Politische Umwälzungen hat es schon immer gegeben

Politische Umwälzungen wie die heutigen, die Familien und Freundschaften zerreißen, gesellschaftliche Klassen spalten und Bündnisse sprengen, hat es schon immer gegeben. Ein besonders lehrreiches Beispiel ist eine Affäre im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dieses nahm viele Debatten des 20. Jahrhunderts vorweg und hält noch den Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts einen Spiegel vor. Anne Applebaum blickt zurück: „Die Dreyfus-Affäre begann 1894 mit der Erkenntnis, dass es in den Reihen der französischen Armee einen Verräter geben musste. Irgendjemand gab Informationen an die Deutschen weiter, die gut zwei Jahrzehnte zuvor Frankreich besiegt und die Departments Elsass und Lothringen besetzt hielten.“ Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

Weiterlesen

Unterdrückung passt nicht mehr in diese Welt

Die Menschheit lebt heute in einer globalisierten und digitalisierten Welt, die immer weiter zusammenrückt. In diese Welt passen die unterdrückenden Systeme nicht nur nicht mehr, sondern die Unterdrückten wehren sich ach stärker dagegen. Hadija Haruna-Oelker fügt hinzu: „Diese Menschen tun das im Foucaultschen Sinn und lassen sich nicht mehr zu Gefangenen unserer Geschicke machen.“ Menschenfeindliche Strukturen sind jedoch hartnäckig und das negative Bild einer Differenz spielt bereits im frühen Kindesalter eine Rolle. Es ist eine große und Generationenaufgabe, diese Situation zu verändern. Deshalb ist es Hadija Haruna-Oelker im Zusammenhang mit der Sozialisation und Prägung wichtig, über Kinder als die zukünftige Generation zu sprechen. Hadija Haruna-Oelker lebt als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Hauptsächlich arbeitet sie für den Hessischen Rundfunkt.

Weiterlesen

Soziale Verbundenheit könnte ein Idealzustand sein

Das Assimilationsideal strebt nach sozialem Zusammenhalt, opfert aber dafür das Bedürfnis des Einzelnen, mit seiner Herkunftsgemeinschaft in Verbindung zu bleiben. Das Multikulturalismusideal wertet diese Verbindung zu diesen Herkunftsgemeinschaften auf Kosten sowohl eines vernünftigen Identitätsverständnisses als auch der wertvollen Fluidität sozialer Bindungen auf. Danielle Allen stellt fest: „Das Ideal sozialer Verbundenheit und einer vernetzten Gesellschaft wart dagegen die Autonomie.“ Eine Assoziationsökologie, die das Bauen von Brücken maximiert, sollte egalitäre Effekte mit sich bringen. Zudem sollte sie die Wahrscheinlichkeit minimieren, dass soziale Differenz sich mit Herrschaft verknüpft. Damit hat Danielle Allen ein soziales Prinzip der Organisation formuliert. Danielle Allen ist James Bryant Conant University Professor an der Harvard University. Zudem ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

Weiterlesen

Die Kluft zwischen arm und reich steigt

Extreme Ungleichheit ist kein Naturgesetz. Sie ist die Folge einer Politik, die Profite vor Menschen stellt. Um Ungleichheit zu reduzieren, müssen Regierungen für eine faire Besteuerung sorgen. Zudem müssen sie in öffentliche soziale Dienste investieren und die Benachteiligung von Frauen beseitigen. Klaus Peter Hufer weiß: „Die Kluft zwischen Arm und Reich steigt nicht nur weltweit, sondern auch innerhalb der reichen Länder des Westens und des Nordens.“ Im Jahr 2018 verfügten 26 Personen über ebenso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das sind 3,8 Milliarden Menschen. Der britische Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier stellt fest: „Der Kapitalismus löst sein wichtigstes Versprechen – einen ständig steigenden Lebensstandard für alle – immer weniger ein. Einige profitieren weiterhin, aber andere wurden abgehängt.“ Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.

