„Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Friedrich Hölderlins Spruch könnte sich in diesem Fall an der zunehmenden Verweigerung, nur tätig zu sein um des Tätigsein willens, bewahrheiten. Lisz Hirn stellt fest: „Diese zunehmende Verweigerung der jüngeren Generation ist der ultimative Widerstand gegen ein System des endlosen Ver- und Missbrauchens, das zwangsläufig ruhelos und zerstörerisch sein muss.“ Höchstwahrscheinlich wird die künstliche Intelligenz das kapitalistische Selbstverständnis weiter infrage stellen, indem ihre Auswirkungen vielleicht zu einer Revolte gegen sinnlose Arbeit per se oder auch gegen den Wert des Menschen, der sich durch seine Arbeit bemisst, führen. Viele Menschen haben den Zweck der Arbeit aus dem Blick verloren. Lisz Hirn arbeitet als Publizistin und Philosophin in der Jugend- und Erwachsenenbildung, unter anderem am Universitätslehrgang „Philosophische Praxis“.
Arbeit
Reaktionäre stemmen sich gegen das Mehrdeutige
„Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“: Reaktionäre haben klare Kategorien. Ihre zweigeteilte Welt ist konfliktuell – Elite versus Volk, Nation versus Fremde, wir versus die anderen. Roger de Weck weiß: „Sie stemmen sich gegen das Mehrdeutige, das eine lebendige Gesellschaft prägt.“ In der Transformation von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik stimmen viele einst eindeutige Kategorien nicht mehr. Ihre alte Klarheit ist nicht auf der Höhe der neuen Unübersichtlichkeit. Beispielsweise gerät die Arbeitsgesellschaft in immer größere Verlegenheit, den Begriff der Arbeit überhaupt zu erfassen. Der bewegliche Laptop hat die Einteilung in Büroarbeit und Heimarbeit gesprengt. Im Netz verwischt die Zweiteilung in Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Und die unbezahlte Arbeit, zum Beispiel die Care-Arbeit, die in der Volkswirtschaftslehre nicht als Arbeit vorgesehen war, wurde endlich als maßgebend entdeckt. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Die Liebe findet in Debatten kaum Berücksichtigung
Emanuele Coccia weiß: „Es ist kein Zufall, dass alle großen moralischen Revolutionen, die unserer Vorstellung von Fortschritt entsprechen, mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und einer größeren Freiheit der Liebe einhergingen.“ Dennoch findet die Liebe in den öffentlichen und akademischen Debatten nach wie vor kaum Berücksichtigung. Zwar beschäftigen sich Teilbereiche der Soziologie und des Feminismus mit der Liebe und ihren Erscheinungsformen. Doch insgesamt erachtet man sie als wenig lohnendes Forschungsobjekt, das eher in Boulevardblätter gehört. Die Liebe, so meint man, fällt eher ins Fachgebiet von Priestern, Katecheten und Psychoanalytiker. Dieses Ungleichgewicht in der Betrachtung von Liebe und Arbeit ist der eigentliche Grund dafür, dass es einfach nicht gelingen will, das Projekt Moderne vollständig zu verwirklichen. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.
Beim Einkommen ist die Ungleichheit in Deutschland sehr hoch
Marcel Fratzscher stellt fest: „Deutschland ist zweifellos eines der reichsten Länder der Welt mit der höchsten Produktivität der Beschäftigten und Unternehmen. Die Löhne und Einkommen sind daher im internationalen Vergleich hoch. Aber die Lebenshaltungskosten sind ebenfalls hoch. Und sie sind durch steigende Mieten gerade in den Städten in den vergangenen Jahren für Beschäftigte mit geringen Einkommen nochmals deutlich gestiegen. Ungewöhnlich viele Menschen können also nicht sparen, weil sie ihr komplettes monatliches Einkommen für ihren Lebensunterhalt benötigen. Bei den Markteinkommen, also den monatlichen Einkommen vor Steuern und Abgaben, ist die Ungleichheit in Deutschland im internationalen Vergleich recht hoch. Sie liegt im oberen Drittel aller Industrieländer. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die Sinnsuche im Job hat epidemische Ausmaße angenommen
Ingo Hamm schreibt: „Wir alle haben keine Sklavenjobs. Niemand von uns muss auf der Galeere rudern oder im Steinbruch Brocken klopfen. Auch verdienen die meisten von uns – hier in der westlichen Welt – ganz ordentlich.“ Es reicht um Leben und es reicht gut, auch wenn viele auf hohem Niveau, sprich mit schönem Häuschen und Drittwagen für den studierenden Filius, klagen. Die meisten Menschen können also zufrieden sein. Im Großen und Ganzen. Nur sie sind es definitiv nicht. Die Sinnsuche im Job hat inzwischen epidemische Ausmaße angenommen wie auch das generelle „Unbehagen in der Arbeitskultur“, wie es Sigmund Freud betiteln würde. Findige Arbeitgeber spüren natürlich dieses brodelnde Unbehagen – eventuell auch und gerade bei sich selbst. Dr. Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt.
