Es gibt die Methode einer „Hermeneutik der Liebe“

Menschen fühlen sich verantwortlich, wen sie etwas im wahrsten Sinne des Wortes existenziell angeht, es sie berührt und betrifft – und eben dann handeln sie entsprechend. Dabei ist die Liebe der sicherste Grund für das, was Menschen tun oder lassen. Es gibt ein Grundgefühl, das Menschen verpflichtet, etwas zu tun, auch wenn andere Gefühle wie Angst oder Hilflosigkeit damit kollidieren und sie verunsichern können. Ina Schmidt schreibt: „Denken wir noch einmal an die Methode einer „Hermeneutik der Liebe“, an die Fähigkeit, die Klaviatur des liebevollen Zugangs zu den Dingen verstehen und spielen zu lernen. In all diesen Facetten erleben wir eines nie: absolute Sicherheit.“ Ina Schmidt ist Philosophin und Publizistin. Sie promovierte 2004 und gründete 2005 die „denkraeume“. Seitdem bietet sie Seminare, Vorträge und Gespräche zur Philosophie als eine Form der Lebenspraxis an.

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Viele Individuen wollen autonom sein

Die meisten Menschen wollen auch weiterhin viele ihrer Beziehungen nicht auf die gemessenen Koordinaten ihrer Empfindungen stützen. Wilhelm Schmid betont: „Keine Digitalisierung hebt den Wert analoger Erfahrungen auf. Seelische Heimat ist die Geborgenheit in der vertrauten Konstellation einer fühlbaren Landschaft. Heimatgefühle finden sich vor allem dort, wo Wärme erfahrbar ist.“ Kälte dagegen befremdet. In den 1920er Jahren erweisen sich die Ansprüche moderner Individuen auf Autonomie als eisenhart, wenn sie in der Realität aufeinandertreffen. Je häufiger Beziehungen daran zerbrechen, desto größer werden die Hoffnungen auf eine Seelenheimat, die bei Anderen zu finden wäre. Wenn man aber eine solche Heimat erhofft, dann wäre es eine gute Idee, erst einmal selbst die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.

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Die Freiheit muss auch nein sagen

Es gibt nicht nur das Glück der Freiheit, sondern auch das Glück der Unterwerfung. Christoph Menke erläutert: „Und daher kann die Freiheit nicht nur lustvoll-affirmativ sein – sie kann nicht nur sein –, sondern sie muss Nein sagen.“ Die Freiheit sagt: „Nieder mit dem Glück der Unterwerfung.“ Alle Bestimmungen, die das Sein der Freiheit oder die Freiheit als eine Seinsweise beschreiben, sind zutiefst zweideutig. Zum Beispiel im Außersichsein dabei zu sein, dies lustvoll zu erfahren und zu bejahen. So können Bestimmungen der Freiheit oder der Knechtschaft sein. Deshalb muss die Freiheit über das Sein – das Sein, das die Freiheit ist: dass sie für den ist, der frei ist – hinausgehen und eine Unterscheidung treffen. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

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Das Denken verbindet das Subjekt mit dem Objekt

Das Denken ist eine wirkliche, objektiv existierende Schnittstelle, die Subjekt und Objekt verbindet. Der Mensch verfügt über einen besonders ausgebildeten Denksinn. Mittels dessen kann er sich in der Wirklichkeit der Gedanken umschauen. Denken ist selber etwas Wirkliches. Markus Gabriel stellt fest: „Weder die Flügel unserer Einbildungskraft noch unsere modernen Simulationen, die uns virtuelle Realitäten erleben lassen, reichen hin, um der Wirklichkeit wirklich zu entfliehen.“ Der Neue Realismus richtet sich gegen die heutige Entfremdung von der Wirklichkeit. Denn die Wirklichkeit ist niemals zur Science-Fiction geworden – und verschwunden ist sie schon gar nicht. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Die Stimme des Gewissens gibt selten eindeutige Ratschläge

Doch auch wenn man der eigenen Stimme des Gewissens gut zuhört, muss man weiterhin darauf achten, warum sie sagt, was sie sagt. Ina Schmidt erläutert: „Denn die Stimme des Gewissens hat selten eindeutige Ratschläge.“ Die Stimme des Gewissens ruft meist zunächst dazu auf, die Gründe des eigenen Handelns zu überprüfen. Die Unterscheidung zwischen einer Gesinnungs- und einer Verantwortungsethik geht auf den Soziologen Max Weber zurück. Sie ist in vielen ethischen Fragen noch immer maßgeblich. Die Entscheidung, Verantwortung übernehmen zu wollen, mag dabei helfen, einem Gefühl des Unbehagens und der Verunsicherung entgegenzutreten. Ina Schmidt ist Philosophin und Publizistin. Sie promovierte 2004 und gründete 2005 die „denkraeume“. Seitdem bietet sie Seminare, Vorträge und Gespräche zur Philosophie als eine Form der Lebenspraxis an.