Weiterlesen

Soziale Differenzen führen leicht zu Herrschaft

Eine grundlegende Äußerungsform der Vereinigungsfreiheit ist das Recht zu heiraten, wen man möchte. Danielle Allen erklärt: „Wenn in Zuneigung zueinander verbundene Menschen sich zu Ehepartnern zusammenfinden, bilden sie Bausteine zu kulturell homogenen Einheiten.“ Unabhängig davon, wie Heiratsmärkte genau beschaffen waren, haben sie normalerweise unterscheidbare ethnische Gemeinschaften hervorgebracht. Und es besteht aller Grund zu der Annahme, dass Vereinigungsfreiheit dieses Muster eher verstärkt als untergräbt. Denn einander ähnliche Menschen neigen dazu, sich zueinander zu gesellen. Diese Tatsache zählt zu den Grundbausteinen der menschlichen Sozialorganisation. Wo es soziale Differenzen gibt, kann es leicht auch zu Herrschaft kommen. Die Politikwissenschaftlerin und Altphilologin Danielle Allen lehrt als Professorin an der Harvard University. Zugleich ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

Weiterlesen

Widerständler berufen sich auf höhere Werte

Es bildet sich immer wieder Widerstand gegen ein Herrschaftsregime beziehungsweise Staatssystem, das Menschen aus moralischen Gründen ablehnen oder als illegitim oder gar illegal ansehen. Klaus-Peter Hufer ergänzt: „Das Ziel ist, die Obrigkeit, die Machthaber, die Usurpatoren des Systems abzuschaffen und eine Neuordnung herbeizuführen.“ Das positive, also gesetzte Recht lehnen Widerständler unter Berufung auf höhere Werte ab, Loyalität zum Regime lehnen sie ebenfalls ab. Der Aufruf zum Widerstand kann man mit hohen moralischen Werten und ethischen Prinzipien begründen. Aber nicht jeder, der „Widerstand“ ruft, sehnt sich nach einer liberalen und demokratischen Gesellschaft. Zum Widerstand fordern auch jene auf, die gegen eine solche Gesellschaft sind und sie bekämpfen. Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.

Weiterlesen

Tatbestand kann unterschiedliche Bedeutungen haben

Das Wort „Tatbestand“ erscheint den meisten Nichtjuristen als Inbegriff eines juristischen Begriffs. Es wird nicht selten mit der angeblichen Lebensfremdheit und Umständlichkeit, gern auch mit Spitzfindigkeit von Juristen assoziiert und in eins gesetzt. Thomas Fischer stellt fest: „Der Tatbestand ist der Schrecken all derer, die sich vom Strafrecht vor allem und sofort Gerechtigkeit im ganz persönlichen Fall und für ihr Anliegen erwarten.“ Aber wie meistens ist es so einfach nicht. Denn der Tatbestand als Rettung vor der puren Willkür ist so tief im Bewusstsein der deutschen Kultur verankert, dass selbst die dezidiert pure Willkür ihn noch als Legitimationsfigur missbrauchen muss. „Tatbestand“ kann, sogar in der Rechtssprache, unterschiedliche Bedeutungen haben. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Weiterlesen

Die Welt ist voller Ungleichheiten

Ist es unfair, dass einige Menschen reich geboren werden und andere arm? Und falls es unfair ist, sollte man etwas dagegen tun? Thomas Nagel betont: „Die Welt ist voller Ungleichheiten – innerhalb eines Landes und im Verhältnis der Länder untereinander.“ Einige Kinder wachsen in einem komfortablen und wohlhabenden Zuhause auf. Sie bekommen eine gute Ernährung und eine ausgezeichnete Ausbildung. Andere Kinder leben in Armut, haben nicht genug zu essen. Und sie haben zu keinem Zeitpunkt Zugang zu einer nennenswerten Ausbildung oder medizinischen Versorgung. Dies ist offenbar Glückssache. Menschen sind für die soziale und ökonomische Klasse sowie für das Land, in dass sie hineingeboren werden, nicht verantwortlich. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel lehrt derzeit unter anderem an der University of California, Berkeley und an der Princeton University.

