Freiheit ist ein Hochwert der europäischen Kultur

Neben Demokratie ist sicher Freiheit ein Hochwert der europäischen Kultur und wurde auch erfunden im Kontext mit jener. Denn Demokratie setzt ja Wahlfreiheit voraus. Diese wiederum die Möglichkeit zur freien Wahl. Mithin ist Freiheit die Bedingung der Möglichkeit von Demokratie und Demokratie deren Erfüllung. Silvio Vietta ergänzt: „Es versteht sich, dass damit auch die anderen bisher genannten Werte: Eigenständiges Denken, Wahrheitsliebe, Kritikfähigkeit mit ins Boot gehören.“ Freiheit steht also im Kontext anderer Werte, die sie flankieren, und wiederum ist es Freiheit, die jene Werte erst möglich macht. Denn Freiheit bedeutet ja immer auch eine Entscheidung zwischen guten oder schlechten Alternativen, zwischen Wahrheit und Unwahrheit, damit kritisches, nämlich unterscheidendes Denken. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Der Krieg ist unvorhergesehen nach Europa zurückgekehrt

Herfried Münkler schreibt: „Nur an die unvorhergesehene Rückkehr des Krieges nach Europa, und zwar des großen Krieges zwischen Staaten, können und wollen sich die meisten Deutschen nicht gewöhnen: die einen, weil sie nicht wollen, dass ein das Völkerrecht missachtender Krieg erfolgreich ist; die anderen, weil der zwischenstaatliche Krieg die Gefahr einer weiteren, womöglich nuklearen Eskalation in sich trägt und bei seiner Fortdauer eine räumliche Ausweitung zu befürchten ist.“ Einige von ihnen fordern, den Krieg möglichst umgehend durch Verhandlungen zu beenden, andere wollen dies sogar durch die Einstellung der deutschen Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine erzwingen, wobei sie darauf setzen, dass die Ukraine innerhalb kürzester Zeit kapitulieren müsse. Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Imperien“ oder „Die Deutschen und ihre Mythen“.

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Russland und China wollen den Gang der Geschichte beeinflussen

Eine neue bi- oder tripolare Welt dürfte von einer stärkeren Partnerschaft zwischen Russland und China geprägt sein. Hans-Jürgen Jakobs stellt fest: „Beide Rohstoff-Monopolmächte verfolgen ihre eigenen Welteroberungsstrategien, beide stehen fest im Widerstand gegen die „regelbasierten Systeme“ des Westens mit unabhängiger Rechtsprechung, demokratischer Teilhabe und starken Institutionen, die in einem Gleichgewicht von „checks und balances“ nach Lösungen suchen.“ Solche Gewaltenteilung passt nicht zu den eigenen autokratischen Vorstellungen. Sie laufen im Falle von Russland auf einen Oligarchen-Kapitalismus hinaus, im Falle von China auf einen Daten- und Fortschritts-Kommunitarismus. Beide Länder nutzen dabei ihre strategischen Monopole, um den Gang der Geschichte zu beeinflussen – und zeigen wenig Skrupel, Wirtschaftspolitik als Machtpolitik und als Außenpolitik einzusetzen. Hans-Jürgen Jakobs ist Volkswirt und einer der renommiertesten Wirtschaftsjournalisten Deutschlands.

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Massenhaftes Reisen prägte seit den 1960er Jahren Europa

Das Europa der Gegenwart unterscheidet sich von allen früheren Europas durch eine revolutionäre Veränderung: das exponentielle Wachstum von massenhaftem Reisen und Kommunikation seit den 1960er Jahren. Zwar unternahmen junge Engländer der Oberschicht im 18. Jahrhundert die Grand Tour und besuchten ausgewählte kulturelle Sehenswürdigkeiten auf dem Weg nach Rom. Timothy Garton Ash fügt hinzu: „Im späten 19. Jahrhundert bereisten Touristen der Mittelschicht aus wohlhabenden Ländern die europäischen Nachbarländer, oft unter Nutzung neu gebauter Eisenbahnlinien.“ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trafen sich europäische Gentlemen – manchmal in Begleitung ihrer Damen – in Kurbädern, Landhäusern und auf Rennbahnen. Später sahen sie sich im tödlichen Kampf wieder, wie die adligen deutschen und französischen Offiziere in „Die große Illusion“, Jean Renoirs großartigen Film über den Ersten Weltkrieg. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Die Zukunftsprognosen für Europa sind momentan nicht gut

