Freiheit ist von je her ein schillernder Begriff

Im Zentrum des deutschen Grundgesetzes stehen die Grundrechte jedes einzelnen Menschen. Darin unterscheidet es sich etwa von der ersten demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung Deutschlands, der sogenannten Weimarer Reichsverfassung. Hans-Jürgen Papier erläutert: „Die Freiheit ist somit Ausgangspunkt und Zweck unseres freiheitlichen Verfassungsstaats. Dieser gewährt und garantiert die Grundrechte. Und er erlaubt es jedem Einzelnen, seine Freiheitsrechte gegen den Staat geltend zu machen und notfalls einzuklagen.“ Freiheit ist von jeher ein schillernder Begriff. Er beinhaltet die Vorstellung von einer Welt ohne Missstände und Not. In einem utopischen Reich der Freiheit könnten die Menschen als autonome Subjekte zwischen verschiedenen Möglichkeiten die jeweils beste auswählen. Damit wäre es ihnen möglich, ihre wahre Bestimmung zu finden, sich zu dem zu entwickeln, was sie sein könnten. Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier war von 2002 bis 2014 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

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Freiheit bedeutet das Fehlen von Widerstand

Eva von Redecker hat den Begriff „Bleibefreiheit“ ins Leben gerufen. Sie meint damit, die Freiheit zu bleiben. Das ist natürlich paradox. Bleibezwang kann keine Freiheit sein. Schließlich ist Freiheit in der westlichen Tradition untrennbar mit Bewegungsfreiheit verknüpft. Thomas Hobbes begründet mit seiner Schrift „Leviathan“ Mitte des 17. Jahrhunderts die moderne politische Philosophie. Er erklärte etwa: „Freiheit bedeutet genau genommen das Fehlen von Widerstand, wobei ich unter Widerstand äußere Bewegungshindernisse verstehe.“ Gut einhundert Jahre später hieß es beim britischen Rechtsgelehrten William Blackstone weiterhin, dass individuelle Freiheit in „Lokomotion“, also Fortbewegungsfähigkeit bestünde. Die mechanische Vorstellung von Freiheit als ungehinderter Bewegung scheint vielleicht etwas simpel, aber unterliegt auch komplexeren Konzeptionen. Eva von Redecker ist Philosophin und freie Autorin. Sie beschäftigt sich mit der Kritischen Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik.

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Freiheit verlangt die Macht der Selbstbeherrschung

Die These, dass die Befreiung zur demokratisch-freien Subjektivität durch die Arbeit erfolgt ist, ist selbst eine demokratische These. Christoph Menke erklärt: „Es ist das Selbstverständnis der demokratisch Freien, dass sie sich ihre Freiheit selbst erarbeitet haben. Ihre aristokratischen Kritiker bestreiten das. Deren Gegenthese lautet, dass es vielmehr ohne Herrschaft – Herrschaft, nicht Arbeit – gar keine Freiheit gibt.“ Man muss daher Herrschaft über sich selbst ausüben können, um wahrhaft frei zu sein. Subjektivität wird durch Herrschaft konstituiert – in Friedrich Nietzsches Reformulierung dieses antidemokratischen Arguments: „Bei allem Wollen handelt es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen.“ Wenn die Demokraten glauben, sich durch die Arbeit selbst befreit zu haben, dann verdrängen sie demnach die entscheidende Wahrheit, dass die Freiheit die Macht der Selbstbeherrschung verlangt, ja dass sie diese Macht ist. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

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Alle Menschen gehören zu einer Kulturgemeinschaft

Erste Quelle der Freiheit ist die gesellschaftliche Herkunft des Menschen und seine Zugehörigkeit zu einer Kulturgemeinschaft. In seiner Freiheit ist der Mensch nicht allein. Paul Kirchhof erklärt: „Ihn leitet die Erfahrung des allen Menschen Gemeinsamen: Er erlebt anfangs unbewusst, dann selbstbewusst das Wachsen seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten von der Kindheit bis zum Erwachsensein, ist dabei eingebettet in eine Familie, ein kulturelles Umfeld, eine Rechts- und Sozialordnung, die ihn leitet und bei fehlerhaften, auch bei noch unverantwortlichem Handeln auffängt.“ Er wächst in eine Kultur elterlich und schulisch vermittelter Lebenssicht und Lebenserfahrung hinein, die ihn den Freiheitsgebrauch in wechselnden Zeiten lehrt. Er lebt in Konventionen – der Zusammenkunft von Menschen, die ihre Zukunft aus einer gemeinsamen Herkunft gestalten. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Kulturelle Vielfalt vergrößert die individuelle Freiheit

