Hanno Sauer beschreibt die „Tragik der Allmende“

Probleme kollektiver Handlungen sind tatsächlich überall zu finden. Die vielleicht bekanntesten Beispiele stammen aus dem Kontext der Erschöpfung natürlicher Ressourcen. Hanno Sauer weiß: „Dieses Problem – vom schottischen Philosophen David Hume bereits im 18. Jahrhundert antizipiert – ist seit Garret Hardin als „Tragik der Allmende“ bekannt.“ Die Beobachtung des US-amerikanischen Ökologen: Natürliche Ressourcen, wie etwa Weiden oder Fischbestände, die nicht durch Eigentumsgrenzen parzelliert sind, werden tendenziell über ihre Kapazitätsgrenzen hinweg ausgebeutet. Unabhängig davon, wie sich die anderen verhalten – ob nachhaltig oder ebenfalls ausbeuterisch –, ist es für jeden Einzelnen die beste Strategie, die Ressource übermäßig auszunutzen. Die Vorteile dieses Fehlverhaltens kann jeder Einzelne selbst absorbieren; die Kosten werden an den Rest des Kollektivs „externalisiert“. Hanno Sauer ist Associate Professor of Philosophy und lehrt Ethik an der Universität Utrecht in den Niederlanden.

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In der öffentlichen Debatte herrschen gegenseitige Schuldzuweisungen

In vielen Gesellschaften hat ein Klima der Unverzeihlichkeit Einzug gehalten. Man unterstellt einander von vornherein die schlechtesten statt die besten Absichten. Judith Kohlenberger fügt hinzu: „In der Krise ist man sich selbst der Nächste, was auch populistischer Stimmungsmache zupass kommt. In der öffentlichen Debatte herrschen gegenseitige Schuldzuweisungen, Unverständnis, Unversöhnlichkeit und Unbeherrschtheit.“ Das Level an gesellschaftlicher Empathie ist merkbar gesunken. Auch der Natur gegenüber zeigen sich viele Gesellschaften unerbittlich, wenden immer mehr Gewalt gegen sie an – und damit in letzter Konsequenz gegen sich selbst. Der Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union (EU) wird brutaler. Gesunkene Flüchtlingsschiffe sind nur mehr dann eine Meldung wert, wenn die Opferzahl in die Hunderte geht. Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien und dem Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip).

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Bildungsreformer wollten die Schulen aus der Politik herausnehmen

Michael J. Sandel blickt zurück: „Der Zerfall von Gemeinschaft und die Bedrohung der Selbstverwaltung um die Jahrhundertwende in den USA brachten im Großen und Ganzen zwei Reaktionen von Reformen der Progressiven Bewegung hervor – die eine prozedural, die andere formativ.“ Mit der ersten versuchte man, den Staat weniger von der Tugend in der Bevölkerung abhängig zu machen – dazu verlagerte man Entscheidungen zu qualifizierten Managern, Verwaltern und Fachleuten. Städtische Reformer bemühten sich darum, die Korruption urbaner Parteichefs zu umgehen – dazu etablierten sie Stadtverwaltungen mit überparteilichen Bevollmächtigten und Schuldirektoren. Bildungsreformer bemühten sich, Schulen aus der Politik herauszunehmen – dazu verlagerten sie Autorität von ortsansässigen Bürgern auf fachkundige Verwalter. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

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In den Krisen der Gegenwart müssen die Menschen ständig abwägen

Finanz-, Corona-, Flüchtlings-, Klima- … – was folgt, ist die „Krise“. Was haben die Krisen der Gegenwart gemeinsam? Maren Urner erklärt: „Wir haben das Gefühl, ständig abwägen zu müssen. In der Finanzkrise des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends ging es um die vermeintliche Entscheidung zwischen Systemeinbruch und Bankenrettung.“ Der viel zitierte Slogan „Too big to fail“ – also zu große und zu wichtig, um zu scheitern, steht sinnbildlich für eben diese Diskussion um Bankenrettungen und Menschen, die alles verloren haben. Während also die einen mit Pappkarton unterm Arm, aber mit einem gemütlichen Polster auf dem Konto ihre Büros in London, New York und Frankfurt räumen, landen andere auf der Straße. Dr. Maren Urner ist Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln.