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Die Liebe findet in Debatten kaum Berücksichtigung

Emanuele Coccia weiß: „Es ist kein Zufall, dass alle großen moralischen Revolutionen, die unserer Vorstellung von Fortschritt entsprechen, mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und einer größeren Freiheit der Liebe einhergingen.“ Dennoch findet die Liebe in den öffentlichen und akademischen Debatten nach wie vor kaum Berücksichtigung. Zwar beschäftigen sich Teilbereiche der Soziologie und des Feminismus mit der Liebe und ihren Erscheinungsformen. Doch insgesamt erachtet man sie als wenig lohnendes Forschungsobjekt, das eher in Boulevardblätter gehört. Die Liebe, so meint man, fällt eher ins Fachgebiet von Priestern, Katecheten und Psychoanalytiker. Dieses Ungleichgewicht in der Betrachtung von Liebe und Arbeit ist der eigentliche Grund dafür, dass es einfach nicht gelingen will, das Projekt Moderne vollständig zu verwirklichen. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Jede Verletzung ist gefühlt

Gewiss sind vor der Moral der Gegenwart nicht alle Deutungen gleich. Die Kraft emotivistischer Urteile ist abhängig von der Identität des Urteilenden. Alexander Somek stellt fest: „Den Opfern gesteht man einen privilegierten erstpersonalen Zugang zur Verletzung zu. Denn jede Verletzung ist gefühlt.“ Das Gefühl verursacht, wenn das Opfer nicht völlig eingeschüchtert oder emotional unempfindlich geworden ist, ein „Buh“. Wenn die Opfer sagen, dass etwas verletzend ist, dann muss man ihnen glauben. Und wenn die Opfer nicht selbst sprechen, kommen ihnen Opferkundler zur Hilfe. Diese haben ihre Urteilskraft in den Sozial- und Kulturwissenschaften erworben und geschult. Eine Moral, die man in die Hände der Beleidigten legt, predigt nicht das Recht, sondern die Rache. Sie neigt daher zum Exzess. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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Der Antihumanismus ist auf dem Vormarsch

In seine Vorlesungen 1901 – 1902 analysierte der Philosoph William James, wie ein gewisser Prozess in der Religion abläuft. Da ist zuerst das Unbehagen, „das Gefühl dass mit uns in unserem natürlichen Zustand irgendetwas nicht stimmt“. Befreiung aus diesem Unbehagen bietet die Religion: „Die Befreiung besteht aus dem Gefühl, dass wir von der Unstimmigkeit geheilt werden, wenn wir mit den höheren Mächten in die richtige Verbindung treten.“ Dies geschieht jedoch nicht nur in der Religion, sondern auch in der Politik. Sarah Bakewell nennt ein Beispiel: „Im 20. Jahrhundert erklärten die Faschisten, mit der gegenwärtigen Gesellschaft stimme etwas nicht, was jedoch behoben werden könne, wenn das persönliche Leben den Interessen des Nationalstaats untergeordnet würde.“ Sarah Bakewell lebt als Schriftstellerin in London, wo sie Creative Writing an der City University lehrt und für den National Trust seltene Bücher katalogisiert.

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Das Christentum hat dem Eros Gift zu trinken gegeben

Friedrich Nietzsche klagt, das Christentum habe „dem Eros Gift zu trinken“ gegeben. Er sei zwar nicht daran gestorben, „aber entartet, zum Laster“. Peter Trawny weiß: „Nietzsche kannte die dunkle, schmerzhafte Seite des Erotischen sehr genau: Dionysos war sein philosophisches Debut, der Gott des Rausches und der Ekstase. Das Christentum hat keinen Ort für diesen Rausch. Der Liebe der Körper wird misstraut, ja in der Sünde wird sie stigmatisiert.“ Zunächst scheint Friedrich Nietzsche recht zu haben. Über Jahrtausende hinweg sprach man der Sexualität ein eigenes Existenzrecht ab. Das Christentum gab und gibt der Liebe einen deutlich asexuellen Sinn: Nächstenliebe. In ihr spielt es keine Rolle, ob man sich vom Anderen angezogen oder abgestoßen fühlt. Peter Trawny gründete 2012 das Matin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat.