Glück ist eine Lebensberufung
Einschlägige Ratgeber, therapeutische Anweisungen, esoterische Verheißungen machen heutzutage Propaganda für das Glück. Wer genauer hinschaut, erkennt bald, dass es darin meist gar nicht um Glück, sondern um Zufriedenheit geht. Es geht dabei um den Menschen, den man mit einer erneuerbaren, im eigenen Seelenkraftwerk hergestellten Energie ausstattet. Karl-Markus Gauß erklärt: „Gelehrt wird eine besondere Technik der Selbstregulierung, die vor extremen Stimmungen schützt und dem fleißig Lernenden vermittelt, wie er mit sich, den anderen, dem Gegebenen auskommen könne, und dies ein ganz zufriedenes Leben lang.“ Dagegen spricht auch nichts, außer das Glück etwas anderes ist, nämlich eine Lebensberufung. Karl-Markus Gauß lebt als Autor und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ in Salzburg. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet.
Benjamin Franklins Devise lautet: „Zeit ist Geld“
In Benjamin Franklins Devise „Zeit ist Geld“ steckte nicht zuletzt auch seine Überzeugung, für fleißiges Arbeiten müsse es immer eine Belohnung geben. Handel sei nichts anderes, erklärte er, „als der Austausch von Arbeit gegen Arbeit“ und daraus folge, dass sich „der Wert aller Dinge […] am gerechtesten in Arbeit messen lässt. James Suzman stellt fest: „Das Dogma, dass fleißiges Arbeiten Wert schafft, wird fast überall auf der Welt schon Kindern per Tröpfchen-Infusion oder mit harter Hand verabreicht.“ Dabei haben die Eltern die Hoffnung, man könne ihnen dadurch eine gute Arbeitsethik einimpfen. Tatsächlich besteht in den größten Volkswirtschaften der Welt bis heute kaum eine sichtbare Entsprechung zwischen Arbeitszeit und geldwerter Belohnung dafür. James Suzman ist Direktor des anthropologischen Thinktanks Anthropos und Fellow am Robinson Collage der Cambridge University.
Einzigartigkeit ist hoch angesehen
Andreas Reckwitz stellt fest, dass es dem Subjekt der neuen Mittelklasse um erfolgreiche Selbstverwirklichung geht. Das heißt, um persönliche Befriedigung im Rahmen eines anerkannten sozialen Status. In diesem Sinne baut es auf Strategien und Kompetenzen des modernen Bürgertums auf. Dessen Erbe hat die Akademikerklasse in vielen Hinsichten angetreten. Andreas Reckwitz erläutert: „Die permanente Investition in den sozialen Status liefert hier den notwendigen Hintergrund für die Kulturalisierungen und Singularisierungen des Lebensstils. Diese Kopplung von Authentizitäts- und Erfolgsstreben prägt die Lebensführung der neuen Mittelklasse auf mehreren Ebenen.“ Grundlegend ist zunächst, dass die anerkannte Berufsarbeit in klassischer Manier ihre Basis bildet. Sie findet nun im Wesentlichen in der hochqualifizierten Wissens- und Kulturökonomie statt. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.