Europa bietet momentan keine echt positiven Zukunftsprognosen. Florence Gaub erklärt: „Stattdessen hofft man, eine negative Zukunft zu vermeiden: eine, in der unsere Jobs weggenommen werden, in der die Temperaturen steigen, in der die Werte sich verändern.“ Egal wie man inhaltlich dazu steht, die europäische Zukunft wird bestenfalls als Status quo oder als gebremste Rückkehr zur Vergangenheit beschrieben, ebenso wie die amerikanische, die verspricht, alles „great again“ zu machen. Und natürlich würden die meisten demokratischen Regierungen nicht im Traum daran denken, irgendwelche Aussagen für 2030 zu machen, geschweige denn für 2050, wenn sie schon längst nicht mehr an der Macht sind. Das Problem bei einer solchen Nichtzukunft ist, dass es keine richtige ist. Dr. Florence Gaub ist Politikwissenschaftlerin, Militärstrategin und Zukunftsforscherin. Sie leitet als Direktorin den Forschungsbereich NATO Defense College in Rom.

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Vor zwanzig Jahren hatten die Grenzen an Bedeutung verloren

Herfried Münkler schreibt: „Vor wenigen Jahren noch hätte man ein Buch über die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt mitsamt den politischen Herausforderungen, denen sich die Deutschen stellen müssen, kaum mit einem Widerstreit der großen Mächte oder einem Umbruch der Macht in Verbindung gebracht.“ In einer vor zehn oder zwanzig Jahren verfassten Darstellung hätte das Thema des Bedeutungsverlusts von Grenzen und Grenzregimen dominiert, des Weiteren der ständig wachsende Austausch von Gütern und Wissen im globalen Rahmen. In der Darstellung hätte auch nicht die Vorbildfunktion von Schwellenländern bei der Überwindung von Armut und Rückständigkeit gefehlt, und das alles wäre obendrein von der Vorstellung des Fortschritts als analytischer Leitidee durchdrungen gewesen. Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Imperien“ oder „Die Deutschen und ihre Mythen“.

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Die Europäer schufen die Hölle auf Erden

Den Menschen ist es nie gelungen, den Himmel auf Erden zu errichten, auch – oder gerade – wen sie es versucht haben. Timothy Garton Ash weiß: „Dafür haben sie immer wieder die Hölle auf Erden geschaffen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Europäer das ihrem eigenen Kontinent angetan, so wie sie es in früheren Jahrhunderten den Kontinenten anderer Völker angetan hatten. Niemand anderes hat es für uns getan.“ Es war europäische Barbarei, von Europäern begangen an Europäern – und oft im Namen Europas. Man kann erst dann ansatzweise verstehen, was Europa seit 1945 zu tun versucht, wenn man von dieser Hölle weiß. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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In „ZeitenWenden“ seziert Ulrike Guérot den Zerfall der Gegenwart

Das neue Werk „ZeitenWenden“ von Ulrike Guérot ist ihr freistes Buch, denn sie hat, wie die großartige Janice Joplin damals gesunden hat, nicht mehr viel zu verlieren, „nothing left to lose“. In „ZeitenWenden“ seziert die Autorin den geistigen, politischen und gesellschaftlichen Zerfall der Gegenwart. Ulrike Guérot schreibt gegen das Vergessen, das Wegsehen, und die Lüge – und für die Rückbesinnung auf Vernunft, Mut und bürgerlicher Verantwortung. Es sind die Intellektuellen oder die Kulturschaffenden, die mit Trigger-Warnungen und Ähnlichen die Infantilisierung der Gesellschaft mitbetreiben und dabei Grundprinzipien des Humanismus verraten, zum Beispiel, das wehrhafte, mündige aufgeklärte Bürger, was sie tun. Die „Shitbürger“, wie Ulf Poschardt schreibt, sind es auch, die Anstand, Fleiß und Ehrlichkeit verraten haben, aus denen aber der Kitt gemacht ist, der eine Republik zusammenhält.