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Eine vulnerable Gesellschaft ruft nach einem schützenden Staat

Annahmen von Vulnerabilität wirken sich daraus aus, wie von gesellschaftlicher Seite mit Risiken umgegangen wird. Von zentraler Bedeutung für eine vulnerable Gesellschaft ist daher auch die Wahrnehmung von Risiken und die Frage, wie diese verarbeitet werden. Dabei möchte Frauke Rostalski dafür argumentieren, dass wachsende Zuschreibungen von Verletzlichkeit dazu führen, dass die eigenverantwortliche Risikobewältigung mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Begreifen sich Menschen zunehmend als vulnerabel, liegt es nahe, dass sie im Umgang mit Risiken nach externer, vor allem staatlicher Unterstützung verlangen. In den Worten der Philosophin Svenja Flaßpöhler: „Je empfindsamer der Mensch für Gewalt, Leid, Tod wird, desto größer das Begehren, diese Gefahren verlässlich zu bannen. Je sensibler eine Gesellschaft, desto lauter der Ruf nach einem schützenden Staat.“ Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsrecht, Medizinstrafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln.

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Dem Fremden gegenüber fehlt eine grundlegende Zugewandtheit

Den sprichwörtlich „anderen“ gegenüber fehlt gegenwärtig eine grundlegende Zugewandtheit als Voraussetzung für Nähe und Verbundenheit. Judith Kohlberger nennt Beispiele: „Das zeigt sich im Umgang mit Geflüchteten und Migranten, Marginalisierten und Minderheiten, Obdachlosen und Arbeitslosen, den Exkludierten und „Überflüssigen“ unserer Zeit.“ Das geschieht nicht nur im persönlichen Umgang und in der Sprache, sondern auch in der Verrohung von Institutionen und der schleichenden Unterwanderung des demokratischen Grundkonsenses. Die Einheimischen sind hart an der Grenze – im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinne. Der Fremde soll draußen bleiben. Es gibt jedoch ein Gegenmodell: Offen sein und werden für die Erfahrung, Erlebnisse und Lebensrealitäten des anderen, der dann so anders gar nicht mehr ist – diese grundlegende Zugewandtheit kann persönliche Haltung wie politische Maxime gleichermaßen sein. Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien und dem Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip).

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Alle Menschen gehören zu einer Kulturgemeinschaft

Erste Quelle der Freiheit ist die gesellschaftliche Herkunft des Menschen und seine Zugehörigkeit zu einer Kulturgemeinschaft. In seiner Freiheit ist der Mensch nicht allein. Paul Kirchhof erklärt: „Ihn leitet die Erfahrung des allen Menschen Gemeinsamen: Er erlebt anfangs unbewusst, dann selbstbewusst das Wachsen seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten von der Kindheit bis zum Erwachsensein, ist dabei eingebettet in eine Familie, ein kulturelles Umfeld, eine Rechts- und Sozialordnung, die ihn leitet und bei fehlerhaften, auch bei noch unverantwortlichem Handeln auffängt.“ Er wächst in eine Kultur elterlich und schulisch vermittelter Lebenssicht und Lebenserfahrung hinein, die ihn den Freiheitsgebrauch in wechselnden Zeiten lehrt. Er lebt in Konventionen – der Zusammenkunft von Menschen, die ihre Zukunft aus einer gemeinsamen Herkunft gestalten. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Kulturelle Vielfalt vergrößert die individuelle Freiheit

Amartya Sen stellt fest: „Die Freiheit, an der eigenen ethnischen Lebensweise festzuhalten, etwa was die Nahrungsgewohnheiten oder die Musik angeht, kann gerade infolge der Ausübung kultureller Freiheit die kulturelle Vielfalt einer Gesellschaft erhöhen.“ Die kulturelle Vielfalt ergibt sich in diesem Fall als unmittelbare Konsequenz aus der Wertschätzung der kulturellen Freiheit. Vielfalt kann auch für die nicht direkte Betroffenen eine positive Rolle spielen, indem sie deren Freiheit vergrößert. Eine kulturell vielfältige Gesellschaft kann für andere in dem Sinne vorteilhaft sein, dass sie aus einer großen Vielfalt von Erfahrungen schöpfen kann. Wenn es jedoch allein um die Freiheit – einschließlich der kulturellen Freiheit – geht, kann der kulturellen Vielfalt keine unbedingte Bedeutung zukommen. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Das mittlere Lebensalter stellt den Inbegriff des Menschseins dar