Weiterlesen

Eine gerechte Gesellschaft sehnt sich nach Erlösung

Heinz Bude stellt fest: „Für die gerechte Gesellschaft gibt es kein Bild mehr, an dem man sich mit Aristoteles oder Thomas von Aquin orientieren könnte.“ Dabei handelt es sich um eine komplexe Gefügeordnung von Gruppen mit jeweils bestimmten Aufgaben oder eine einsichtige Stufenordnung der Welt. Diese ist auf eine Idee von Erlösung ausgerichtet. Das Befinden über Gerechtigkeit folgt einem Verfahren, für das man ideale Bedingungen einer unparteilichen Beurteilung festlegt. Unter einem moralischen Gesichtspunkt kann man dann genau diejenigen Normen als gültig auszeichnen, die alle wollen könnten. Das könnten beispielsweise Bestimmungen über die Symmetrie von Einkommen sein. Aber auch Regelungen über Determinanten gefährdeter Lebenslagen oder über Ausgleichszahlungen für genau definierte Risikogruppen. Seit dem Jahr 2000 ist Heinz Bude Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

Weiterlesen

Martha Nussbaum fordert Gerechtigkeit

Um die Frage, was für ein gutes Leben wichtig ist, geht es Martha Nussbaum und Amartya Sen, die den „capabilities“-Ansatz maßgeblich entwickelt haben. Katia Henriette Backhaus erklärt: „Nussbaum versteht ihre Variante als Teil des politischen Liberalismus. Es gibt jedoch grundlegende Unterschiede zur Debatte um „greening liberalism“. Soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und die Lebensqualität stehen im Kern von Martha Nussbaums Überlegungen, die sich darum drehen, was eine Person fähig ist, zu tun und zu sein. Davon ausgehend bildet sie ihre Gerechtigkeitstheorie. Eine Kombination interner Fähigkeiten und externer Möglichkeiten macht den umfassenden Charakter dieses Ansatzes aus. Dieser fordert von Gesellschaft und Staat, diese beiden Aspekte menschlicher „capabilities“ zu gewährleisten. Katia Henriette Backhaus hat an der Universität Frankfurt am Main im Bereich der politischen Theorie promoviert. Sie lebt in Bremen und arbeitet als Journalistin.

Weiterlesen

Politische Gleichheit erfordert Gegenseitigkeit

Eine Komponente von politischer Gleichheit betrifft egalitäre Praktiken der Gegenseitigkeit. Danielle Allen erläutert: „Für gerechte menschliche Beziehungen ist die Art von Gleichheit erforderlich, die sich in Gegenseitigkeitsprinzipien äußert.“ Solche Prinzipien bilden die Grundlage für Interaktionen. Durch diese erlangen sowohl Freude als auch Mitbürger in ihren Beziehungen zueinander gleiche Handlungsmacht. Folgendes gilt sowohl für die Freundschaft als auch für die Politik. Alle Beteiligten möchten über einen Handlungsspielraum verfügen, der keine Einschränkungen durch andere erfährt. Das Erlangen von Freiheit beruht auf einer egalitären Verpflichtung zur ständigen Neujustierung, mit deren Hilfe Beeinträchtigungen behoben werden können. Die Verfahren zur Problemlösung eines freien Volkes stützen sich auf diese Art von egalitärer Grundlage, auf Gewohnheiten der Gegenseitigkeit. Die Politikwissenschaftlerin und Altphilologin Danielle Allen lehrt als Professorin an der Harvard University. Zugleich ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

Weiterlesen

Vier Tugenden führen zu einem guten Leben

Es ist immer gut, wenn man mit sich im Reinen, oder wie Aristoteles sagt, „befreundet“ ist. Denn dann kann man besser angemessen mit den eigenen Bedürfnissen und den Anforderungen der Welt umgehen. Und wie erlangt man Vortrefflichkeit? Richard David Precht antwortet: „Indem man nach Tugenden strebt, allen voran nach Gerechtigkeit, nach Weisheit, nach Tapferkeit und nach Mäßigung. Diese vier Leitsterne leuchten dem Menschen aus, was es heißt, ein gutes Leben zu führen.“ Und je stärker man sich an ihnen orientiert, umso mehr nimmt man sie in sich auf und modelliert damit seinen Charakter. Diese Vorstellung herrschte zumindest in der Antike vor. So weit, so persönlich und so individuell. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Weiterlesen