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Europas zeichnet eine enorme Vielfalt als auch Gemeinsamkeiten aus

Timothy Garton Ash schreibt: „Ist Europa also in Vielfalt geeint? Ja, aber auch geteilt in seinen tiefsten Gemeinsamkeiten. Das gilt auch für seine Imitationen Roms. Diese Europa prägende Gewohnheit begann unmittelbar nach dem, was man gemeinhin den Untergang des Römischen Reiches nennt.“ Im Jahr 500 n. Chr. stattete der gotische Kriegerkönig Theoderich von seiner eigenen Hauptstadt Ravenna aus – dem damaligen Hauptquartier der Armee des Römerreichs – Rom einen triumphalen Besuch ab. Er machte zunächst an der Kirche St. Peter Station, wo sich das Grab des Anführers der Apostel Christi befand, und wandte sich dann an den immer noch existierenden römischen Senat und versprach, er werde mit Gottes Hilfe alles unverbrüchlich bewahren, was römische Herrscher der Vergangenheit angeordnet hätten. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Der Bürgersinn hängt vom Funktionieren des Staates ab

Die Karibik und Nordafrika sind zwei Welten. Europa ist seinerseits das verblüffende Nebeneinander – und oft das Miteinander – gegensätzlicher Denkwelten. Roger de Weck stellt fest: „Die sehr verschiedenen Mentalitäten färben auf die Demokratien ab, die sehr verschiedenen Demokratien wirken auf die Mentalitäten ein. Und der Bürgersinn hängt wesentlich davon ab, wie der Staat funktioniert.“ Nordeuropa bejaht hohe Steuern und eine starke Umverteilung in dem Wissen, dass die öffentliche Hand das Geld verhältnismäßig wirksam einsetzt. Italien hat eine umso schwärzere Schwarzwirtschaft, als ein Teil des Steueraufkommens versickert, ob es nun verschwendet wird oder verschwindet. Deshalb hat das Land eine weltweit wohl einzigartige Finanzpolizei, die Guardia di Finanzá mit gut 60.000 Uniformierten. Sie bekämpft die Zoll- und Wirtschaftskriminalität, mit Hauptaugenmerk auf die Steuerhinterziehung. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

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Martin Luther veränderte Europa

Es musste vieles zusammenkommen, damit es in Deutschland, ähnlich und doch ganz anders als in der Renaissance in Italien, zu jenem reformatorischen Umbruch kam, der ganz Europa verändern sollte. Neben den vielen Umständen, die ihm zuarbeiteten, war eine entscheidende Voraussetzung doch der Auftritt eines Einzelnen. Nämlich jenes Mönches Martin Luther aus Wittenberg, der Epoche machte, bloß weil er ein persönliches Verhältnis zu einem, nein, zu seinem Gott suchte. Rüdiger Safranski ergänzt: „Was zusammengekommen war: die Konflikte zwischen den erstarkenden Territorialstaaten und den universalen Traditionsmächten Papst und Kaisertum. Verweltlichung der Kirche, verschwenderische Hofhaltung der Kirchenfürsten.“ Zudem die Bestechlichkeit der Kurie, Veräußerlichung des Glaubens durch Reliquien- und Ablasshandel sowie die Bedrohung des Reiches von außen durch die Türken. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

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Im 19. Jahrhundert herrschte eine große Fortschrittsgläubigkeit

Jede einzelne menschliche Verhaltensweise erwächst mehr oder weniger kausal bedingt, entsprechend den Faktoren von „la race, le milieu, le moment“. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Auch wenn sie uns etwas gewollt und schematisch anmutet – die Verwissenschaftlichung der Künste ist ein prägender Faktor der Moderne. Und das damit verbundene Menschenbild bis in die Gegenwart gültig geblieben.“ Es erreicht möglicherweise im Kontext der Diskussion um die Grenzen und Möglichkeiten gentechnischer Manipulierbarkeit und des Einsatzes künstlicher Intelligenz sogar einen neuen Höhepunkt. Bei all der Innovationskraft und Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts darf man nicht vergessen, dass diese Dynamik sich paradoxerweise innerhalb eines rigiden Systems von gesellschaftlichen Regularien und Regeln der Repräsentation abspielte. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Viele Intellektuelle kehren 1949 nach Europa zurück