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Viele Menschen propagieren ihre eigene Wahrheit

In der Kakophonie einer schreienden Welt ist es schier unmöglich, eine Wahrheit von der anderen zu unterscheiden. Ille C. Gebeshuber erläutert: „Viel zu viele propagieren ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Meinung. Von der erzkonservativen Kurzsichtigkeit bis hin zu fantastischen Verschwörungstheorien.“ Und diese vielen Wahrheitswelten betreffen nicht nur die Bereiche, die man sieht, sondern vor allem jene, die man überhaupt nicht sehen kann, weil man dazu verleitet wird, in die falsche Richtung zu blicken. Zur Inflation der Wahrheiten kommt noch das Informationsparadox des Informationssturms. Obwohl die Menge an Informationen immer weiter zunimmt, nimmt der Anteil an spezifischen Informationen ab. Die Einspeisung von Inhalten in die Informationskanäle und Datenspeicher durchläuft einen Filter. Dadurch ist der Zugang zu bestimmten Informationen eingeschränkt. Ille C. Gebeshuber ist Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien.

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Der Begriff Nachhaltigkeit verliert an Glaubwürdigkeit

Wenn Ulrich Grober von der Zukunft spricht, von Mutter Erde, von Verbundenheit, darf ein Begriff nicht fehlen: Nachhaltigkeit: „Im globalen Vokabular ist er heute Leitbild für alle Spielarten von Denken und Handeln, die der Zukunft zugewandt sind. Doch momentan verliert er gerade wegen seiner umfassenden Präsenz an Substanz und Glaubwürdigkeit.“ Im Feuerwerk der Reklamesprache und politischen Propaganda droht er zur bloßen „Worthülse“ zu verkommen. Alle reden von Nachhaltigkeit. Ja, Ulrich Grober weiß, Nachhaltigkeit gilt als „sperrig“. Schon dieser Wortkörper: „nach“ und „halt“ und „ig“ und „keit“. Ächz, würg, stöhn. Kaum ein Wort, das den freien Fluss des Atems so stark blockiert. Nachhaltigkeit – ein Zungenbrecher, total unsinnlich. Den Publizisten und Buchautor Ulrich Grober beschäftigt die Verknüpfung von kulturellem Erbe und Zukunftsvisionen.

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Künstliche Intelligenz ist unfähig zum Denken

Die Geschichte der Philosophie ist Martin Heidegger zufolge eine Geschichte der Grundstimmung. Byung-Chul Han fügt hinzu: „Das Denken von René Descartes etwa ist bestimmt vom Zweifel, während das Staunen Platons Denken durchstimmt. Dem „cogito“ von René Descartes liegt die Grundstimmung des Zweifels zugrunde.“ Martin Heidegger zeichnet das Stimmungsbild der neuzeitlichen Philosophie wie folgt: „Ihm [Descartes] wird der Zweifel zu derjenigen Stimmung, in der die Gestimmtheit auf das ens certum, das in Gewissheit Seiende, schwingt.“ Die Stimmung der Zuversicht in die jederzeit erreichbare Gewissheit der Erkenntnis bleibt für Martin Heidegger das pathos und somit die arché der neuzeitlichen Philosophie. Künstliche Intelligenz dagegen hat keine Zugang zu Horizonten, die eher geahnt werden als klar umrissen sind. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

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Menschen können rational über moralische Themen nachdenken

Hinter dem Kategorischen Imperativ verbirgt sich ein ziemlich kompliziertes logisches Argument, an dem Immanuel Kant viele Jahrzehnte gearbeitet hat. Markus Gabriel erläutert: „Die erste Annahme besteht darin, dass wir überhaupt sinnvoll und rational über moralische Themen nachdenken und streiten können. Moralische Fragen sind demnach nicht nur willkürliche Setzungen, Ausdruck einer Laune, dieses oder jenes zu tun.“ Kurzum: Es gibt einiges was ein Mensch tun, und einiges, was er nicht tun soll. Wenn man sich angesichts einer konkreten Option, dieses oder jenes zu tun, fragt, ob man es auch wirklich tun soll, kann man diese Frage dieser Annahme zufolge prinzipiell durchaus beantworten, wie schwierig dies im Einzelnen auch sein mag. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Die demonstrierte Entblößung symbolisiert den Sex

Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Es ist die angedeutete oder demonstrierte Entblößung vor allem jener Körperteile, die das Begehren und den Sex symbolisieren, die in der Öffentlichkeit das zweideutige Interesse an der Nacktheit generieren.“ Und dies nicht nur, weil der öffentliche Raum nicht der richtige Ort für intime Signale ist. Sondern vor allem deshalb, weil das Erotische selbst der vollkommenen Entblößung gegenüber höchst ambivalent ist. Das Erotische lebt von einer Gestik des Entblößens. Diese weiß, dass das Wechselspiel von Enthüllen und Verhüllen nicht nur in einem faktischen Sinn das Begehren strukturiert. Sondern sie gibt dem Eros auch seine philosophische Dignität. Denn immerhin dachte sich das Abendland die Wahrheit als ein Weib, die seiner Enthüllung harrt. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

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Jugendliche erleben die intensivsten Freundschaften

Die aktuelle Sonderausgabe Nr. 30 des Philosophie Magazins stellt so gut wie alle Formen der Freundschaft vor. Manche Freude begleiten einen Menschen ein Leben lang, andere nur für einen kurzen Abschnitt oder zu einem bestimmten Zweck. Die Kindheitsfreunde finden sich zu zweit, zu dritt oder erkunden als Bande die Welt. Jugendliche erleben daran anschließend oft die intensivsten Freundschaften. Helena Schäfer schreibt: „Jugendfreundschaften sind prägend. Sie begleiten durch einen aufwühlenden Lebensabschnitt, in dem wichtige Stationen des Erwachsenwerdens gemeinsam durchlaufen werden. In der Rebellion gegen Eltern und Normen formt sich in dieser Phase ein eigenständiges Selbst.“ Dagegen teilt man mit manchen Freunden nicht den Alltag, nicht alle tiefen Emotionen oder Gedanken, sondern ein Interesse. Dabei handelt es sich um die sogenannten Hobby-Freunde.

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Die Technik gleicht das Defizit der biologischen Entwicklung aus

Emanuele Coccia erklärt: „Ein Kokon ist ein postnatales Ei, das vom Individuum gleichsam fabriziert wird. Er umreißt eine Sphäre, wo Sein und Machen in einer dritten Dimension verschmelzen.“ Diese Evidenz ist bestimmend für eine Eigenschaft des metamorphischen Phänomens: dessen rein technische Natur. Bei jeder Verwandlung konstruiert das Lebendige notwendigerweise die eigene Gestalt, die somit nichts Natürliches oder Spontanes an sich hat. Mehr noch, die Natur der Technik selbst geht tief gewandelt daraus hervor. Die meisten Menschen sind es gewohnt, die Technik als Folge eines biologischen Defizits des Individuums zu begreifen. Seit Platon und seinem Mythos von Prometheus und Epimetheus ist man es gewohnt, die Technik nicht nur als einen rein menschlichen Zug zu begreifen. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Jede Handlung ruft eine Wirkung hervor

Die Inder sind völlig überzeugt, dass es ein universelles Kausalitätsgesetz gibt: Jede Handlung ruft eine Wirkung hervor. Frédéric Lenoir ergänzt: „Sie denken außerdem, dass jedes Lebewesen ein Körnchen des Göttlichen – des unpersönlichen Brahman – in sich trägt: den Atman.“ Der Atman wandert von Leben zu Leben, von Körper zu Körper, bis es ihm gelingt, den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen, weil es sich von der Unwissenheit befreit. Dadurch wird ihm bewusst, dass er nicht mit dem Ich übereinstimmt, sondern mit einem Körnchen des Göttlichen. Dies ist die Verwirklichung des Selbst. Durch spirituelle Bewusstseinsfindung befreit er sich sowohl vom Unwissen als auch aus dem Gefängnis der Leidenschaften. Indem er vom Ich zum Selbst kommt, gelangt der Mensch zur Erlösung, welche die Buddhisten „Erwachen“ nennen. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

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Die Freiheit ist die Kraft des Anfangens