Amartya Sen stellt fest: „Die Freiheit, an der eigenen ethnischen Lebensweise festzuhalten, etwa was die Nahrungsgewohnheiten oder die Musik angeht, kann gerade infolge der Ausübung kultureller Freiheit die kulturelle Vielfalt einer Gesellschaft erhöhen.“ Die kulturelle Vielfalt ergibt sich in diesem Fall als unmittelbare Konsequenz aus der Wertschätzung der kulturellen Freiheit. Vielfalt kann auch für die nicht direkte Betroffenen eine positive Rolle spielen, indem sie deren Freiheit vergrößert. Eine kulturell vielfältige Gesellschaft kann für andere in dem Sinne vorteilhaft sein, dass sie aus einer großen Vielfalt von Erfahrungen schöpfen kann. Wenn es jedoch allein um die Freiheit – einschließlich der kulturellen Freiheit – geht, kann der kulturellen Vielfalt keine unbedingte Bedeutung zukommen. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Timothy Snyder erklärt die Bedeutung von Freiheit

In seinem neuen Buch „Über Freiheit“ beschreibt Timothy Snyder, was Freiheit bedeutet, wie sie oft missverstanden wird und warum sie für die Menschheit die einzige Chance ist zu überleben. Zudem versucht Timothy Snyder, Freiheit zu definieren. Diese Aufgabe beginnt mit der Rettung des Wortes vor übermäßigem Gebrauch und Missbrauch. Er fürchtet das Menschen in den Vereinigten Staaten, von Freiheit sprechen, ohne wirklich darüber nachzudenken. Timothy Snyder schreibt: „Amerikaner denken dabei oft an die Abwesenheit von etwas: von Besatzung, Unterdrückung oder sogar von Regierung. Ein Individuum ist frei, glauben wir, wenn die Regierung aus dem Weg ist. Negative Freiheit ist unser gängiges Verständnis.“ Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University und Permanent Follow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien.

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Unsichtbarkeit ist eine Form der Unfreiheit

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ ist nicht das einzige Buch, in dem Hannah Arendt das Problem des Ausschlusses als eines von Unsichtbarkeit und Unwirklichkeit adressiert. In „Über die Revolution“ wird Unsichtbarkeit, ein Leben in Dunkelheit, als eine besonders weitreichende Form von Unfreiheit identifiziert. Juliane Rebentisch stellt fest: „Es ist bezeichnend, dass über Arendts ansonsten sehr positives Bild der Amerikanischen Revolution gerade in diesem Kontext ein gewaltiger Schatten fällt.“ Der relative Erfolg der Amerikanischen gegenüber der Französischen Revolution beruht für Hannah Arendt darauf, dass diese sich in einem positiven, durch Teilhabe an öffentlichen Belangen bestimmten Begriff politischer Freiheit orientiert habe. Dagegen sei die Französische ganz unter dem Eindruck der Not der Elenden gestanden und habe über deren Bekämpfung einen solchen positiven Begriff politischer Freiheit verloren. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

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Michel de Montaigne ließ seinen Gedanken freien Lauf

Philipp Blom stellt fest: „Michel de Montaignes aufmerksame Beobachtung und sein Mut, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, auch wenn sie den Konventionen der Zeit und den Dogmen des Glaubens zuwiderliefen, hat ihn zu einem persönlichen Freund von vielen Generationen lesender und denkender Menschen gemacht, die gerade diese Freiheit bewunderten und bewundern.“ Für das immer klarer formulierte Projekt, sich die Erde untertan zu machen, war dieses Denken allerdings nicht brauchbar. Es war auch nicht nötig, denn sein Zeitgenosse Francis Bacon (1561 – 1626), selbst ein begeisterter, wenn auch offensichtlich kein vollkommen überzeugter Leser der berühmten „Essais“, entwickelte die theoretische Grundlage dafür. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Jeder Bürger sollte seine Ziele selbst wählen können