Theodor W. Adorno war im Jahr 1949 aus dem Exil in den USA ins alte Europa zurückgekehrt. Und mit ihm die allzu menschliche Aussicht auf einen erneuten Anfang: existenziell, institutionell, philosophisch. Freilich, die eigentlich entscheidenden Fragen standen aus. Wolfram Eilenberger stellt fest: „Noch hatte Adorno keinen Fuß auf deutschen Nachkriegsboden gesetzt. Wobei mehr als fraglich war, was das im Jahr 1949 noch bedeuten sollte: Deutschland.“ Theodor W. Adorno ist Teil einer ganzen Welle von Intellektuellen, die 1949 aus dem Exil erstmals wieder ins Land des Hitlerismus zurückkehrten. Unter ihnen Hannah Arendt, Ernst Bloch, Ludwig Marcuse sowie, als strahlkräftigste Verkörperung der Kulturnation: Thomas Mann. Wolfram Eilenberger war langjähriger Chefredakteur des „Philosophie Magazins“, moderiert die „Sternstunde Philosophie“ im Schweizer Fernsehen und ist Mitglied der Programmleitung der phil.COLOGNE.

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Das mythische Vaterland gewinnt eine unbekannte Bedeutung

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Europa zerrissener und zugleich sehnsüchtiger nach Zusammengehörigkeit denn je. Die Situation war dabei extrem angespannt und bis zu einem gewissen Grade widersprüchlich. Jürgen Wertheimer erläutert: „Wenn ein Kollektiv im Begriff ist, sich als Nation – oder wie in Frankreich als Republik – eben erst selbst zu entdecken, ist es notwendigerweise eher an mentaler Abgrenzung interessiert als am Entdecken von Gemeinsamkeiten.“ Das mythische Vaterland, „la patria, la patrie“, erlangte im Kontrast zum transkulturellen, frei flottierenden Kosmopolitismus der Aristokratie eine bis dahin unbekannte Bedeutung. Die fatale Formel von „Blut und Boden“ geht auf Umwegen zumindest motivisch auf das Ideenarsenal der bürgerlichen Revolution und der Nationenbildung zurück. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Europa ist immer es selbst geblieben

Es gibt wohl keinen zweiten Kontinent, der so oft seine Haut gewechselt hat wie Europa und gerade dadurch immer er selbst geblieben ist. Der Blutgeruch der Revolution war noch nicht verflogen, da begann die Blaue Blume der Romantik zu erblühen. Jürgen Wertheimer ergänzt: „Und während deren Dichter und Künstler schwärmerisch die Mythen aus grauer Vorzeit besangen, hatte – nicht nur in England – bereits das industrielle Zeitalter mit Massenproduktion und der Mechanisierung der Arbeit Einzug gehalten.“ Maschinenparks und Menschenmassen auf der einen, der Traum vom Individuum und seiner Autonomie auf der anderen Seite. Und all dies nahezu simultan und zum Teil ineinander übergehend. Auch wenn man sich daran gewöhnt hat, in mehr oder weniger säuberlich voneinander getrennten Epochen und Perioden zu denken. Die Wirklichkeit sieht wesentlich komplizierter aus. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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In Europa ist der Sozialstaat eher großzügig

Auch in europäischen Ländern mit ihrem großzügigen Sozialstaat gibt es einen Konflikt zwischen sinkenden Realeinkommen und steigenden Konsumerwartungen. Statt die Bürger in die Verschuldung zu treiben, übernehmen sie die Kosten einer Vielzahl von Dienstleistungen. Nouriel Roubini erklärt: „Gesundheit, Bildung, Rente, Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe landen in der Bilanz des Staats, nicht der privaten Haushalte, wobei die Steuereinnahmen nicht mit den Ausgaben mithalten.“ Dank dieser bürgerfreundlichen Politik steigen das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung schneller als die private Verschuldung. Auch wenn die Vereinigten Staaten seit jeher weniger gewillt sind, die Kosten für Sozialleistungen zu tragen, schlugen auch sie während der Finanzkrise und der Coronapandemie jede Zurückhaltung in den Wind. Nouriel Roubini ist einer der gefragtesten Wirtschaftsexperten der Gegenwart. Er leitet Roubini Global Economics, ein Unternehmen für Kapitalmarkt- und Wirtschaftsanalysen.

