Christian Uhle nimmt in seinem neuen Buch „Künstliche Intelligenz und wahres Leben“ fünf Versprechen unter die Lupe, die häufig mit Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI) verknüpft werden. Erstens: Endlich mehr Zeit für dich. Zweitens: Du bist nicht allein. Drittens: Dein neuer Freund und Helfer. Viertens: Die Welt ist dir zu Diensten. Fünftens: Sinn statt Hamsterrad. Längst wird deutlich: Digitalisierung ist kein Thema allein für Computerfreaks, sondern betrifft uns alle – ob wir wollen oder nicht. So ein weitreichender Prozess sollte wohlüberlegt, gemeinsam und demokratisch gestaltet werden. In seinem Buch „Künstliche Intelligenz und wahres Leben möchte Christian Uhle Anregungen geben, wie über Digitalisierung und Künstliche Intelligenz nachgedacht werden kann. Der Philosoph Christian Uhle hat als Wissenschaftler zu gesellschaftlichen und technologischen Transformationen geforscht.
Digitalisierung
Die Digitalisierung greift tief in das Leben jeden Einzelnen ein
Andrea Römmele betont: „Die Digitalisierung hat die Welt fundamental verändert. Sie greift tief in das Leben jedes Einzelnen von uns ein. Sie ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie bestimmt, wie wir arbeiten, und sie prägt unser Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen.“ Der Begriff Digitalisierung umfasst unterschiedliche Phänomene, die sich aus der technischen und technologischen Entwicklung im Umfeld von Computern und Datennetzen ergeben. Im Kern versteht man unter Digitalisierung die Umwandlung analoger Informationen in verschiedene digitale Formate. Häufig wird unter Digitalisierung nur der technologische Aspekt des digitalen Wandels verstanden, das ist jedoch eine verkürzte Sichtweise. Andrea Römmele ist Professorin für Politische Kommunikation und Vizepräsidentin an der Hertie School in Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Demokratie, Wahlen und politische Parteien.
Die globale Digitalisierung ist die einzige und wahre Zeitenwende
Mensch und Gesellschaft wurden folgenreicher und vor allem viel schneller umgeformt als selbst durch die Industrialisierung. In eineinhalb Jahrzehnten sind die Bedingungen des Menschseins grundlegend andere geworden. Eva Menasse erläutert: „Die globale Digitalisierung ist daher die einzige und wahre Zeitenwende – eine solche kann niemals ausgerufen, sondern erst in der Rückschau bemerkt werden. Kein Krieg, keine Wirtschaftskrise, auch nicht die Pandemie hatten vergleichbare Auswirkungen.“ Die Art, wie Menschen die Welt wahrnehmen, ist eine andere geworden. Ihr Verhalten und ihre kognitiven Fähigkeiten haben sich ebenso verändert wie die Grundlagen des Zusammenlebens, die Ansprüche an-, die Ungeduld mit-, der Hass aufeinander. Peter Sloterdijk schreibt: „Die Menschen sind nicht darauf vorbereitet, mit Milliarden Zeitgenossen in voller Kenntnis ihrer Gegenwart zu koexistieren.“ Die Romane der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse sind vielfach ausgezeichnet worden.