Der Liberalismus muss sich reflexiv regenerieren

Im Zeitalter der Philosophen, der Aufklärung, geboren, hält der neuzeitliche Liberalismus ein weiteres Element für unverzichtbar. Zum Erfahrungsbezug, zu dem legitimatorischen Individualismus und dem freien Spiel der Kräfte innerhalb von Verfassung und Recht tritt eine handlungsrelevante Selbstkritik, sichtbar im Willen, sich angesichts neuer Herausforderungen zu verändern. Otfried Höffe stellt klar: „Ohne dieses Element, eine reflexive Regeneration ist der Liberalismus nicht zukunftsfähig; vor allem verdient er ohne es nicht, als aufgeklärt zu gelten.“ So hat sich der in Europa dominante Liberalismus längst um politische Mitwirkungsrechte und um freiheits- und demokratiefunktionale Sozialrechte erweitert. Otfried Höffe fordert die Grundelemente des Liberalismus in einer interkulturell verständlichen Sprache zu legitimieren. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

Weiterlesen

Eine Differenz ohne Herrschaft ist möglich

In der Welt der Ökonomie liegt der Schwerpunkt der politischen Entscheidungsfindung im Allgemeinen nicht auf Grund und Boden, sondern auf Arbeitskraft und Kapital. Danielle Allen stellt sich dabei die Frage, wie eine Ökonomie aussehen muss, die für Differenz ohne Herrschaft sorgt. Und wie man die gleichen Grundfreiheiten schützen könnte. Das Streben nach Differenz ohne Herrschaft macht ihrer Meinung nach auch in der Welt der Ökonomie nicht zwangsläufig die Schaffung von neuen politischen Programmen und oder Maßnahmen notwendig. Viele der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Ansätze sind nach Maßgabe eines Bildes von Gerechtigkeit strukturiert, das sein Augenmerk in erster Linie auf die Verteilung materieller Güter richtet. Die Politikwissenschaftlerin und Altphilologin Danielle Allen lehrt als Professorin an der Harvard University. Zugleich ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

Weiterlesen

Ohne Mitgefühl gibt es keine Solidarität

Solidarität kann man nicht mit Barmherzigkeit gleichsetzen. Obwohl schwer vorstellbar ist, dass Solidarität ohne Mitgefühl möglich ist. Zudem kann man Solidarität nicht einfach nur als Sammelbezeichnung für menschliche Freundlichkeit, allgemeines Wohlwollen und sozialstaatliche Folgebereitschaft verwenden. Heinz Bude erläutert: „Solidarität berührt mein Verständnis von Zugehörigkeit und Verbundenheit. Zudem meine Bereitschaft, mich den Nöten und dem Leiden meiner Mitmenschen zu stellen. Und mein Gefühl der Verantwortung und Bekümmerung für das Ganze.“ Auf Solidarität pfeift, wer nur an sich glaubt, Solidarität entbehrt, wer die anderem ihrem Schicksal überlässt, und Solidarität ist ein Fremdwort für Menschen, denen der Zustand des Gemeinwesens gleichgültig ist. Heinz Bude studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit dem Jahr 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

Weiterlesen

Erinnerungen muss man mit Skepsis begegnen

In seinem neuen Buch „Die Jahreszeiten der Ewigkeiten“ gibt es das Kapitel „Intermezzo I“. Dort setzt sich der Karl-Markus Gauß mit Sprache und Identität auseinander. Der Autor schreibt: „In der Sprache erfahren wir als Erstes die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, und in der Sprache wird diese später täglich erlebt. Aber das Sprechen selbst ist nicht er wichtigste Akt, mit dem sich uns diese Zugehörigkeit erweist.“ Wichtiger als das tatsächliche Sprachvermögen ist seiner Meinung nach allerdings die soziale Spracherinnerung: an das Leid, den Mut, die Arbeit, die Hoffnungen der Vorfahren. Solche Erinnerung ist wichtig, aber man muss ihr wie jeder Erinnerung mit Skepsis begegnen. Karl-Markus Gauß lebt als Autor und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ in Salzburg. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet.

Weiterlesen

Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit

Ohne die Erforschung der materiellen Wahrheit, so sagt das Bundesverfassungsgericht, „kann Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden“. Das ist für Thomas Fischer eine Aussage, die starke und dezidierte Programmsätze enthält. Es gibt materielle, also „wirkliche“ Wahrheit und Unwahrheit. Es existiert ein normatives und empirisches Konzept, auf dessen Grundlage man zwischen beiden unterscheiden kann. Und es gibt eine Ansicht von Gerechtigkeit, die mit der Wahrheit oder der Verpflichtung zu deren Vorstellung nicht substanziell und zwingend verbunden ist: „Ohne Wahrheit keine Gerechtigkeit“, könnte man daraus schließen, würde damit aber überinterpretieren. Thomas Fischer stellt fest: „Denn was Wahrheit wirklich ist, und ob man sie im Einzelfall zutreffend und ausreichend erforscht hat, weiß das Verfassungsgericht auch nicht.“ Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Weiterlesen