Die voluntaristische Auffassung von Freiheit, die sich in der Debatte über Lohnarbeit herausbildete, bestimmte allmählich auch andere Aspekte der Politik und Rechtsprechung in Amerika. Michael J. Sandel blickt zurück: „Die Vorstellung, der Staat solle den moralischen und zivilgesellschaftlichen Charakter seiner Bürger formen, schwächte sich im Lauf des 20. Jahrhunderts ab.“ Stattdessen verbreitete sich der Gedanke, der Staat solle gegenüber den von seinen Bürgern unterstützten Werten neutral sein und die Fähigkeit jeder Person respektieren, die je eigenen Ziele selbst zu wählen. In den Jahrzehnten nach den Zweiten Weltkrieg spielte das voluntaristische Ideal beispielsweise eine herausragende Rolle, als der Wohlfahrtsstaat und die gesetzliche Ausweitung individueller Rechte begründet werden sollten. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

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Viele Menschen geben die Zukunft quasi auf

Sobald Menschen zu viele schlechte Prognosen hören, fallen sie in eine Art Starre. Florence Gaub erläutert: „Anstatt zu handeln, Entscheidungen zu treffen, und etwas vorzustellen und die Zukunft zu beeinflussen, tun wir nichts. Wir geben die Zukunft quasi auf.“ Das ist an sich schon schlimm genug, aber das ist noch nicht alles. Negative Zukünfte können nämlich mit positiven ausbalanciert werden, ja meistens ist die Zukunft eine Mischung aus beiden, aber da, wo früher eine erstrebenswerte Zukunft lag, gähnt nun eine Leere. Früher bestand für die meisten Westeuropäer die gute Zukunft aus Wohlstand und Freiheit, und sie ging einher mit dem Wunsch, diese Zukunft in den Rest der Welt zu exportieren. Dr. Florence Gaub ist Politikwissenschaftlerin, Militärstrategin und Zukunftsforscherin. Sie leitet als Direktorin den Forschungsbereich NATO Defense College in Rom.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg hat eine moralische Revolution eingesetzt

Vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Welt eine unvorstellbare moralische Revolution erlebt, eine Erfolgsgeschichte des Guten, von der Umsetzung der Menschenrechte bis hin zur Verbreitung von Demokratie und Freiheit. Philipp Hübl fügt hinzu: „Gleichzeitig sind Krieg, Gewalt, Krankheiten, Armut und Hunger dramatisch zurückgegangen, was innerhalb eines Jahrhunderts zu einer Verdopplung der Lebenserwartung weltweit von etwa 35 Jahren auf über 70 Jahre geführt hat.“ Noch um das Jahr 1900 war die weltweite Kindersterblichkeit so hoch, dass fast jedes zweite Kind das fünfte Lebensjahr nicht erreichte. Heute sterben zwar immer noch vier Prozent aller Kinder, aber das ist weniger als ein Zehntel des ursprünglichen Anteils. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

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Gesetzmäßigkeiten findet der Mensch in der Natur

Wenn sich Lebensweise, Erwartungen, Werte verändern, Wissenschaft und Technik neue Bedingungen des Lebens schaffen, versucht der Mensch die neuen Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Zudem versucht er sie mit den ihm vertrauten Gesetzen in Einklang zu bringen. Paul Kirchhof erläutert: „Er braucht Leitgedanken für sein Leben, Maßstäbe für sein Entscheiden, Methoden für sein Erkennen und Ziele für sein Wollen. Diese Gesetzmäßigkeiten findet er in der Natur und in der Menschlichkeit.“ Die Natur erschließt er sich vor allem durch Beobachten und Experimentieren, die Menschlichkeit durch Verständnis, Erfahrung, Einsehen und Beurteilen. Der Mensch bildet bewusst Regeln für das Zusammenleben, erprobt Verfahren der Willensbildung und Verständigung. Die Gesetze sind seit langem gewachsene, angeborene, in der Natur des Menschen von jeher angelegte Stützen menschlicher Freiheit. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Die Freiheit muss auch nein sagen