Das Leben selbst wird als Problemlösen betrachtet
Tücken der Dinge gehören wohl der Vergangenheit an. Menschen werden nicht mehr von den Dingen traktiert. Byung-Chul Han ergänzt: „Sie verhalten sich nicht destruktiv und widerstrebend. Sie verlieren ihre Stacheln. Wir nehmen sie nicht in ihrer Andersheit und Fremdheit wahr. Dadurch schwächt sich das Wirklichkeitsgefühl ab.“ Vor allem die Digitalisierung verschärft die Entwirklichung der Welt. Befremdlich klingt Jacques Derridas Bemerkung, dass das Ding das „ganz Andere“ sei, dass es uns sein „Gesetz“ diktiere, dem sich die Menschen zu unterwerfen hätten. Die Dinge sind heute ganz unterwürfig. Sie werden en menschlichen Bedürfnissen unterworfen. Die Dinge verlieren plötzlich ihr Eigenleben und werden willfährige Werkzeuge zur Problemlösung. Das Leben selbst wird als Problemlösen betrachtet. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Neue Werte übernehmen die Vorherrschaft
Die Umbruchzeit der Digitalisierung dürfte Opfer kosten. Diese sind weit größer als das, was die Bürger der DDR in der Umbruchzeit der deutschen Vereinigung erlebt haben. Richard David Precht kennt die Zukunft auch nicht: „Ob es mit der Moral in Deutschland alles in allem bergab oder vielleicht doch bergauf geht, ist eine heiß umstrittene Frage.“ Auf der einen Seite steht das Gefühl jener Generation, dass Pflichtgefühl, Treue, Gemeinsinn, Arbeitsmoral, Sitte und Anstand kontinuierlich nach unten gingen. Erstaunlich nur, dass es sie, so oft totgesagt, heute irgendwie immer noch gibt. Was seit über hundert Jahren zur Neige geht, müsste eigentlich irgendwann einmal erloschen sein. Kulturpessimismus scheint oft mehr mit dem Lebensalter und den persönlichen Zukunftserwartungen zu tun zu haben als mit dem Zeitalter und den gesellschaftlichen Ausblicken auf die Zukunft. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Die Kommunikation übers Smartphone ist körperlos
In der digitalen Kommunikation fällt auch die Anrede häufig weg. Man ruft den Anderen nicht eigens an. Byung-Chul Han fügt hinzu: „Wir schreiben lieber Text-Nachrichten als anzurufen, denn schriftlich sind wir dem Anderen weniger ausgeliefert. So verschwindet der Andere als Stimme.“ Die Kommunikation übers Smartphone ist eine entkörperlichte und blicklose Kommunikation. Dagegen hat die Gemeinschaft eine körperliche Dimension. Schon aufgrund fehlender Körperlichkeit schwächt die digitale Kommunikation die Gemeinschaft. Die Digitalisierung bringt den „Anderen als Blick“ zum Verschwinden. Die Abwesenheit des Blicks ist mitverantwortlich für den Verlust der Empathie im digitalen Zeitalter. Bereits beim Kleinkind verwehrt man den Blick dadurch, dass die Bezugsperson aufs Smartphone starrt. Gerade im Blick der Mutter findet das Kleinkind normalerweise Halt, Selbstbestätigung und Gemeinschaft. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Andrea Römmele fordert mehr Zukunftsmut
In einer Demokratie können die Bürger die Zukunft mitgestalten. Denn in der Regel kündigen sich große politische, ökonomische oder gesellschaftliche Veränderungen an. Sie vollziehen sich prozesshaft und langsam. Viele akute Krisen und disruptive Ereignisse sind nur die sichtbare Folge eines schon lang andauernden Trends, den die Wissenschaft schon früh vorgezeichnet hat. Diese Trends gilt es zu verstehen, zu durchdenken und mögliche Konsequenzen daraus abzuleiten. Das ist der Ausgangspunkt des neuen Buchs „Demokratie neu denken“ von Andrea Römmele. Deutschland, Europa und die Welt stehen an der Schwelle zu einer neuen Ära. Das Zeitalter westlicher Vorherrschaft geht zu Ende. Rechtspopulistische Parteien fordern die Demokratien heraus. Andrea Römmele ist Professorin für Politische Kommunikation und Vizepräsidentin an. der Hertie School in Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Demokratie, Wahlen und politische Parteien.
Die Demokratie hat sich als sehr widerstandsfähig erwiesen
Roger de Weck kritisiert: „Der Nationalismus befeuert den Verteilungskampf zwischen Partner und Nachbarn. Der Ultrakapitalismus bringt Umverteilung zugunsten von Reichen und Superreichen. Die Digitalisierung schafft Räume der Hemmungslosigkeit, sei es in den sozialen Medien, sei es in der Weltwirtschaft.“ Die triumphale Rückkehr der Rücksichtslosigkeit signalisiert, dass nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern schleichend auch die Nachkriegszeit in Vergessenheit gerät. Allerdings wirkt sie noch in die Gegenwart hinein. Europa hat bislang weder die soziale Marktwirtschaft vollends abgeschrieben noch die Evidenz verlernt, dass die Nation für die großen Probleme zu klein und für die kleinen Probleme zu groß ist, wie der Soziologe Daniel Bell schrieb. Und in vielen Ländern haben sich die bedrängten Institutionen der Demokratie als außerordentlich widerstandsfähig erwiesen. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Die globale Digitalisierung ist die wahre Zeitenwende
In ihrem neuen Buch „Alles und nichts sagen“ geht Eva Menasse der Frage nach, was die digitale Massenkommunikation zwischenmenschlich angerichtet hat. Denn die Digitalisierung aller Lebensbereiche ist mit einer Wucht und Geschwindigkeit über die Menschheit hereingebrochen wie keine andere Erfindung zuvor. Eva Menasse schreibt: „Sie verändert sich und uns immer weiter, beständig nur in ihrem lawinenhaften Charakter.“ In eineinhalb Jahrzehnten sind die Bedingungen des Menschseins grundlegend andere geworden. Die globale Digitalisierung ist daher die einzige und wahre Zeitenwende. Die Grundlagen des Zusammenlebens haben sich fundamental verändert. Die Ansprüche, die Ungeduld und der Hass auf die Anderen sind gewachsen. Die Romane der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse sind vielfach ausgezeichnet worden.
