Die Zivilisation führt Krieg gegen die Kultur

Der moderne Kulturbegriff hat viele Ursprünge. Bedeutung erlangte er erstmals Ende des 18. Jahrhunderts als Kritik am Industrialismus, aber auch als Gegenpol zum Revolutionsbegriff. Terry Eagleton ergänzt: „Gleichzeitig begann die Kultur für den romantischen Nationalismus eine zentrale Rolle zu spielen. Im 19. Jahrhundert tauchte der Kulturbegriff in den Debatten über Kolonialismus und Anthropologie auf. Er diente aber auch als Ersatz für schwindende religiöse Werte.“ In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Kultur zu einer regelrechten Industrie. Und sie fand in bisher unbekanntem Ausmaß Eingang in das öffentliche Bewusstsein. In den mittleren Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts erlangte sie zentrale Bedeutung für neue Formen des politischen Konflikts. Das ist eine Entwicklung, die sich in der Gegenwart als Multikulturalismus und Identitätspolitik fortsetzt. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

Der Technokrat hat den Visionär verdrängt

In seiner Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) beklagt Friedrich Schiller die Situation des modernen Individuums: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus. […] Er entwickelt nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird es bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“ Die Zivilisation befindet sich im Krieg mit der Kultur. Industrialismus, Technik, Konkurrenzdenken, Profitgier und Arbeitsteilung haben später zur Verkümmerung und Zersplitterung der menschlichen Fähigkeiten und Vermögen geführt.

Eine unorganische Gesellschaft habe, so erläutert Friedrich Schiller, die eigentliche menschliche Natur verkrüppelt, und mechanistische Denkweisen hätten die schöpferische Einbildungskraft ins Exil getrieben. Friedrich Schiller schreibt: „Die Einbildungskraft aber befähigt uns, alternative Möglichketen zum Bestehenden zu ersinnen, wodurch sie nicht nur ästhetische, sondern auch politische Potenz besitzt. In der Gegenwart jedoch ist der Visionär vom Technokraten verdrängt worden.“

Menschen sind auf Bruchstücke ihrer Natur reduziert

Friedrich Schiller geht von einer Vergangenheit aus, in der die menschliche Natur noch ein harmonisches Ganzes war und die Menschen die Totalität ihrer Vermögen entfalten konnten. In der Gegenwart hingegen seien sie erschöpft und auf bloße Bruchstücke ihrer Natur reduziert, nur noch Funktionen eines mechanistischen Systems statt die gestaltenden Akteure ihrer eigenen Geschichte. „Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoismus sein System gegründet“, klagt Friedrich Schiller.

Eine industrielle Ordnung, deren Antriebskräfte Rivalität und Erwerbssinn seien, habe die traditionellen Bindungen zwischen Individuen zerschnitten und die Menschen isoliert. Daher sei der Zusammenhalt der Gesellschaft in Gefahr. Die menschlichen Beziehungen beruhten auf Verträgen, nicht mehr auf organischer Zusammengehörigkeit. Die Vernunft sei zu einem blutleeren Denkinstrument verkommen, das nur noch im Dienst des individuellen Vorteils stünde. Die Natur habe ihr inneres Leben eingebüßt und diene nur noch als tote Materie für die Manipulation durch den Menschen. Quelle: „Kultur“ von Terry Eagleton

Von Hans Klumbies