Es gibt zwei selbstwidersprüchliche Auffassungen des Werdens der Freiheit. Christoph Menke erklärt: „Die eine Auffassung, als Geschehen, versteht nicht das Werden der Freiheit; sie gelangt nicht bis zur Freiheit. Die andere Auffassung, als Tat, versteht nicht das Werden der Freiheit; sie beginnt schon mit der Freiheit.“ Das Werden der Freiheit lässt sich nur begreifen, wenn man diesen Gegensatz von Aktivität und Passivität aufzulösen vermag. Die Befreiung muss sich von diesem Gegensatz befreien; sie muss das Werden befreien. Es gibt zwei verschiedene Konzeptionen des Denkens und seiner Freiheit: ein idealistisches und ein ästhetisch-materialistisches Konzept des Denkens. Die Freiheit ist wesentlich negativ. Sie ist die Negation der Unfreiheit. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

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Das Gehirn negiert nicht zuträgliche Informationen

Jonathan Rauch stellt fest: „Wenn Ihr gesellschaftliches Ansehen und Ihre Gruppenidentität davon abhängen, dass Sie etwas glauben, dann werden Sie auch einen Weg finden, es zu glauben. Tatsächlich wird Ihnen Ihr Gehirn dabei sogar helfen, indem es Informationen, die diesem Vorhaben zuträglich sind, bereitwillig akzeptiert und sich an sie erinnert, während es nicht zuträgliche Informationen vergräbt und ignoriert.“ Das ist der Grund dafür, dass Intelligenz keinen Schutz vor falschen Überzeugungen bietet. Sie macht Menschen im Gegenteil sogar noch besser im Rationalisieren. Wie Jonathan Haidt in „The Righteous Mind“ schreibt, sind extrem kluge Menschen besser als andere dazu in der Lage, Argumente zur Untermauerung ihrer eigenen Ansichten zu finden. Jonathan Rauch studierte an der Yale University. Als Journalist schrieb der Politologe unter anderem für das National Journal, für The Economist und für The Atlantic.

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Von der Unruhe kommt man nicht so leicht los

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 05/2024 beschäftigt sich mit der Frage: „Wie komme ich zur Ruhe?“ Die Ruhe ist eine große Sehnsucht vieler Menschen, doch sie ist nur schwer zu erreichen, wie bereits die Stoiker in der Antike wussten. Heute inmitten digitaler Ablenkung, politischer Krisen und spätmoderner Leistungsansprüche scheint sie weiter entfernt denn je. Der Philosoph Ralf Konersmann schreibt: „Charakteristisch für die Situation ist unser ambivalentes Verhältnis zur Unruhe: Wir leiden unter ihr, möchten sie aber auch nicht missen. Ich habe deshalb die Unruhe, unsere moderne Unruhe, eine Passion genannt.“ Inzwischen sind jedoch Trends wie Arbeitszeitreduktion zugunsten der Familien oder die Priorisierung von Hobbys auf dem Vormarsch. Ralf Konersmann erkennt in solchen Initiativen den Versuch, Alternativen zu entwickeln. Dennoch haben auch sie das Potential, neue Unruhe zu erzeugen. Die Unruhe ist also etwas, von dem man nicht so leicht loskommt.

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Vielen Menschen ist am Schutz von Minderheiten gelegen

Markus Gabriel stellt fest: „Minderheiten kann man keineswegs stets den Anspruch zugestehen, Gehör zu finden und bei Entscheidungsprozessen mit am Tisch zu sitzen.“ Pädokriminelle, Antidemokraten, eindeutige Verfassungsfeinde, Mörder usw. haben aufgrund ihrer moralischen Defizite schlichtweg nicht das Recht, als Minderheiten vor institutioneller Härte geschützt zu werden. Vielen Menschen ist jedoch zu Recht am Schutz von Minderheiten gelegen. Zu schützende Minderheiten sind meistens solche, denen man nachweisbar Unrecht angetan hat. Man muss sie besonders schützen, um ihnen das volle moralische und juristische Recht zukommen zu lassen, dessen man sie beraubt hat. Es gehört zu der moralisch empfehlenswerten Seite der Demokratie, dass sie zu Unrecht unterdrückten Minderheiten Gehör verschafft. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Eine Person ist das Vollkommenste in der Natur