Das Internet gilt als Klimakiller
Wenn das Internet ein Land wäre, gehörte es zu den Top Ten der Energieverbraucher, in einer Liga mit Staaten wie den USA, China, Indien, Russland, Japan oder Deutschland. Dirk Steffens und Fritz Habekuss wissen: „Und während in vielen Wirtschaftsbereichen langsam – zu langsam! – der Energiebedarf zu sinken beginnt, wächst der Energiehunger der digitalen Welt um neun Prozent pro Jahr.“ Allein die Streamingdienste sind für etwa 300 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr verantwortlich. Das entspricht immerhin fast einem Drittel der Emissionen des globalen Luftverkehrs. So gesehen sind Katzenvideos fast so klimaschädlich wie Flugreisen. In ihrem Buch „Über Leben“ erzählen der Moderator der Dokumentationsreihe „Terra X“ Dirk Steffens und Fritz Habekuss, der als Redakteur bei der „ZEIT“ arbeitet, von der Vielfalt der Natur und der Schönheit der Erde.
Digital ersetzt analog
Die zunächst analoge Entwicklung des Computers ging ganz urwüchsig aus dem mechanischen Weltbild und dem ihm innewohnenden Beschleunigungswahn hervor. Damit trat ein neues Prinzip mit der Räderwerkslogik in Konkurrenz. Die analoge Technik ersetzte man dann durch eine digitale Datenübertragung. Mit deren Hilfe können alle Informationen durch eine je eigene Kombination von nur zwei Zuständen beschrieben werden. Nämlich mit „ein“ und „aus“, anwesend und abwesend, 1 und 0. Damit eröffnete sich ein völlig neuer Horizont. Daniel Goeudevert stellt fest: „Mit diesem binären Zeichensystem wurde das Räderwerk praktisch obsolet.“ Man ersetze es durch die sehr viel einfachere und beliebig einsetzbare wie variable Lochkarte. Damit begann eine neue Zukunft. Daniel Goeudevert war Vorsitzender der deutschen Vorstände von Citroën, Renault und Ford sowie Mitglied des Konzernvorstands von VW.
Monopole zerstören den Wohlstand
Hans-Jürgen Jakobs beschreibt in seinem neuen Buch „Das Monopol im 21. Jahrhundert“ wie private Unternehmen und staatliche Konzerne den Wohlstand der Bürger zerstören. Der Autor verwendet den Begriff „Monopol“ nicht strikt als Synonym für Alleinanbieter. Denn so etwas kommt sehr selten vor. Sondern er bezeichnet damit Unternehmen, die sich extrem hoher Marktanteile erfreuen und somit eine bestimmende Wirkung haben. Einen „Monopolismus“ gibt es inzwischen weltweit in zwei Varianten. Im Westen hat er sich durch das Wirken von Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft metastasenartig ausgebreitet. Digitalisierung ist für sie Monopolisierung, in der Öffentlichkeit als angebliches Grundgesetz der Plattformökonomie verkauft. Die östliche Variante des Monopolismus ist staatlich beziehungsweise verstaatlicht. China steht mit seinem Staatsmonopolismus für die zweite Spielart des Monopolismus. Hans-Jürgen Jakobs ist Volkswirt und einer der renommiertesten Wirtschaftsjournalisten Deutschlands.