Das Schicksal spiegelt die Verdienste wider
Michael J. Sandel betont: „Der Gedanke, dass unser Schicksal unsere Verdienste widerspiegelt, ist in der moralischen Intuition der westlichen Kultur tief verwurzelt.“ Die biblische Theologie lehrt, dass Naturereignisse aus einem Grund heraus geschehen. Günstiges Wetter und eine reiche Ernte sind göttliche Belohnungen für Wohlverhalten. Dürre und Pestilenz sind Strafen für Sünden. Aus der Entfernung des heutigen wissenschaftlichen Zeitalters mag diese Denkungsart naiv oder gar kindlich erscheinen. Doch sie liegt nicht so fern, wie es zunächst erscheint. In Wahrheit ist diese Auffassung der Ursprung des meritokratischen Denkens. Sie spiegelt die Überzeugung wider, dass das moralische Universum auf eine Weise geordnet ist, die Wohlstand mit Verdienst und Leiden mit Übeltaten verknüpft. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph, der seit 1980 in Harvard lehrt. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.
Ethische Entscheidungen sind schwer zu treffen
Wenn man schwierige ethische Entscheidungen treffen muss, ist die Sachlage meist unklar. Das betrifft insbesondere Personen in moralisch anspruchsvollen und verantwortungsvollen Berufen, etwa Ärzte, Klinikdirektoren und Politiker. Markus Gabriel erklärt: „Die Corona-Krise hat uns dies in manchen Ländern in voller Härte vor Augen geführt.“ Teilweise musste darüber entschieden werden, wer leben darf und wer eventuell sterben muss. Entscheidungen, die viele Menschen traumatisieren werden. Diese Notsituation offenbart nur, was auch durchweg der Fall ist. Denn die Ressourcen auf der Erde sind knapp und werden durch internationale Politik und die globalen Produktionsketten der Wohlstandsgesellschaft gesteuert. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Es entwickelt sich eine neue Form des Rechnens
Die Französische Revolution wollte eine aristokratische Gesellschaft vernichten, die ein glanzvolles Leben geführt und Millionen für üppige Festbanketts ausgegeben hatte. Die Aristokraten kümmerten sich nicht im Mindesten darum, wenn die Bauern unter der Last maßloser Steuern verhungerten. Gerd Gigerenzer ergänzt: „Ein Nebeneffekt der Revolution war der Versuch, die Messsysteme rationaler zu gestalten: ein Dezimalsystem zur Messung von Gewicht, Länge und fast allem anderen einzuführen.“ Das neue System verlangte die Berechnung von logarithmischen und trigonometrischen Tabellen. Das war eine schwierige Aufgabe, die man bisher mathematischen Ausnahmetalenten überlassen hatte. Doch die Französische Revolution entwickelte auch eine neue Version des Rechnens. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.
Den Beruf fürs Leben gibt es nicht mehr
Arbeitnehmer in Deutschland müssen heute und in Zukunft zu Lasten des Familienlebens permanente berufliche Mobilität beweisen. Zudem gibt es immer mehr zeitlich befristete Jobs. Und berufliche Laufbahnen von der Ausbildung bis zum Ruhestand sind für künftige Generationen kaum mehr möglich. Neue Beschäftigungsformen machen den „Beruf fürs Leben“ zur Ausnahme und den Zweitjob neben dem Teilzeitarbeitsplatz bald zur Regel. Horst Opaschowski weiß: „Die meisten Berufstätigen befürchten für die Zukunft neben wachsender Arbeitsplatzunsicherheit mehr Druck und Stress im Arbeitsleben.“ Eine problematische Perspektive für die neue Generation, die mit Gefordert-, Überfordert- und Ausgebranntsein leben muss.“ Horst Opaschowski gründete 2014 mit der Bildungsforscherin Irina Pilawa das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung. Bis 2006 lehrte er als Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Ab 2007 leitete er die Stiftung für Zukunftsfragen.
James Suzman kennt die Geschichte des Lebens
Die lange Geschichte des Lebens auf der Erde beruht nach heutiger Auffassung auf der Fähigkeit des Lebens, Energie aus fortschreitend neuen Quellen zu gewinnen. James Suzman erläutert: „Zuerst aus der Wärme des Erdmantels, dann aus dem Sonnenlicht, dann aus Sauerstoff und schließlich auch aus dem Fleisch anderer Lebewesen.“ Parallel dazu entwickelten sich zunehmend komplexere, energiehungrigere und mehr Arbeit im physikalischen Sinn leistende Lebensformen. Die ersten Lebewesen auf dem Planeten Erde waren mit großer Sicherheit einfache einzellige Organismen. Diese besaßen, wie die Bakterien, weder einen Zellkern noch Mitochondrien. Sie „ernährten“ sich wahrscheinlich von der durch biochemische Reaktionen zwischen Wasser und Gestein freigesetzten Energie. Dabei lernten sie diese Energie auf ein hochspezialisiertes Molekül zu übertragen. James Suzman ist Direktor des anthropologischen Thinktanks Anthropos und Fellow am Robinson Collage der Cambridge University.