Die Rede vom „Erfolg“ beim Altern ist nicht unproblematisch, denn sie suggeriert, dass der Alterungsprozess allein eine Frage der eigenen Verantwortung ist. Barbara Schmitz stellt fest: „Dabei wird ausgeblendet, dass ich nicht alles in der Hand habe, was mein Altern betrifft. Dies gilt insbesondere auch für Demenz, die als „erfolgloses Altern“ stigmatisiert werden kann, was dann wiederum Scham bei den Betroffenen erzeugen kann.“ Hinter dem Bild vom erfolgreichen Altern steckt im Grunde ein Idealbild vom Menschen. Der Gerontologe Andreas Kruse hat darauf hingewiesen, dass in unserer Gesellschaft der Mensch im mittleren Lebensalter, also zwischen 30 und 60, den Inbegriff des Menschseins darstellt. Barbara Schmitz ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin in Basel.

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Frauke Rostalski kennt die Kennzeichen einer vulnerablen Gesellschaft

Jeder Mensch ist verletzlich. Menschen können einander Wunden zufügen – physische wie psychische. Sie können krank werden, in wirtschaftliche Not geraten, einsam sein. Pandemien und Naturkatastrophen bedrohen den Wohlstand und die Existenz. Jeder muss eines Tages sterben. Frauke Rostalski ergänzt: „In ihrer Verletzlichkeit sind die Menschen unweigerlich aufeinander angewiesen. Das Kleinkind wird von seinen Eltern auf jedem seiner Schritte begleitet. Es wird gefüttert, an die Hand genommen, getragen.“ Der alten Mensch bedarf selbst wieder der Unterstützung durch andere, die seinen Arm halten und ihm den Alltag erleichtern, manches Mal auch erst ermöglichen. Wer schwer krank wird, ist auf Pflege angewiesen. Verletzlich sind auch diejenigen, die sich selbst nicht so fühlen. Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsrecht, Medizinstrafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln.

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Die Eliten wollen die ihnen zugestandenen Privilegien erhalten

Wer sich genauer mit dem Phänomen der körperlichen und geistigen Identität, also der Gleichheit der Menschen beschäftigt, bemerkt hier eine der Hauptprobleme unserer Gesellschaft. Ille C. Gebeshuber erklärt: „Die etablierte Elite ist stets bestrebt, die ihr zugestandenen Privilegien für sich und ihre direkten Nachkommen zu erhalten. Dazu ist es notwendig, den freien Wettbewerb in der Gesellschaft massiv einzuschränken.“ Die Mitglieder der Elite werden gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede schaffen, die sich mit der Zeit zu Zugangskriterien entwickeln. Diese Unterschiede sind in unserer modernen Gesellschaft zwar immer noch extrem stark ausgeprägt, aber sie sind weniger sichtbar als anno dazumal, weil Objektivierung und Leistung eine hohen Stellenwert genießen. In der digitalen Zukunft werden diese Unterschiede für Außenstehende noch weniger sichtbar sein. Ille C. Gebeshuber ist Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien.

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Die Emanzipierten solidarisieren sich in wachsenden Bündnissen

In der Gegenwart präsentieren Soziale Netzwerke viel unreflektierten Mist, schlecht Informierte, Selbstdarstellung, Wut und Hass. Aber sie sind auch der Ort eines neuen Gewissens, das Menschen daran erinnert, dass es die Interessen, das Engagement und eine Achtsamkeit für die Belange von Individuen gibt, die früher nicht gehört wurden. Hadija Haruna-Oelker ergänzt: „Es ist ein Ort, dem Medien heute vermehrt Gehör schenken, und der deshalb in den Mainstream, in das breite Publikum, also in die Mitte gewandert ist. Und auch, wenn sich manche in Kämpfen verlieren, hat auch diese Art der Auseinandersetzung seine Berechtigung.“ Denn solange eine Anerkennung der Anliegen bestimmter Gruppen nicht selbstverständlich ist, wird es Identitätspolitik geben. Hadija Haruna-Oelker lebt als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Hauptsächlich arbeitet sie für den Hessischen Rundfunk.