Die Digitalisierung beendet das Ding-Paradigma
Die industrielle Revolution verfestigt und erweitert die Dingsphäre. Sie entfernt die Menschen von der Natur und vom Handwerk. Byung-Chul Han betont: „Erst die Digitalisierung beendet das Ding-Paradigma. Sie unterwirft die Dinge den Informationen. Hardwares sind devote Unterlagen der Softwares. Sie sind sekundär gegenüber Informationen. Ihre Miniaturisierung lässt sie immer weiter schrumpfen.“ Das Internet der Dinge macht diese zu Informationsterminals. Der 3D-Drucker erweitert die Dinge in ihrem Sein. Sie werden zu materiellen Derivaten der Information degradiert. Was wird aus Dingen, wenn sie von Informationen durchdrungen werden? Die Informatisierung macht aus Dingen „Infomate“, nämlich Akteure, die Informationen verarbeiten. Das Auto der Zukunft wird kein Ding mehr sein, mit dem sich Phantasmen von Macht und Besitz verbinden. Byung-Chul Han ist ein koreanisch-deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Die Digitalisierung ist eine Herausforderung
Im Zuge der digitalen Revolution erleben die Menschen heute einen öffentlichkeitswirksamen Bewusstseinswandel. Immer wieder liest man von den Herausforderungen der Digitalisierung und den Gefahren. Aber es gibt auch Hoffnungen, die mit dem technischen Fortschritt wie der künstlichen Intelligenz verbunden sind. Markus Gabriel ergänzt: „Aus unserer alltäglichen Erfahrung kennen wir den Eindruck einer zunehmenden gesellschaftlichen Beschleunigung.“ Das hängt sicherlich mit dem exponentiellen Wachstum der Rechenleistungen der Computer zusammen. In diesem Kontext wirkt „die These vom erweiterten Geist“ besonders plausibel. Sie besagt, dass die menschliche psychologische und mentale Wirklichkeit längst nicht mehr auf den Leib eines Menschen beschränkt ist. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Der Funktionalismus hat unzählige Schwächen
Die Stärke des Funktionalismus, die sich technisch bezahlbar macht, besteht darin, das Denken nicht an bestimmte interne Vorgänge im Lebewesen zu binden. Es spielt demnach keine wesentliche Rolle, wie die Funktion realisiert wird. Solange sie verwirklicht wird, liegt scheinbar ein Denkakt der relevanten Art vor. Doch der Funktionalismus hat in seiner Reinform laut Markus Gabriel unzählige Schwächen: „Das Hauptproblem des Funktionalismus besteht darin, dass er keine Beschreibung dessen liefert, was das menschliche Denken wirklich ist.“ Er handelt nicht vom Denken selbst, sondern von einem Denkmodell. Denken ist dabei die Erstellung von Modellen der Wirklichkeit. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Die Technik ist ein großer Wachstumsfaktor
Zwei Lager stehen sich bei der Debatte über die Zukunft der Arbeit gegenüber, deren Prognosen gegensätzlicher nicht sein könnten. Richard David Precht erläutert: „Die einen sehen Zeiten der Vollbeschäftigung voraus. Hat nicht der technische Fortschritt immer die Produktivität erhöht und die Anzahl der Arbeitenden?“ Sie können dabei auf den amerikanischen Nobelpreisträger Robert Solow verweisen. Seiner Meinung nach hat der technische Fortschritt stets eine gewaltige Steigerung der Produktivität ermöglicht. Nicht Arbeit und Kapital, sondern vielmehr die Technik sei der entscheidende Wachstumsfaktor. Auf der anderen Seite sagte der britische Ökonom John Maynard Keynes im Jahr 1933 voraus, der Fortschritt in den Industrieländern würde zu einer Massenarbeitslosigkeit führen. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Die Technik ist mit sozialen Praktiken verknüpft
Wie in einer Gesellschaft gehandelt und gefühlt, wie produziert, geherrscht, kommuniziert und imaginiert wird, ist entscheidend von den Formen der Technik und Technologie beeinflusst, über die sie verfügt. Andreas Reckwitz schränkt ein: „Natürlich determiniert die Technik soziale Strukturen nicht in einem strengen Sinne.“ Vielmehr sind die technischen Artefakte immer mit sozialen Praktiken verknüpft, die sie sich auf eine spezifische Weise zu Eigen machen. Artefakte und Artefaktsysteme stellen materielle Angebotsstrukturen dar. Sie bieten einen Spielraum vielfältiger, aber nicht beliebiger Verwendungsweisen. Sie entwickelten sich vom Rad bis zur Schrift und Buchdruck. Die Entwicklung schreitet voran vom einfachen Werkzeug bis zur industriellen Produktion, von der Biotechnologie bis zur Computersoftware. Zu Recht gilt die moderne Gesellschaft im historischen Vergleich als eine genuin technische Kultur. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.