Es gibt nicht nur das Glück der Freiheit, sondern auch das Glück der Unterwerfung. Christoph Menke erläutert: „Und daher kann die Freiheit nicht nur lustvoll-affirmativ sein – sie kann nicht nur sein –, sondern sie muss Nein sagen.“ Die Freiheit sagt: „Nieder mit dem Glück der Unterwerfung.“ Alle Bestimmungen, die das Sein der Freiheit oder die Freiheit als eine Seinsweise beschreiben, sind zutiefst zweideutig. Zum Beispiel im Außersichsein dabei zu sein, dies lustvoll zu erfahren und zu bejahen. So können Bestimmungen der Freiheit oder der Knechtschaft sein. Deshalb muss die Freiheit über das Sein – das Sein, das die Freiheit ist: dass sie für den ist, der frei ist – hinausgehen und eine Unterscheidung treffen. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

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Alte Menschen verurteilen neue Ideen oft sehr schnell

In den Niederlanden gibt es offene Entscheidungsträger, die schauen sich ein revolutionäres Konzept vorurteilsbefreit an und denken nicht gleich: „Kenne ich das schon oder wie alt ist die Person, die das gerade vorschlägt?“, sondern sie fragen vorurteilsfrei: „Ist das eine gute Idee? Hat das Potenzial?“ Sie verwenden ihr Wissen, um wirklich genau zu schauen, bevor sie bewerten. In Österreich dagegen hat Andreas Salcher oft erlebt, dass die Wahrscheinlichkeit höher ist, auf Leute vor allem aus der älteren Generation zu treffen, die gleich am Anfang sagen: „Nein das kann ja nie funktionieren.“ Solange keine zwei Doktortitel vor dem Namen einer Person stehen, hat sie für diese Menschen keine Glaubwürdigkeit. Dr. Andreas Salcher ist Mitgebegründer der „Sir Karl-Popper-Schule“ für besonders begabte Kinder. Mit mehr als 250.000 verkauften Büchern gilt er als einer der erfolgreichsten Sachbuchautoren Österreichs.

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Beim Schutz von Vulnerablen geht Freiheit auf allen Seiten verloren

Die Kennzeichnung von Menschen als vulnerable dient dazu, deren Anliegen und Interessen als besonders bedeutsam zu markieren und die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen. Was allerdings eher neu zu sein scheint, ist der Umfang, in dem Vulnerabilitäten ernstgenommen werden. Frauke Rostalski schreibt in ihrem neuen Buch „Die vulnerable Gesellschaft“: „Aktuelle Debatten über Vulnerabilität lassen sich deshalb zugleich für ein Zeichen dafür deuten, dass eine Wertediskussion ansteht und ein Wertewandel im Gang ist – ein Wandel, der nicht zuletzt mit rechtlichen Mitteln vollzogen werden soll.“ Damit tritt aber eine weitere Kategorie auf den Plan, die für das gesellschaftliche Miteinander von besonderer Bedeutung ist: die Freiheit. Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsrecht, Medizinstrafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln.

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Die Freiheit ist die Kraft des Anfangens

Es gibt zwei selbstwidersprüchliche Auffassungen des Werdens der Freiheit. Christoph Menke erklärt: „Die eine Auffassung, als Geschehen, versteht nicht das Werden der Freiheit; sie gelangt nicht bis zur Freiheit. Die andere Auffassung, als Tat, versteht nicht das Werden der Freiheit; sie beginnt schon mit der Freiheit.“ Das Werden der Freiheit lässt sich nur begreifen, wenn man diesen Gegensatz von Aktivität und Passivität aufzulösen vermag. Die Befreiung muss sich von diesem Gegensatz befreien; sie muss das Werden befreien. Es gibt zwei verschiedene Konzeptionen des Denkens und seiner Freiheit: ein idealistisches und ein ästhetisch-materialistisches Konzept des Denkens. Die Freiheit ist wesentlich negativ. Sie ist die Negation der Unfreiheit. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

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Vielen Menschen ist am Schutz von Minderheiten gelegen

Markus Gabriel stellt fest: „Minderheiten kann man keineswegs stets den Anspruch zugestehen, Gehör zu finden und bei Entscheidungsprozessen mit am Tisch zu sitzen.“ Pädokriminelle, Antidemokraten, eindeutige Verfassungsfeinde, Mörder usw. haben aufgrund ihrer moralischen Defizite schlichtweg nicht das Recht, als Minderheiten vor institutioneller Härte geschützt zu werden. Vielen Menschen ist jedoch zu Recht am Schutz von Minderheiten gelegen. Zu schützende Minderheiten sind meistens solche, denen man nachweisbar Unrecht angetan hat. Man muss sie besonders schützen, um ihnen das volle moralische und juristische Recht zukommen zu lassen, dessen man sie beraubt hat. Es gehört zu der moralisch empfehlenswerten Seite der Demokratie, dass sie zu Unrecht unterdrückten Minderheiten Gehör verschafft. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Das Leiden an Trostlosigkeit breitet sich in einer sterbenden Welt aus