Leben heißt arbeiten
Der physikalische Begriff „Arbeit“ bezeichnet heute alle Prozesse, bei denen man Energie überträgt. Sei es auf kosmischer Ebene bei der Entstehung von Galaxien oder Sternen oder sei es im subatomaren Bereich. James Suzman fügt hinzu: „Naturwissenschaftlich betrachtet, wurde bei der Entstehung des Universums Arbeit in ungeheurer Größenordnung geleistet.“ Das Leben ist ein erstaunliches Phänomen und alles Lebendige unterscheidet sich fundamental von toter Materie. Denn es ist die Vielfalt höchst ungewöhnlicher Arten von Arbeit, die lebende Organismen leisten. Lebende Dinge besitzen eine Reihe spezieller Merkmale, die man bei toter Materie nicht findet. Das offenkundigste und wichtigste dieser Merkmale ist, dass lebende Dings selbsttätig Energie zapfen. James Suzman ist Sozialanthropologe und Autor des Buches „Wohlstand ohne Überfluss“. In diesem Werk porträtierte er die Gesellschaften der Jäger und Sammler als erste Wohlstandsgesellschaften.
Meistens funktioniert der Wettbewerb nicht richtig
Verfechter der freien Marktwirtschaft argumentieren oft, die Aufteilung des nationalen Einkommenskuchens hänge vom Wirken unpersönlicher Marktkräfte ab. Das ist für Joseph Stiglitz vergleichbar mit den physikalischen Kräften, die das Körpergewicht eines Menschen festlegen. Niemand möchte das Gravitationsgesetz widerrufen. Manchmal zeigt die Waage an, dass man zu viele Pfunde drauf hat. Dafür kann man nicht die Schwerkraft verantwortlich machen, sondern muss sich um seine Essgewohnheiten kümmern. Joseph Stiglitz stellt fest: „Aber die wirtschaftswissenschaftlichen Gesetze unterscheiden sich von den Gesetzen der Physik. Märkte gestaltet man durch die staatliche Rechtsordnung, und auf den meisten funktioniert der Wettbewerb nicht richtig. Die Rechtsordnung legt insbesondere fest, wer wie viel Marktstärke besitzt.“ Joseph Stiglitz war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford. Er wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.
Die Technik ist ein großer Wachstumsfaktor
Zwei Lager stehen sich bei der Debatte über die Zukunft der Arbeit gegenüber, deren Prognosen gegensätzlicher nicht sein könnten. Richard David Precht erläutert: „Die einen sehen Zeiten der Vollbeschäftigung voraus. Hat nicht der technische Fortschritt immer die Produktivität erhöht und die Anzahl der Arbeitenden?“ Sie können dabei auf den amerikanischen Nobelpreisträger Robert Solow verweisen. Seiner Meinung nach hat der technische Fortschritt stets eine gewaltige Steigerung der Produktivität ermöglicht. Nicht Arbeit und Kapital, sondern vielmehr die Technik sei der entscheidende Wachstumsfaktor. Auf der anderen Seite sagte der britische Ökonom John Maynard Keynes im Jahr 1933 voraus, der Fortschritt in den Industrieländern würde zu einer Massenarbeitslosigkeit führen. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Breite Gruppen der Bevölkerung erleiden Verluste
Nicht nur Menschen mit sehr hohem Einkommen und Vermögen müssen in der Coronakrise Einbußen hinnehmen. Clemens Fuest weiß: „Breite Gruppen der Bevölkerung erleiden Verluste, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Altere Menschen sind anders betroffen als junge, Selbstständige anders als abhängig Beschäftigte.“ Das Ausbildungsniveau, der Sektor, in dem man arbeitet, all das spielt eine Rolle. Rentner und Pensionäre erleiden zumindest kurzfristig quasi keine Einkommensverluste. Allerdings haben ältere Menschen höhere Ersparnisse. Bei Unternehmen und Freiberuflern besteht die Altersversorgung oft ganz aus angespartem Kapital. In dieser Gruppe dürfte es durch die Coronakrise hohe Verluste geben, weil viele Vermögensanlagen an Wert verloren haben. Unter denjenigen, die noch im Arbeitsleben stehen, ist die Betroffenheit ebenfalls sehr unterschiedlich. Clemens Fuest ist seit April 2017 Präsident des ifo Instituts.