Der Begriff der Person entstammt – anders als der der Individualität –, von vornherein dem Humanbereich. Silvio Vietta weiß: „Die Herkunft des Begriffs ist nicht zweifelsfrei belegt. Man nimmt an, das Wort wurde von lateinisch „personare“ abgeleitet im Sinne des Durchdringens einer Stimme durch die Maske.“ Diese Theatermasken hatten individuelle Züge eines Charakters, wenn auch stark stereotypisiert. Sie konnten daher als Anhaltspunkte für bestimmte personale Charakterzüge dienen. Die hellenistische Philologie ging dann auch daran, in philosophischen Texten verschiedene Sprecherrollen ausfindig zu machen. Der Begriff der Person vollzieht dann eine regelrechte „Himmelfahrt“. Er bezeichnet nämlich in der christlichen Theologie des Mittelalters die Einheit von Gottvater, Sohn und heiligem Geist. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Es gibt eine neue Moral und den Willen zur Umerziehung

Was der Mensch hervorbringt, misst man stets an derselben Elle der Humanität, dem Maßstab gleichberechtigter Menschenwürde. Alain Finkielkraut fügt hinzu: „Keine Möglichkeit wird übersehen, eine Mühe gescheut, wenn es darum geht, Geist und Herz zu öffnen.“ Man beurteilt Philip Roth und Milan Kundera als zu sexistisch, um den Nobelpreis zu verdienen. Und man verdammt Vladimir Nabokovs „Lolita“ aus allen Lehrveranstaltungen der Universitäten. So kann man sich rühmen, niemanden mehr zu privilegieren und die Missetaten und Wunschvorstellungen der letzten Vertreter der patriarchalischen Gesellschaft zu verdammen. Der Bannstahl der neuen Moral und der Wille zur Umerziehung entspringen jedoch nicht dem „Tugendideal der Askese“, sondern einem „egalitären Ideal“. Man hütet sich übrigens, das Wort Tugend zu verwenden, weil man sich unbedingt vom Krieg gegen die Libido distanzieren will. Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.

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Viele Menschen werden in starre Lebensläufe gezwungen

Sogenannte „Fachidioten“ führen ihre Follower in die Gefangenschaft der eigenen Selbstverständlichkeiten. Diese verleiten zu einem sehr gegrenzten Handeln. Die „Filter-Bubble“ ist nicht nur ein Phänomen des Digitalen, sondern zeigt sich auch im Analogen, in der Bildung. Anders Indset kritisiert: „Die Wissensgesellschaft ist ein Produkt des fatalen Nickerchens, in der trotz der Aktivierung und der Aufbruchstimmung der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts die Menschen im Wesentlichen in starre und vorbestimmte Lebensläufe gezwungen werden.“ Der Lebensplan steht bereits in der Kindheit fest. Man weiß, was einen im Leben erwartet – der Job wartet. So dient die sich zur Absolutheit gesteigerte Wissensgesellschaft der Förderung der Wirtschaft und des ökonomischen Wachstums. Auf einem kontrollierten und messbaren Bildungsweg begeben sich die Menschen in ein Leben der Konformität. Anders Indset, gebürtiger Norweger, ist Philosoph, Publizist und erfolgreicher Unternehmer.

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Die Herausforderungen für die Menschheit sind gewaltig

Die größten Herausforderungen dieser Welt – Klimawandel, Migration, Epidemien, Kriege, Ungleichheiten – lassen sich weder „lösen“ noch „besiegen“. Rebekka Reinhard ergänzt: „Auch ganze Heerscharen weicher Helden, die Anarchie und Gewaltlosigkeit in sich vereinten, könnten uns nicht den Weltfrieden bescheren. Dafür können sie mit spielerischer Leichtigkeit den ineffizienten Heroismus durchkreuzen.“ Mit jedem Akt des „Nicht-Tuns“. Bis der Lauf der Welt sich in eine andere Richtung dreht. Bis man sieht, dass die durch Schwerter, Bomben und Granaten, Strafen und Sanktionen erzeugten Risse im Gewebe der Welt allen schaden. Weil auf dem Planeten Erde nichts isoliert existiert. Sondern alles mit allem verwoben und in seiner Freiheit und Verletzlichkeit auf anderes angewiesen ist. Rebekka Reinhard ist Chefredakteurin des Magazins „human“ über Mensch und KI. Unter anderem ist sie bekannt durch den Podcast „Was sagen Sie dazu?“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wbg.

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