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Die Bevölkerung wird immer älter: Ursachen, Auswirkungen und Chancen des demografischen Wandels

Der demografische Wandel gehört zu den bedeutendsten Herausforderungen, denen sich viele Gesellschaften weltweit gegenübersehen. Ein Phänomen, das besonders in Industrieländern auffällt, ist die Alterung der Bevölkerung. Die Menschen leben länger und es werden weniger Kinder geboren, wodurch der Anteil älterer Menschen stetig zunimmt. Die Ursachen und Auswirkungen sind vielschichtig. Es werden umfangreiche Maßnahmen notwendig sein, … Weiterlesen

Es gibt Menschenfeindlichkeit über den Tod hinaus

Karl-Markus Gauß hegt die Hoffnung, dass der Kommunismus wenigstens im Jenseits ohne seine irdischen Makel, Fehler, Verbrechen verwirklicht werde. Er muss aber akzeptieren, dass es in der globalisierten Welt überall Angehörige ethischer, kultureller, religiöser Gruppen gibt, die nur in gründlich von allen Fremden gesäuberten Gelände bestattet werden möchten. Markus Gauß erläutert: „Mir ist dieser Wunsch unverständlich. Ich halte ihn für beschränkt, ja für menschenfeindlich über den Tod hinaus.“ Aber er akzeptiert natürlich, dass Millionen Muslime, die in Europa leben, es als eines ihrer wichtigsten religiösen Anliegen erachten, dereinst nicht neben den Leichen der Ungläubigen oder Falschgläubigen zu liegen zu kommen. Karl-Markus Gauß lebt als Autor und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ in Salzburg. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet.

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Erfolg ist von drei Faktoren abhängig

Damit ein Mensch in höhere Positionen aufsteigen kann, muss er viele Schranken und Barrieren überwinden. Ille C. Gebeshuber fügt hinzu: „Dies wird nicht durch demonstrierte Begabung oder Eloquenz erreicht, sondern indem Entscheidungsträger den Kandidaten akzeptieren. Diese modernen Torwächter entscheiden, ob sie Menschen, die sie treffen, unterstützen oder nicht.“ Diese Entscheidung wird oft nicht allein getroffen, und daher sind persönliche Netzwerke, die in der Lage sind, die Entscheidungsträger zu beeinflussen, von entscheidender Bedeutung. Im Prinzip kann man davon ausgehen, dass für die Erlangung einer hohen Position die Verbindung von drei Faktoren entscheidend ist: die persönliche Begabung, die zwischenmenschlichen Fähigkeiten und die Herkunft. Normalerweise kombiniert ein erfolgreicher Mensch zwei dieser drei Faktoren und macht den fehlenden dritten durch Ehrgeiz wett. Ille C. Gebeshuber ist Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien.

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Kollektive Identitäten sind ein zweischneidiges Schwert

Kollektive Identitäten sind soziale Konstruktionen, können sich also wandeln. Sie sind jedoch ein zweischneidiges Schwert. Joachim Bauer erläutert: „Einerseits sind sie eine unvermeidliche Ergänzung der jeweils individuellen Identität eines Menschen. Sie gegen den in einer Identität vereinten Menschen, vor allem in Zeiten der Not, in Krisen oder Katastrophensituationen, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit.“ Andererseits bergen kollektive Identitäten die Gefahr, dass Menschen sich gegenseitig nicht mehr als menschliche Individuen wahrnehmen, sondern andere Menschen – und sich selbst gleich mit – kategorisieren, also „in eine Schublade stecken“. Andere Menschen nur aufgrund ihrer kollektiven Identität wahrzunehmen kann einerseits zu – allerdings oft auch fragwürdigen – Freundschaften oder Bündnissen, andererseits aber auch zu Feindschaften und Hass führen. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.

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Viele Menschen geben die Zukunft quasi auf

Sobald Menschen zu viele schlechte Prognosen hören, fallen sie in eine Art Starre. Florence Gaub erläutert: „Anstatt zu handeln, Entscheidungen zu treffen, und etwas vorzustellen und die Zukunft zu beeinflussen, tun wir nichts. Wir geben die Zukunft quasi auf.“ Das ist an sich schon schlimm genug, aber das ist noch nicht alles. Negative Zukünfte können nämlich mit positiven ausbalanciert werden, ja meistens ist die Zukunft eine Mischung aus beiden, aber da, wo früher eine erstrebenswerte Zukunft lag, gähnt nun eine Leere. Früher bestand für die meisten Westeuropäer die gute Zukunft aus Wohlstand und Freiheit, und sie ging einher mit dem Wunsch, diese Zukunft in den Rest der Welt zu exportieren. Dr. Florence Gaub ist Politikwissenschaftlerin, Militärstrategin und Zukunftsforscherin. Sie leitet als Direktorin den Forschungsbereich NATO Defense College in Rom.