Der Sinn in der Arbeit ergibt keinen Sinn
Ingo Hamm zeigt in seinem neuen Buch „Sinnlos glücklich“ neue Wege der Psychologie und Philosophie, um dem Unsinn mit dem Sinn zu entkommen. Er erklärt dabei, wie man im Arbeitsleben ohne Sinn auskommt. Denn es ist die Tätigkeit an sich, die glücklich macht, wenn man das tut, was man gerne macht und immer schon gut konnte. Laut Ingo Hamm ist nun die Zeit für einen „Existenzialismus der Arbeit“ gekommen. Dort bestimmen pures Erleben, Freiheit und Selbstbestimmung den Beruf. Wie eine Umfrage des Job-Netzwerks Xing ergab, legen Menschen großen Wert darauf, dass ihr Job sinnstiftend ist. Gehalt und Status liegen bei vielen nicht mehr an erster Stelle. Der Purpose ist der neue Heilige Gral des westlichen Arbeitslebens. Dr. Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt.
Die industrielle Revolution verstärkte den Konsum
Konsum als Lebensmodell hat, so seine Befürworter, die beste aller Welten geschaffen. Je mehr Gesellschaften konsumieren, desto innovativer sind sie, desto wohlhabender, sicherer, friedlicher. Und nicht nur das: Durch die Massenproduktion wurde es möglich das Los aller Menschen zu verbessern. Philipp Blom nennt Beispiele: „Nie waren so wenige Menschen hungrig wie heute, nie konnten mehr Menschen lesen und schreiben. Nie war die Kindersterblichkeit niedriger, nie lebten mehr Menschen in Demokratien oder in stabilen Staaten mit demokratischen Zügen.“ Ohne Konsumkonjunktur und ohne die fossilen Brennstoffe, die sie schufen, wäre nichts von alledem möglich gewesen. Richtig, sagen die Kritiker. Unsicher ist allerdings, ob dieses Modell eine Zukunft hat. Fraglich ist auch wie lange es durchgehalten werden kann, bevor die Risiken, die es geschaffen hat, erdrückend werden. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.
Die Kritische Theorie ist aktueller denn je
Die „Kritische Theorie“ ist das Thema der neuen Sonderausgabe 19 des Philosophie Magazins. Die Chefredakteurin Catherine Newmark schreibt in ihrem Editorial: „Das innige Zusammenwirken von Theorie und Praxis, von Verstehen und Handeln, ist sicherlich eines der Hauptmerkmale der sogenannten „Kritischen Theorie“, auch bekannt als „Frankfurter Schule“, angefangen bei ihren Gründungsvätern Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – und bis heute.“ Was die Überlegungen derjenigen antreibt, die sich dieser philosophischen Denkrichtung verpflichtet fühlen, ist der Stachel der Unzufriedenheit. Den Auftakt der Sonderausgabe macht ein großes Interview mit Jürgen Habermas, der zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart zählt. An der aktuellen Politik kritisiert er, dass sie auf Orientierung, Gestaltungswillen und Perspektive verzichtet. Sie passt sich opportunistisch der wachsenden Komplexität der beunruhigenden Verhältnisse an – ohne noch erkennbar irgendetwas zu wollen.