Die Weisheit zählt die Liebe zu den höchsten Tugenden

Die Weisheit, um mit Epiktet zu sprechen, lädt die Menschen ein zu unterscheiden, was von ihnen abhängt und was nicht. Wenn einem Menschen etwas passiert, das er sich nicht ausgesucht hat, liegt es dennoch an ihm, wie der damit umgeht. Eine schwere Krankheit kann man beispielsweise als Herausforderung ansehen oder sich von ihr niederdrücken lassen. Ein Weiser akzeptiert seine Krankheit, anstatt sie zu verleugnen. Dann versucht er, in Bezug auf das, was er beeinflussen kann, zu handeln. Zum Beispiel gute Medikamente zu finden und so positiv wie möglich mit der Situation umzugehen. Frédéric Lenoir ergänzt: „Schließlich, wenn wir trotz all unserer Anstrengungen nicht gesund werden, müssen wir uns erneut in das Unausweichliche fügen, da wir es nicht vermeiden können: die chronische Krankheit oder den Tod.“ Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

Weiterlesen

Ideen verbesserten die Umstände des Menschseins

Die Umstände des Menschseins verbesserten sich nicht dank eines kosmischen Ereignisses oder eines Geschenks der Götter. Es waren Ideen, die alles veränderten. Ideen, die der wissenschaftlichen Revolution und der Aufklärung zugrunde lagen. Die Rettung der Menschheit aus dem erschütternden Elend ihrer Vorväter kam mit der Anerkennung von Gedankenfreiheit. Ebenso wichtig war die Befreiung von Knechtschaft und Aberglaube. Dazu kam noch die Zerschlagung des kirchlichen Monopols durch das Wissen und die Achtung der Autonomie des Individuums. Nadav Eyal ergänzt: „Die Werte der Aufklärung, darunter Freiheit und Gerechtigkeit, bildeten die Grundstein für den Aufbau sozialer Einrichtungen und den Schutz privaten Eigentums.“ Sie brachten einen erheblichen Fortschritt in die Lebensumstände der Menschen. Nadav Eyal ist einer der bekanntesten Journalisten Israels.

Weiterlesen

Der Einzelne ist gefährdet und anfällig

Die Einzelnen, so der von Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis George Herbert Mead durchgespielte Gedanken, gewinnen nur in Bezug auf die anderen einen Begriff ihrer selbst. Das Leben schreitet unaufhörlich durch verschiedene Lebensphasen fort. Dazu zählen ein Ortswechsel, ein neuer Lebenspartner oder völlig zufällige Begegnungen. Deshalb verstricken sich die Menschen in ein immer dichteres und weiteres Netz wechselseitiger Abhängigkeiten. Dabei entstehen existentielle Schutzbedürfnisse. Heinz Bude ergänzt: „Wir suchen uns im Blick der anderen zu erkennen, und erleben in solchen Momenten, wie gefährdet und anfällig wir sind.“ Die Integrität des Einzelnen lässt sich nicht ohne die Integrität der sie haltenden Beziehungen und Verhältnisse wahren. Denn ein Individuum kann seine Identität niemals für sich allein behaupten. Seit dem Jahr 2000 ist Heinz Bude Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

Weiterlesen

Menschen brauchen Geschichten

Der Primatologe Frans de Waal beschreibt den unter Schimpansen stark ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Fairness. Es ist also durchaus möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass auch Homo sapiens über einen solchen angeborenen Sinn verfügt. Und es ist für Philipp Blom denkbar, dass hier der Beginn des Erzählens liegt: „Menschen brauchen Geschichten, denn statt Sinn und Ordnung bietet die erlebte Realität immer wieder Chaos und Ungerechtigkeit.“ Immer wieder werden Wünsche enttäuscht, überall entsteht unnötiges Leid, die wenigsten Menschen erfahren Gerechtigkeit. Dadurch entsteht das menschliche Bedürfnis nach einem Gegenentwurf zu diesem ambivalenten Erleben in der Sinnlosigkeit. Geschichten schaffen Handlung und Struktur, Sinn und Zweck, Tugend und Laster, Lohn und Strafe. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.