Dem Sozialstaat droht die Überforderung
Die Coronakrise hat weitreichende Folgen für die Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie für die Zukunft des Sozialstaats. Clemens Fuest erklärt: „In der Krise erleiden sowohl Vermögende als auch viele abhängig Beschäftigte Verluste. Verschiedene Gruppen sind sehr unterschiedlich betroffen.“ Schon während der Krise zeigt sich, dass Menschen mit hoher Berufsqualifikation besser vor Jobverlusten geschützt sind als andere. Nach der Coronakrise wird sich das Gefälle in den Berufs- und Einkommenschancen zwischen hoch und niedrig qualifizierten Erwerbstätigen voraussichtlich weiter vergrößern. Das hat laut Clemens Fuest zwei Gründe. Der erste liegt in der Beschleunigung der Digitalisierung und des Strukturwandels. Sie begünstigt höher qualifizierte Arbeit. Der zweite liegt in den Schulschließungen während der Krise. Clemens Fuest ist seit April 2017 Präsident des ifo Instituts.
Die Idee der Technik entstand in Griechenland
Der Funktionalismus ist ein unglückliches Erbe der altgriechischen, von Platon und Aristoteles höchstpersönlich eingeführten Idee der Technik. Markus Gabriel erläutert: „Platon und Aristoteles bezeichnen diejenigen Funktionen, die zwei physikalisch verschiedene Dinge zu Dingen derselben Art machen, als Idee.“ Was man heute als Funktion bezeichnet, entspricht einer abgespeckten Version der platonisch-aristotelischen Idee. Aristoteles hat die Überlegung dahingehend konkretisiert, dass er den Begriff einer Funktion, eines telos, entwickelt hat. Er unterfüttert ihn mit der Lehre von den vier Ursachen. Die Technik ist heutzutage die Realisierung von Ideen, durch die man Dinge produziert, die nicht schon von Natur aus da waren. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Das Smartphone bestimmt das Leben
Berlin im Jahr 2020. Über das Smartphone verwalten und gestalten inzwischen viele Menschen ihr Leben. Andreas Barthelmess behauptet: „Nicht nur Musik und Messages und sonstigen Digitalkram, sondern unser gesamtes Leben. Wir haben es immer in der Tasche, immer dabei: unser Smartphone, unser Leben. Und so geht es nicht nur uns, sondern auch den Menschen in Madrid und Madras, Mumbai und Moskau.“ Im digitalen Zeitalter ist scheinbar alles immer und überall. Und mit dem Smartphone hat man zugleich immer alles in der Hand, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne. Alles ist immer überall und gleichzeitig supernah. Ist das Smartphone vielleicht inzwischen zu nah an die Menschen herangerückt? Die Antwort lautet: ja. Dabei muss man allerdings Digitalisierung, Netz und Smartphone differenzieren. Andreas Barthelmess ist Ökonom, Start-up-Unternehmer und Publizist.