Die Leistungsgesellschaft ist eine Fiktion
Eine Gesellschaft, die sich über Arbeit und Leistung definiert erscheint vielen Menschen derzeit ziemlich selbstverständlich. Scheinbar ist sie die einzig sinnvolle Form des Zusammenlebens. Sie ist aber eine englische Erfindung zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters. Richard David Precht erläutert: „Unter allen Tugenden zählt nun nicht mehr die „phrónesis“ – die Weltklugheit – als die höchste, sondern die Tüchtigkeit, die Tugend der Arbeitsgesellschaft.“ „Die Arbeit“, beklagt Friedrich Nietzsche 1882, „bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hand zur Freude nennt sich bereits >Bedürfnis der Erholung<. Und fängt gleichzeitig an, sich vor sich selbst zu schämen. >Man ist es seiner Gesundheit schuldig< – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird.“ Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Die Bedeutung der Mythen ist bis heute nicht geklärt
Sigmund Freud war der Überzeugung, alle Mythen der Welt bärgen in sich den Gemeinschlüssel zum Verständnis der menschlichen „psychosexuellen Entwicklung“. Dazu zählte er auch die biblische Erzählung von Adam und Eva. Dagegen vertrat Gustav Jung die These, Mythen seinen nichts weniger als die destillierte Essenz des „kollektiven Unbewussten“ der Menschheit. Und für Claude Lévi-Strauss bildeten die gesamten Mythologien der Welt zusammengenommen ein großes und unübersichtliches Rätselbild. Dieses würde die „Tiefenstrukturen“ der menschlichen Psyche offenbaren, wenn es sich richtig entschlüsseln ließe. Die Bedeutung der Mythen und Mythologien ist bis heute nicht vollständig geklärt. Aber James Suzman weiß: „Ganz sicher offenbaren sie uns jedoch Einsichten in einige universelle Aspekte der menschlichen Erfahrung.“ James Suzman ist Sozialanthropologe und Autor des Buches „Wohlstand ohne Überfluss“, in dem er die Gesellschaften der Jäger und Sammler als erste Wohlstandsgesellschaften porträtierte.
Die Ökonomie missbraucht die Ideen der Aufklärung
Es ist für Philipp Blom erstaunlich zu sehen, was im Zusammenhang des verabsolutierten Marktes aus den Ideen der Aufklärung wird, die ein fester Bestandteil seiner Theorien sind. Hier wie dort sind Menschen rational, liegt ihr Heil in der Vernunft. Beide sind universalistisch und tolerant. Sie gehen davon aus, dass Menschen von Geburt an mit Freiheiten und Rechten ausgestattet sind. Beide sehen optimistisch in die Zukunft, die besser, gerechter und wohlhabender sein wird. Der alles entscheidende Unterschied wird laut Philipp Blom allerdings wirksam, wenn diese Gedanken aus dem Kontext der philosophischen Debatte in den der ökonomischen Theorie transportiert werden und dabei ihre qualitativen Aspekte verlieren. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.
Alles dreht sich nur noch um die Arbeit
Arbeit steht im Zentrum der modernen Gesellschaften. James Suzman beantwortet in seinem neunen Buch „Sie nannten es Arbeit“ unter anderem folgende Fragen: Warum überlassen die meisten Menschen der Arbeit einen so großen Teil ihres Lebens? Warum arbeiten sie immer mehr, obwohl sie so viel produzieren wie noch nie? Warum fühlen sich immer mehr Menschen überlastet und ausgebrannt? Die Bevölkerung der Steinzeit arbeitete weit weniger. Und dennoch waren sie relativ gesund und wurden älter als die meisten Menschen, die ihnen nachfolgte. Denn sie arbeiteten, um zu leben und lebten nicht, um zu arbeiten. Erst die Sesshaftwerdung des Menschen und die zunehmende Arbeitsteilung schufen die Grundlagen für das heutige Verhältnis der Menschheit zur Arbeit. James Suzman ist Sozialanthropologe und Autor des Buches „Wohlstand ohne Überfluss“, in dem er die Gesellschaften der Jäger und Sammler als erste Wohlstandsgesellschaften porträtierte.
Arbeit soll ein Reich der Freiheit sein
Wer heute nach einem erfolgreichen Studium oder einer Lehre in den Arbeitsmarkt eintritt, hat in der Regel ein anderes Verständnis von Arbeit als ihre Großeltern. Sie wollen nicht mehr leben, um zu arbeiten. Aber auch nicht die Arbeit runterreißen, um das wahre Leben in der Freiheit zu genießen. Heinz Bude erläutert: „Sie wollen vielmehr ein Gefühl der Lebendigkeit bei der Arbeit haben und nehmen dafür in Kauf, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Leben fließend werden.“ Arbeit soll nicht bloß ein Reich der Notwendigkeit, sondern auch eins der Freiheit sein. In Begriffen der Wertung von Arbeit haben sich offenbar insgesamt die Gewichte verschoben. Heinz Bude studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit dem Jahr 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.