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Das postheroische Zeitalter mag keine Helden

Heutzutage zählt nicht der außerordentliche Mensch, der Held oder das Genie, sondern das Team, die Mannschaft oder die Gruppe. Und jede Glanzleistung oder Niederlage ist am Ende das Ergebnis gelungener oder misslungener Kooperation. Tobias Haberl fügt hinzu: „Das postheroische Zeitalter, das auch ein postphallisches ist, mag keine Helden, die unbeirrbar ihren Weg gehen, keine Großkünstler, Steppenwölfe oder Chefs, die ihren Q7 um Mitternacht aus der Tiefgarage steuern, sondern Angestellte, die sich gesund ernähren, nach Feierabend ihre Mails checken und die richtigen Kollegen in CC setzen, damit Prozesse optimiert und Abläufe beschleunigt werden können.“ Maßvolle Zurückhaltung sticht jedes Ego. Der Literaturwissenschaftler Tobias Haberl schreibt für das „Süddeutsche Zeitung Magazin“. Sein letztes Buch „Die große Entzauberung – Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen“ wurde ein Bestseller.

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In den USA boomt die Rassentrennung in Schulen

Lehrer, die laut eigener Auffassung nach „Racial Justice“ – auf Deutsch in etwa: „rassistischer Gerechtigkeit“ – streben, trennen in einer wachsenden Anzahl amerikanischer Schulen Kinder auf Grundlage ihrer Hautfarbe voneinander. Das ist das Resultat eines neuen ideologischen Trends. Yascha Mounk erläutert: „Diese Praxis hat mittlerweile in einigen öffentlichen Schulen Einzug gehalten. So bietet die Highschool in Evanston, einem der nobelsten Vororte Chicagos, separaten Mathematikunterricht für schwarze Schüler an.“ Eine Schule in Wellesley, in Massachusetts, betreibt seit einiger Zeit einen „heilenden Raum für asiatische und asiatisch-amerikanische Schüler. Dabei handelt es sich um einen „Safe Space“, der nicht für Lernende gedacht ist, die sich als Weiß identifizieren. Das amerikanische Gesetz setzt staatlichen Einrichtungen seit der Bürgerrechtsbewegung enge Grenzen, wann und wie sie Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe betreiben dürfen. Yascha Mounk ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Johns Hopkins Universität in Baltimore.

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Alte Menschen verurteilen neue Ideen oft sehr schnell

In den Niederlanden gibt es offene Entscheidungsträger, die schauen sich ein revolutionäres Konzept vorurteilsbefreit an und denken nicht gleich: „Kenne ich das schon oder wie alt ist die Person, die das gerade vorschlägt?“, sondern sie fragen vorurteilsfrei: „Ist das eine gute Idee? Hat das Potenzial?“ Sie verwenden ihr Wissen, um wirklich genau zu schauen, bevor sie bewerten. In Österreich dagegen hat Andreas Salcher oft erlebt, dass die Wahrscheinlichkeit höher ist, auf Leute vor allem aus der älteren Generation zu treffen, die gleich am Anfang sagen: „Nein das kann ja nie funktionieren.“ Solange keine zwei Doktortitel vor dem Namen einer Person stehen, hat sie für diese Menschen keine Glaubwürdigkeit. Dr. Andreas Salcher ist Mitgebegründer der „Sir Karl-Popper-Schule“ für besonders begabte Kinder. Mit mehr als 250.000 verkauften Büchern gilt er als einer der erfolgreichsten Sachbuchautoren Österreichs.

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Die Unterklasse steht der neuen Mittelkasse diametral entgegen

Dem am Modell erfolgreicher Selbstverwirklichung orientierten Lebensstil der neuen Mittelklasse diametral entgegen steht in der spätmodernen Gesellschaft die Lebensform der neuen Unterklasse. Andreas Reckwitz erläutert: „Es handelt sich um jene heterogenen Gruppen von Beschäftigten in den einfachen Dienstleistungen, von prekär und Mehrfachbeschäftigten, von Industriearbeitern jenseits der Normalarbeitsverhältnisse, welche in der Tradition der industriellen „blue collar“-Arbeit stehen, sowie von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, die jedoch alle eine ähnliche Lebenssituation teilen.“ Wenn vor dem Hintergrund der alten Mittelstandsgesellschaft die akademische Mittelklasse die sozialen und kulturellen „Aufsteiger“ bilden, dann handelt es sich bei der neuen Unterklasse um die Gruppe der „Absteiger“. Die Polarisierung zwischen der neuen Mittel- und Unterklasse betrifft nicht allein eine soziale Ungleichheit von materiellen Ressourcen, sondern auch und gerade einen Gegensatz seitens der „kulturellen Logiken“ der Lebensführung. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Wohlstand verringert das Bevölkerungswachstum

