, was eigentlich passiert, wenn sich in der Demokratie das Geld zum höchsten erstrebenswerten Gut und Selbstzweck entwickelt. Denn es tritt damit an die Stelle von Stand und Ehr, die Aristokratien über alles andere stellen. Alexis de Tocqueville schreibt: „Die Menschen, die in demokratischen Zeiten leben, haben viele Leidenschaften. Aber die meisten ihrer Leidenschaften münden in der Liebe zum Reichtum, oder sie entspringen ihr. Das rührt nicht daher, dass sie kleinmütiger sind, sondern dass das Geld tatsächlich wichtiger ist.“ Richard David Precht erklärt: „Die ständige Fokussierung auf das Geld prägt die US-amerikanische Gesellschaft wie nichts anderes und ist, wie Tocqueville früh erkennt, das Stigma aller zukünftigen Demokratien.“ Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Vielen Menschen ist am Schutz von Minderheiten gelegen
Markus Gabriel stellt fest: „Minderheiten kann man keineswegs stets den Anspruch zugestehen, Gehör zu finden und bei Entscheidungsprozessen mit am Tisch zu sitzen.“ Pädokriminelle, Antidemokraten, eindeutige Verfassungsfeinde, Mörder usw. haben aufgrund ihrer moralischen Defizite schlichtweg nicht das Recht, als Minderheiten vor institutioneller Härte geschützt zu werden. Vielen Menschen ist jedoch zu Recht am Schutz von Minderheiten gelegen. Zu schützende Minderheiten sind meistens solche, denen man nachweisbar Unrecht angetan hat. Man muss sie besonders schützen, um ihnen das volle moralische und juristische Recht zukommen zu lassen, dessen man sie beraubt hat. Es gehört zu der moralisch empfehlenswerten Seite der Demokratie, dass sie zu Unrecht unterdrückten Minderheiten Gehör verschafft. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Es gibt eine neue Moral und den Willen zur Umerziehung
Was der Mensch hervorbringt, misst man stets an derselben Elle der Humanität, dem Maßstab gleichberechtigter Menschenwürde. Alain Finkielkraut fügt hinzu: „Keine Möglichkeit wird übersehen, eine Mühe gescheut, wenn es darum geht, Geist und Herz zu öffnen.“ Man beurteilt Philip Roth und Milan Kundera als zu sexistisch, um den Nobelpreis zu verdienen. Und man verdammt Vladimir Nabokovs „Lolita“ aus allen Lehrveranstaltungen der Universitäten. So kann man sich rühmen, niemanden mehr zu privilegieren und die Missetaten und Wunschvorstellungen der letzten Vertreter der patriarchalischen Gesellschaft zu verdammen. Der Bannstahl der neuen Moral und der Wille zur Umerziehung entspringen jedoch nicht dem „Tugendideal der Askese“, sondern einem „egalitären Ideal“. Man hütet sich übrigens, das Wort Tugend zu verwenden, weil man sich unbedingt vom Krieg gegen die Libido distanzieren will. Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.
Der Abstieg eines Landes vollzieht sich zunächst allmählich
Die Niedergangsphase eines geht normalerweise auf interne Konjunkturschwäche im Zusammenspiel mit innenpolitischen Konflikten zurück – oder auf kostspielige außenpolitische Konflikte oder beides. Ray Dalio weiß: „Im Regelfall vollzieht sich der Abstieg eines Landes zunächst allmählich und dann abrupt.“ Innenpolitisch nehmen die Schulden überhand und es kommt zu einem Konjunkturabschwung. Wenn das Land sich nicht länger das nötige Geld leihen kann, um seine Schulden zurückzuzahlen, führt das zu großen internen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und zwingt es, sich zwischen einem Staatsbankrott und dem Anwerfen der Druckerpressen zu entscheiden. In dieser Situation entschließt sich das Land fast immer dazu, eine Menge neues Geld zu drucken – erst nach und nach und schließlich mit aller Kraft. Ray Dalio ist Gründer von Bridgewater Associates, dem weltgrößten Hedgefonds. Er gehört mit zu den einflussreichsten Menschen der Welt.
Parteien und Medien sollten weithin zugänglich sein
Wie sollten intermediäre Institutionen, insbesondere Parteien und Medien, also idealerweise beschaffen sein, um ihre Funktionen für die Demokratie zu erfüllen? Jan-Werner Müller antwortet: „Sie sollten weithin zugänglich sein, und der Zugang darf nicht zu einem Privileg für ohnehin Bessergestellte werden. Sie sollten auf Fakten basieren, selbst wenn Fakten, wie Hannah Arendt bemerkte, stets fragil sind.“ Außerdem sollten sie autonom sein – das heißt, nicht auf korrupte Weise von mehr oder weniger verborgenen Akteuren abhängen. Sie müssen für alle Bürger relativ klar einzuschätzen sein, sodass sie von ihnen auch zur Rechenschaft gezogen werden können. Wie leicht sollte es beispielsweise sein, eine politische Partei zu gründen? Viele Länder verlangen eine Mindestzahl an Mitgliedern und den Nachweis einer ernsthaften Absicht, sich an Wahlen zu beteiligen. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.
Die Freiheit ist das bestimmende Kennzeichen der Demokratie
Den Begriff der Freiheit durchzieht von seiner griechischen Entdeckung her eine gewisse Spannung. Der Schritt, der von der einen zur anderen Seite führen kann, zeigt sich exemplarisch an der Existenz der Demokratie. Denn die Freiheit, sagt Aristoteles, ist ihr „bestimmendes Kennzeichen“. Christoph Menke ergänzt: „Die Freiheit definiert die Würdigkeit in der Demokratie – sie ist es, was die Demokratie hochschätzt, ja, worin sie nach Perikles ihr Glück sieht.“ Das kann auf zwei ganz verschiedene, ja entgegengesetzte Weisen verstanden werden. Das erste Verständnis ist politisch. Es definiert, so Herodot, die demokratische Freiheit als die „Herrschaft des Volkes“, durch die „Gleichberechtigung aller“. Demokratische Freiheit heißt, so erläutert Thukydides, dass „in den Streitigkeiten der Bürger alle ihr gleiches Teil“ haben. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.