Der australische Naturphilosoph Glenn Albrecht hat 2005 den Begriff der „Solastalgie“ geschaffen, um das Trauma zu beschreiben, das durch den Verlust der vertrauten ökologischen Umwelt entsteht. Eva von Redecker ergänzt: „Nostalgie, aber in Echtzeit: eine Sehnsucht nicht nach Vergangenem, sondern nach dem, was man für unverrückbar gegenwärtig hielt.“ Das Wort, das sich aus dem lateinischen „solacium“ – Trost – und dem griechischen „algia“ – Leid – zusammengebaut ist, kommt einem nicht gerade leicht über die Lippen. „Leiden an Trostlosigkeit“: Das beschreibt nicht schlecht, was Menschen in einer sterbenden Welt befällt. Aber der Neologismus macht Eva von Redecker stutzig, weil in ihm so viel fehlt. Es kommt weder die Welt vor, auf die sich die Sehnsucht richtet, noch der Grund ihres Verlusts. Eva von Redecker ist Philosophin und freie Autorin. Sie beschäftigt sich mit der Kritischen Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik.

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Ein Wissenschaftler versucht die Welt zu verstehen

Der Wissenschaftler denkt menschlich – wie sollte es auch anders sein. Er beurteilt und bewertet die Welt und den Menschen aus seiner Perspektive. Er sucht die Welt zu verstehen, die Naturgesetze zu nutzen, um die Bedingungen des menschlichen Lebens zu verbessern und um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Der Wissenschaftler dient allgemein menschlichen Zielen, sucht seinen Beitrag zum Gelingen des menschlichen Zusammenlebens zu erbringen. Paul Kirchhof weiß: „Deshalb ist er offen für alle Formen menschlichen Erfahrens, Messens, Beurteilens, Verstehens. Eine Beschränkung auf nur eine Form menschlichen Erkennens wäre einengend, widerspräche der vernünftigen und beherzten Freiheit.“ Dies gilt auch für eine Erfahrungswissenschaft, die ihre Fragestellungen nicht nur den Erkenntnisformen der Kausalität, des Experiments, der rationalen Erfahrung und Berechenbarkeit verdankt. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Die Freiheit ist das bestimmende Kennzeichen der Demokratie

Den Begriff der Freiheit durchzieht von seiner griechischen Entdeckung her eine gewisse Spannung. Der Schritt, der von der einen zur anderen Seite führen kann, zeigt sich exemplarisch an der Existenz der Demokratie. Denn die Freiheit, sagt Aristoteles, ist ihr „bestimmendes Kennzeichen“. Christoph Menke ergänzt: „Die Freiheit definiert die Würdigkeit in der Demokratie – sie ist es, was die Demokratie hochschätzt, ja, worin sie nach Perikles ihr Glück sieht.“ Das kann auf zwei ganz verschiedene, ja entgegengesetzte Weisen verstanden werden. Das erste Verständnis ist politisch. Es definiert, so Herodot, die demokratische Freiheit als die „Herrschaft des Volkes“, durch die „Gleichberechtigung aller“. Demokratische Freiheit heißt, so erläutert Thukydides, dass „in den Streitigkeiten der Bürger alle ihr gleiches Teil“ haben. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

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Die Bürger sind für eine stabile Demokratie verantwortlich

Das neue Philosophie Magazin 04/2024 geht im Titelthema der Frage nach: Ist die Demokratie auf Sand gebaut? Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler schreibt dazu: „Tatsächlich erlebt wohl jeder Mensch diese Momente, in denen man am Fundament unserer Staatsform, die alle Macht dem Volk verleiht, schier verzweifelt.“ Auch wenn alle Macht beim Volk liegt, gibt es kein Prüfsiegel für Mündigkeit und moralische Integrität. Niemand muss vor dem Wahlgang beweisen, dass er urteilsfähig ist. Der Rechtsphilosoph und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde sagt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Demokratien sind nur so lange stabil, wie die Bürger bestimmte, freiheitliche Werte teilen. Etwa, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist.