Mit die beste Nachricht ist: Wenn in armen Ländern der Wohlstand steigt, und je gleichberechtigter und besser gebildet die Frauen sind, desto deutlicher sinkt die Zahl der Kinder, die geboren werden. Tatsächlich sind die Geburtenziffern nur noch in einem guten Dutzend Länder besorgniserregend. Ullrich Fichtner erklärt: „Ja, es gibt noch Weltregionen – im Tschad, in Somalia, in Niger – in denen Frauen sechs Kinder und mehr gebären; aber es gibt deren nicht mehr viele. Die Fantastereien über kommende Bevölkerungsexplosionen entbehren jeder Grundlage. Das ist der Forschungsstand. In vielen einst überbevölkerten Ländern ist die Kinderzahl pro Frau auf ein gutes Maß gesunken, und die meisten Regierungen, auch in Afrika und Südasien, setzen heute eine Politik ins Werk, die günstige demografische Effekte hat. Ullrich Fichtner ist Reporter des „Spiegel“ und gehört zu den renommiertesten Journalisten Deutschlands.

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Der Kapitalismus verlangt Agilität und Anpassungsfähigkeit

Eigentlichkeit und Kapitalismus gehen in der Regel nicht zusammen. Sie sind miteinander inkompatibel. Alexander Somek erklärt: „In eine kapitalistischen Gesellschaft erwartet „man“ von uns, dass wir uns als eine agile und anpassungsfähige Humanressource verstehen. Eine Gesellschaft dieser Art stellt die Karriere und den Erfolg als erstrebenswerte Güter in Aussicht.“ Agilität und Anpassungsfähigkeit sind der Preis, den man entrichten muss, um ihrer teilhaftig zu werden. Wer keine Aussicht hat, als Anwalt erfolgreich zu sein, als Anwalt erfolgreich zu sein, wir halt Chirurg oder umgekehrt. Wer sich diesen Normen fügt, auf den mag Theodor W. Adornos Diktum, das zwar herabwürdigend klingen mag, zutreffen, wonach es für viele Menschen eine Anmaßung sei, „ich“ zu sagen. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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Nationalität ohne Grenzen ist möglich

Immer wieder hört Hadija Haruna-Oelker Menschen im Alltag von „anderer Hautfarbe“ sprechen, wenn sie Schwarz meinen. Sie selbst sagt das nie, weil Weißsein nicht die Norm ist, von der aus sie spricht. Von ihr aus betrachtet: „Was wäre das, „die andere Hautfarbe“? Hadija Haruna-Oelker erklärt: „Es gibt viele dieser unterbewussten Kategorisierungen. Gedanken von „deiner Kultur“ und „meiner Kultur“. Ein Islam, der für die einen zu Deutschland und für die anderen nicht zu Deutschland gehört.“ Es sind die Gegensätze, die man formuliert. Schon seit langer Zeit hat Nationalität im Kopf von Hadija Haruna-Oelker keine Grenzen gehabt, und sie plädiert für ein offenes Konzept von Zugehörigkeit. Hadija Haruna-Oelker lebt als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Hauptsächlich arbeitet sie für den Hessischen Rundfunk.

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Vor dem Bildschirm sitzen die Zuschauer stets in der ersten Reihe

Von den Menschen früherer Zeiten unterscheidet die heute lebenden, dass sie Zuschauer geworden sind. Alain Finkielkraut erklärt: „Wir schauen Ereignissen zu, von denen unsere Vorgänger durch mündliche Berichte oder die Lektüre erfuhren. Dieses „Wir“ kennt keine Ausnahme mehr: Ganz gleich, wo wir leben, mit dem Bildschirm sitzen wir stets in der ersten Reihe.“ Das Bild von George Floyd, dem am 25. Mai 2020 in Minneapolis gezielt die Luft abgedrückt wurde, ist um die ganze Welt gegangen, ein unerträgliches Bild. „Ich kann nicht atmen“, keuchte der Farbige, während ihm sein Peiniger ungerührt und sogar lächelnd das Knie auf den Hals drückte, bis er starb. Die Amerikaner, die danach spontan auf die Straße gegangen sind, um ihre Empörung kundzutun, versteht Alain Finkielkraut umso besser, als der Mord an George Floyd nicht der erste seiner Art war. Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.

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