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Die Lehren aus den Weltkriegen bestachen in ihrer Einfachheit

Patriotisch zogen die Menschen in den Ersten Weltkrieg, im Bann eines neuerlichen Nationalismus folgte der Zweite und der Holocaust. Roger de Weck stellt fest: „Danach war das Trauma so schwer, dass es die Menschen nachhaltiger zur Vernunft anhielt als sonst üblich. Überdies stieg die Lebensdauer. Leidtragende konnten länger als vorangegangene Kohorten die abschreckende Erfahrung der Gewalt ihren Kindern und Enkeln vermitteln.“ Und die zivilisatorischen Lehren aus der Katastrophe waren von genialer Einfachheit: Rücksicht auf die Schwächeren, also soziale Marktwirtschaft, und Rücksicht auf die Nachbarn, also europäische Einigung. Das setzte den Rahmen für Kompromisse, damit Konflikte nicht abermals eskalierten, weder innerhalb der Länder noch unter den Nachbarn. Da entfaltete sich die ganze Kraft der Demokratie. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

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Fakten führen zu einem besseren Verständnis der Welt

In seinem Buch „Zahlen lügen nicht“ hat Vaclav Smil alle Themen versammelt, die er seit den 1970er Jahren in vielen seinen Büchern behandelt hat. Dazu zählen Menschen, Bevölkerungen und Länder, Energieverbrauch und technische Innovationen, Maschinen und Geräte, welche die moderne Zivilisation definieren. Obendrein liefert „Zahlen lügen nicht“ am Ende noch einen faktenbasierten Ausblick auf die Nahrungsversorgung und Essgewohnheiten der Menschheit sowie auf den Zustand und Niedergang der Umwelt. Zuerst und vor allem ist es ein Anliegen dieses Buches, die Fakten zu klären. Alle genannten Zahlen stammen aus Primärquellen. Vaclav Smil betont: „Um verstehen zu können, was in unserer Welt wirklich vor sich geht, müssen wir im nächsten Schritt die Zahlen in den jeweils zughörigen historischen und internationalen Kontext einbetten.“ Vaclav Smil ist Professor für Umweltwissenschaften an der University of Manitoba.

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Soziale Unzufriedenheit verursacht keine Revolutionen

Christopher Clark befasst sich in seinem neuen Buch „Frühling der Revolution“ mit den Gesellschaften Europas vor 1848. Dabei liegt das Augenmerk auf Bereichen der Repression, Verdrängung, Unterdrückung und des Konflikts. Christopher Clark stellt fest: „Soziale Unzufriedenheit „verursacht“ keine Revolutionen – wenn sie das täte, käme es viel häufiger zu Revolutionen.“ Dennoch war die materielle Not der Europäer Mitte des 19. Jahrhunderts der unverzichtbare Hintergrund für jene Prozesse der politischen Polarisierung, welche die Revolutionen erst ermöglichten. Sie war ausschlaggebend für die Motivation vieler Teilnehmer an städtischen Unruhen. Ebenso wichtig wie die Realität und das Ausmaß des Leids waren die Mittel und Wege, mit denen diese Ära soziale Missstände wahrnahm und einordnete. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens.

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Werte beeinflussen die Wirtschaft

Der Drohung mit einem Handelskrieg liegen einige grobe Missverständnisse im Welthandelssystem zugrunde. Diese betreffen nicht nur diejenigen, die aufgrund der Art und Weise wie man es managte, Wohlstandseinbußen erlitten. Joseph Stiglitz stellt fest: „Viele Verfechter der Globalisierung nahmen an, einem Freihandelssystem könnten Länder mit völlig unterschiedlichen Wertesystemen angehören. Werte beeinflussen unsere Wirtschaft – und unseren komparativen Vorteil – in tiefgreifender Weise.“ Es kann sein, dass eine weniger freie Gesellschaft auf einem bedeutenden Gebiet, etwa Künstliche Intelligenz, überlegen ist. Big Data ist hier sehr wichtig, und China hat weniger Hemmungen, Daten zu sammeln und zu nutzen. Als die USA und Europa vor rund 25 Jahren ihren Handel mit China ständig ausweiteten, hoffte man, dass dadurch der Prozess der Demokratisierung beschleunigt würde. Joseph Stiglitz war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford. Er wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.

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Das Ende des Kalten Krieges ging tendenziell gewaltfrei vonstatten

Nach dem überraschenden Ende des Kalten Krieges, der Europa vier Jahrzehnte lang in Bann gehalten hatte, schien vieles möglich, was zuvor als ausgeschlossen galt. Denn die Umwälzung dieses Ausmaßes ging tendenziell gewaltfrei vonstatten. Zudem konnte ein waffenstarrendes System buchstäblich über Nacht implodieren. Die Politik löste die eben noch schwer bewachten Grenzen mit einer nie erlebten Leichtigkeit auf. Herfried Münkler fügt hinzu: „Die bewaffnete Konfrontation beider Blöcke hatte sich binnen weniger Monate in nichts aufgelöst, und die vormaligen Feindschaften erschienen mit einem Mal als ein einziges großes Missverständnis.“ Von diesem wusste im Nachhinein keiner mehr so recht zusagen, weswegen es eigentlich so lange das politische Denken und Empfinden beider Seiten bestimmt hatte. Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Imperien“ oder „Die Deutschen und ihre Mythen“.