Die Neue Rechte fordert die Altparteien heraus
Die Neue Rechte zieht Profit aus den Kalamitäten und Disparitäten, die jetzt die Gesellschaft kopfscheu machen. Roger de Weck erläutert: „Die Angstgesellschaft ist ihr Revier, von der Verunsicherung lebt sie. Sie nutzt und beschleunigt die Erosion der Glaubwürdigkeit traditioneller Parteien, die der Ultrakapitalismus zusehends überfordert.“ Ein Teil der Konzernwelt hat den Staat zur Flickbude degradiert, und die Regression der Politik zur Flickschusterei lädiert die Politiker. Umso leichter schleusen reaktionäre Parteien den Groll ihrer Klientele nur in die eine Richtung. Versagt haben einzig die Politik, die Demokratie, die Europäische Union – nie und nimmer das Wirtschaftssystem. Das Problem des Prekariats, das die Neue Rechte besonders umwirbt, sind nie Amazon und andere ausbeuterische Arbeitgeber, sondern die „Altparteien“. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Der Fortschritt wird immer unberechenbarer
Eine Ära der Unsicherheit hat weltweit begonnen. Die Menschen müssen umdenken und lernen, in und mit dauerhaft unsicheren Zeiten zu leben. Horst Opaschowski nennt ein Beispiel: „Die Finanzmärkte kennen diese Volatilität schon lange: Kein Vermögenswert ist mehr wirklich sicher.“ Nach dem amerikanischen Risikoforscher Nicholas Taleb brauchen die Menschen ein neues Denken für eine Welt, die bei allem Fortschritt immer unberechenbarer wird. Seine Antwort und Empfehlung für die Herausforderungen in unsicheren Zeiten lautet: „Antifragilität“. Damit ist eine Lebenshaltung gemeint, die mehr als stark, solide, robust und unzerbrechlich ist. Horst Opaschowski gründete 2014 mit der Bildungsforscherin Irina Pilawa das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung. Bis 2006 lehrte er als Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Ab 2007 leitete er die Stiftung für Zukunftsfragen.
Wahr und falsch sind kaum mehr zu unterscheiden
In seinem neuen Buch „Undinge“ vertritt Byung-Chul Han die These, dass die rapide steigende Informationsflut die Menschen in eine postfaktische Gesellschaft stürzt. In vielen Fällen ist sogar die Unterscheidung zwischen wahr und falsch aufgehoben. Informationen zirkulieren nun ohne jeden Realitätsbezug in einem hyperrealen Raum. Byung-Chul Han stellt fest: „Die Welt wird zusehends unfassbarer, wolkiger und gespenstischer.“ Schon vor Jahrzehnten stellte der Medientheoretiker Vilém Flusser fest, dass Undinge von allen Seiten in die Umwelt der Menschen eindringen. Weil sie die Dinge verdrängen, nennt man sie Undinge. Byung-Chul Han entwickelt in „Undinge“ sowohl eine Philosophie des Smartphones als auch eine Kritik der künstlichen Intelligenz aus ungewohnter Perspektive. Byung-Chul Han ist ein koreanisch-deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Die Globalisierung verdichtet Räume
In dem Maße, in dem sich die Welt durch Digitalisierung vergrößert, kehrt Heimat in den philosophischen und politischen Diskurs über die Frage nach Zugehörigkeit in Zeiten permanenter Migration. Christian Schüle stellt fest: „Globalisierung hat Räume vergrößert und zugleich verdichtet; je globalisierter die Welt gerät, desto kleingeistiger wird sie gedacht.“ Auffällig ist, dass kleine, relativ bevölkerungsarme, oft von vielen Anrainern umgebene Länder zu einer Inwendigkeit mit Außenverschluss neigen: die Schweiz, Österreich, Ungarn, Polen, die Slowakei – Länder, die man im Laufe der Menschheitsgeschichte oftmals überrollte und zur Disposition stellte. Durchgangsländer, deren Identität immer dem vorgegebenen Narrativ des Eroberers entsprach. Die Reaktionen auf den drohenden Verlust der Heimat verstärken sich in starkem Maße. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Die Digitalisierung ist allgegenwärtig
Die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft gehörte schon vor der Coronakrise zu den prägenden Veränderungen und Aufgaben der Gegenwart. Durch die Krise beschleunigt sich dieser Prozess. Denn es gibt nun die Option, wirtschaftliches Handeln ins Internet und auf digitale Kommunikationsmittel zu verlagern. Sie erlaubt es, viele krisenbedingten Schließungen zu verhindern und Kontaktbeschränkungen zu umgehen. Clemens Fuest erklärt: „Besonders sichtbar ist die Beschleunigung der Digitalisierung, wenn das Zusammentreffen von Menschen im beruflichen und privaten Bereich ins Internet verlagert wird.“ Viele, die bislang nicht über das Internet einkauften, fangen jetzt mangels Alternativen damit an. Bankfilialen müssen schließen; für alle, die bislang Onlinebanking vermieden haben, führt kein Weg mehr daran vorbei. Das Arbeiten von zu Hause aus war auch vor der Krise möglich, nun bekommt es eine ganz andere Bedeutung. Clemens Fuest ist seit April 2017 Präsident des ifo Instituts.