Weiterlesen

Reichtum darf kein Selbstzweck sein

Mit den „Grundsätzen der politischen Ökonomie“ (1848) schreibt John Stuart Mill das für den englischen Sprachraum wichtigste wirtschaftstheoretische Werk des 19. Jahrhunderts. Der Autor wendet sich in seinem Buch gegen utopische Sozialisten. Diese wollen den Staat an die Stelle des freien Wettbewerbs setzen. Otfried Höffe erklärt: „Weil die einzelnen Menschen eigennützig handelten und zugleich ihre Interessen selbst am besten beurteilen könnten, bringe die staatliche Nichteinmischung eine doppelte Optimierung zustande. Nämlich die für den Utilitaristen Mill wichtige effizienteste Staatstätigkeit und in liberaler Perspektive den stärksten Anreiz zur Entwicklung des einzelnen.“ Die „ökonomische“ Ansicht vom Vorrang der Wirtschaft lehnt John Stuart Mill jedoch ab. Der Primat liege allein bei der Politik. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

Weiterlesen

Viele Menschen haben nur sich selbst im Blick

Die Mächtigen haben immer besser gelernt, die Schwächen der Ohnmächtigen für ihre Stärkung zu nutzen. Und es sieht momentan leider nicht danach aus, als würden die Schwachen ihnen dabei endlich in den Arm fallen und die Verhältnisse gewissermaßen geraderücken. Es scheint eher das Gegenteil einzutreten. Daniel Goeudevert stellt fest: „Gerade das Unbehagen an der Gegenwart setzt Tendenzen frei, durch die sich die Lage weiter zu verschärfen droht.“ Das Problem besteht darin, dass jeder, der verändernd wirksam werden will, hierbei immer auch die eigenen Belange im Auge behalten, also bei sich selbst ansetzen muss. Die meisten verbleiben dann allerdings genau dort, bei sich selbst. Daniel Goeudevert war Vorsitzender der deutschen Vorstände von Citroën, Renault und Ford sowie Mitglied des Konzernvorstands von VW.

Weiterlesen

Die gesellschaftliche Mitte ist verunsichert

Die Frage nach dem Volk ist aktuell stärker ins Blickfeld gerückt als vielleicht jemals zuvor in der Nachkriegszeit. Es ist nicht die Einwanderung, sondern etwas, das Jan-Werner Müller als die „zweifache Sezession“ bezeichnet. Diese steht in Verbindung mit einer wachsenden Verunsicherung der gesellschaftlichen Mitte. Jan-Werner Müller erläutert: „Die erste Sezession, oder Abspaltung, ist, grob gesagt, die der privilegiertesten Gruppen. Sie werden heute oft unter der Kategorie der „liberalen kosmopolitischen Elite“ zusammengefasst.“ Das ist weniger ein analytisches Konstrukt als ein Schimpfwort, mit dem Rechtspopulisten gerne um sich werfen. Aber es ist auch ein Begriff, der von immer mehr Experten und Sozialwissenschaftlern so verwendet wird, als sei er neutral und immer schon klar, wer damit gemeint ist. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.

Weiterlesen

Der Staat muss legitime Rechte garantieren

Der Staat muss Gerechtigkeit walten lassen, die Zivilgesellschaft kann sich Solidarität erlauben. Heinz Bude erläutert: „Gerechtigkeit bedeutet dabei die Zuerkennung legitimer Anrechte. Dafür existieren rationale Verfahren. Diese legen fest, was einem in einer bestimmten Lage zusteht und wofür man selbst geradestehen muss. Es gibt Menschen, die mit ihrer vollzeitigen und unbefristeten Beschäftigung noch unter dem offiziell errechneten Existenzminimum bleiben. Diese können mit einer Aufstockung ihres Einkommens durch einen staatlichen Zuschuss rechnen, der sie noch etwas über den Betrag der Mindestsicherung hebt. Es ist ungerecht, dass man von seinem Verdienst in einem Knochenjob wie der Gebäudereinigung nicht leben und nicht sterben kann. Ebenso ungerecht ist es, wenn man ohne Arbeit genauso viel Geld in der Tasche hätte wie mit Arbeit. Seit dem Jahr 2000 ist Heinz Bude Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

Weiterlesen