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Die Moderne umfasst drei Phasen

Generell lässt sich die Geschichte der Moderne in drei Phasen einteilen: die der bürgerlichen Moderne, der organisierten Moderne und der Spätmoderne. Andreas Reckwitz erläutert: „Die bürgerliche Moderne als erste Version der klassischen Moderne verdrängt in Europa und Nordamerika im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts allmählich die traditionelle Feudal- und Adelsgesellschaft.“ Die frühe Industrialisierung, die Aufklärungsphilosophie, und die Verwissenschaftlichung, die Entstehung von überregionalen Warenmärkten und kapitalistischen Produktionsstrukturen, die allmähliche Verrechtlichung und Demokratisierung, die Urbanisierung und die Ausbildung des Bürgertums als kulturell tonangebende Klasse mit Ansprüchen der Selbstdisziplin, der Moral und der Leistung lassen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft eine soziale Logik des Allgmeinen entstehen. Überall setzten sich die technische, die kognitive und die normative Rationalisierung allmählich durch. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die Revolutionen von 1848 sind in Wirklichkeit nicht gescheitert

In seinem neuen Buch „Frühling der Revolution“ stellt Christopher Clark die These auf, dass die Revolutionen von 1848 in Wirklichkeit nicht gescheitert sind. In vielen Ländern bewirkten sie einen zügigen und dauerhaften konstitutionellen Wandel. Außerdem sorgten die Revolutionen für tiefgreifende Veränderungen in politischen und administrativen Verfahren auf dem ganzen Kontinent. Dabei handelte es sich gewissermaßen um eine europäische „Revolution in der Regierung“. Christopher Clark fügt hinzu: „In ihrer Intensität und geographischen Reichweite waren die Revolutionen von 1848 einzigartig – zumindest in der europäischen Geschichte.“ Denn im Jahr 1848 brachen politische Unruhen zeitgleich auf dem ganzen Kontinent aus. In gewisser Weise handelte es sich jedoch auch um einen globalen Aufstand, oder anders gesagt, einen europäischen Aufstand mit globaler Dimension. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens.

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Jede nationale Geschichte Europas hat denselben Grundgedanken

Persönliche Erinnerungen, angefangen mit denen an die Hölle, die sich die Europäer auf Erden geschaffen haben, gehören zu den stärksten Triebkräften für alles, was Europa seit 1945 getan hat und geworden ist. Timothy Garton Ash nennt das den Erinnerungsmotor. Mehrere Generationen von Baumeistern Europas haben den Kontinent zu dem gemacht, was er zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist. Wenn man sich anschaut, welche Argumente man für die europäische Integration in den verschiedenen Ländern von den 1940er bis zu den 1990er Jahren vorbrachte, scheint jede nationale Geschichte auf den ersten Blick sehr unterschiedlich zu sein. Aber wenn man etwas tiefer gräbt findet man immer denselben Grundgedanken. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Die westliche Wissenschaft lebt von vielen Einflüssen

Wichtig ist für Amartya Sen die Erkenntnis, dass sich die sogenannte westliche Wissenschaft auf das Erbe der gesamten Menschheit stützt: „Es besteht ein Traditionszusammenhang zwischen der Mathematik und Wissenschaft des Westens und frühen nicht-westlichen Vorläufern. So gelangte das Dezimalsystem, das in den ersten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends in Indien entwickelt wurde, gegen Ende des Jahrtausends über die Araber nach Europa.“ Zu Wissenschaft, Mathematik und Philosophie haben viele Einflüsse aus nichtwestlichen Gesellschaften – u.a. der chinesischen, der arabischen, der persischen, der indischen – beigetragen. Diese spielten erst in der Renaissance und später in der Aufklärung in Europa eine bedeutende Rolle. Der Westen spielt also beim weltweiten Aufblühen von Wissenschaft und Technik nicht als einziger eine führende Rolle. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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