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Der politische Gehalt der Freiheit verändert sich ständig

Der politische Gehalt dessen, was Freiheit sein soll, hat sich im Lauf der Zeiten immer wieder verändert. Hans-Jürgen Papier blickt zurück: „Im klassischen Griechenland war die Demokratie Sache der Freien, Besitzenden und Gebildeten. Das schloss die große Mehrheit der Menschen aus. In den feudalen Gesellschaften des Mittelalters herrschten starke Hierarchien und eine unverrückbare Ordnung von Abhängigkeiten. Der Grad an Freiheit des einzelnen Menschen hing vom Grad seiner Macht ab.“ Einer überwiegenden Mehrheit unfreier Bauern stand eine sehr viel kleinere Gruppe von Freien, Lehnsherren und Lehnsleuten gegenüber. Die Lehnsleute wiederum waren ihren Lehnsherren als Vasallen verpflichtet, Dients und Gehorsam zu leisten. Da die Kirche nicht mehr wie im Römischen Reich Staatskirche war, gab es nebeneinander weltliche und kirchliche Herrscher und Hierarchien. Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier war von 2002 bis 2014 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

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Konflikte sind nicht problematisch

Jan-Werner Müller weiß: „Gleichheit, ob nun im sozialen Sinne oder im Sinne gleicher politischer Grundrechte, bedeutet nicht Unterschiedslosigkeit oder Homogenität.“ Das Gegenteil von Gleichheit ist nicht Vielfalt – die mit politischer Gleichheit vollkommen verträglich sein kann –, sondern Ungleichheit. Zudem verlangen weder politische noch soziale Gleichheit, dass Menschen immer einer Meinung wären. Eines der am weitesten verbreiteten Missverständnisse bezüglich demokratischer Politik der Gegenwart besagt, Spaltung und Konflikt wären an sich problematisch oder sogar gefährlich. Denn die Bürger haben ganz unterschiedliche Vorstellungen über ein gutes Leben für sich selbst und auch über das Gemeinwohl. Diese Unterschiede lassen sich nicht allein auf Irrationalität, mangelnde Information oder ein Fehlen der rechten politischen Bildung zurückführen. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.

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Der Mensch gewinnt die Herrschaft über die Natur

Paul Kirchhof stellt fest: „Was der Mensch aus eigener Kraft nicht kann, gelingt ihm durch die Herrschaft über die Natur.“ Er gewinnt sie, indem er die Gesetzmäßigkeiten der Natur für seine Ziele einsetzt. Er beherrscht auch andere Menschen, die Gesetzmäßigkeiten der Natur für ihre Zwecke nutzen wollen. Diese werden nun durch Gegenkräfte gehemmt. Je mehr der Mensch seine Fähigkeiten und Kenntnisse erweitert, desto mehr stimmt er sich mit anderen Menschen ab, die auf andere Weise die Natur beherrschen. Die Geschichte der Freiheit beginnt mit dem Kampf gegen die Naturgewalten. Aus diesen löst sich der Mensch nach und nach. Er gewinnt Herrschaft über Teile der Natur. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Die Demokratie ist der einzige Weg zur Gerechtigkeit

Politische Gleichheit darf man nicht opfern. Danielle Allen betont: „Meiner Meinung nach ist die Demokratie der Weg zur Gerechtigkeit, und zwar der einzige.“ Es mag zwar sein, dass mildtätige Autokraten für materiellen Wohlstand in der Bevölkerung sorgen, aber sie werden qua Definition niemals die Grundlage für volles menschliches Wohlergehen schaffen. Und deshalb niemals vollumfängliche Gerechtigkeit erreichen. Dennoch gibt es zum Trotz immer Menschen, die einen anderen Weg wählen und auf Demokratie verzichten. Das nimmt Danielle Allen als unvermeidliche Gegebenheit des Lebens hin. Richtig verstandene Gerechtigkeit beruht auf politischer Gleichheit und den ihr zugrunde liegenden Institutionen. Danielle Allen ist James Bryant Conant University Professor an der Harvard University. Zudem ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

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