Die SPD stirbt

Die SPD hat laut Michael Wolffsohn ihre historische Mission erfüllt. Deshalb stirbt sie ab. Denn ein verwirklichter und sich ständig weiter entwickelnder Wohlfahrtsstaat in nämlich in Deutschland sowie im politisch westlichen Europa gelebter Alltag. Zudem gehört er zur unumstrittenen Basis fast aller Parteien. Sogar der sozialpolitische Anspruch der Anti-System-Partei AfD und vergleichbarer Rechtspopulisten Europas ist nicht wirklich bestreitbar. Auch das ist für Michael Wolffsohn ein Grund, weswegen den sozialdemokratischen Parteien ihre traditionellen Wähler in Scharen davonlaufen. Seit jeher konzentrierte sich die Sozialdemokratie aufs materielle Wohl der Menschen. Das war sozusagen ihre politische DNA. Ihr Ursprung, Seinsgrund, Werden und Wachsen sowie das der Arbeiterbewegung insgesamt war das Elend der Arbeiterschaft. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

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Alle Menschen sind frei und mit gleichen Rechten geboren

Nach Jahrtausenden der religiösen Dogmatik und des Aberglaubens entwickelten mutige Philosophen ein neues Menschenbild. Alle Menschen sind frei und mit gleichen Rechten geboren, alle sind gleich vor dem Gesetz, und die einzigen Kriterien für Wissen sind Fakten und Rationalität. Philipp Blom ergänzt: „Auf dieser Grundlage können Menschen in Frieden miteinander leben und Fortschritt schaffen, der das Leben aller verbessert. Die Erlangung und Verteidigung der Freiheit ist oberstes Ziel von Individuen und Gesellschaften.“ Dieses neue Denken, dass man als „Aufklärung“ bezeichnete, wurde anfangs bekämpft und unterdrückt, konnte sich aber im Laufe von zwei Jahrhunderten durchsetzen. Nach den Philosophen und der Französischen Revolution kamen die Arbeiterbewegung, die Abschaffung der Sklaverei und danach die Dekolonisierung, die Civil-Rights-Aktivisten in den USA, Feministinnen, die Entkriminalisierung der Homosexualität, die Achtung von Minderheiten als Gradmesser der Zivilisiertheit. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Die Selbstverwirklichung wird durch äußere Hindernisse eingeschränkt

Das romantische Konzept der Selbstverwirklichung geht generell davon aus, dass die Fähigkeiten des Selbst von Natur aus positiv sind. Das einzige Problem besteht darin, dass sie durch irgendwelche äußeren Hindernisse eingeschränkt werden: Staat, Gesetz, Despotismus, Patriarchat, Über-Ich, imperiale Autorität, herrschende Klasse, bürgerliche Moral und so fort. Terry Eagleton ergänzt: „Nach Sigmund Freuds Auffassung verinnerlichen wir das Gesetz in Gestalt des Über-Ichs, das heißt, wenn wir uns über seine Anweisung hinwegsetzen, laufen wir Gefahr, uns selbst zu schaden.“ Auch Edmund Burke ist sich bewusst, dass die einzige echte Souveränität diejenige ist, die man sich selbst zu eigenen macht. Es ist jene Macht, die Antonio Gramsci später als Hegemonie bezeichnet und gegen den Zwang abgrenzt. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Um 1900 begeisterte der Fortschritt die Deutschen

Das Symbol einer forcierten Veränderungsdynamik in Deutschland um 1900 war die moderne Großstadt, was am deutlichsten in Berlin zu beobachten war. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, der Berlin im Jahr 1892 besuchte, schrieb folgendes über die wachsende Metropole: „Es ist eine neue Stadt, die neueste, die ich je gesehen habe. Chicago nähme sich dagegen ehrwürdig aus, denn es gibt viele altaussehende Bezirke in Chicago, in Berlin jedoch nicht viele. Die Hauptmasse der Stadt macht den Eindruck, als sei sie vorige Woche erbaut worden.“ Ganze Stadtteile entstanden in Berlin um die Jahrhundertwende innerhalb weniger Jahre. Das Verkehrsaufkommen vervielfachte sich. Ein atemloses Tempo bestimmte das Leben. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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Die Wurzeln des Kapitalismus gehen auf drei Ereignisse zurück

Der nationalkonservative Ökonom Werner Sombart, der den Begriff des Kapitalismus in Deutschland populär gemacht hat, lässt ihn mit dem Auftreten der ersten Unternehmer im 13. und 14. Jahrhundert beginnen. Karl Marx vermeidet das Wort, unterscheidet aber zwischen einfacher und kapitalistischer Warenproduktion. In der ersten verkauft ein Produzent, etwa ein Bäcker, seine Waren, um von einem anderen Hersteller, zum Beispiel einem Metzger, dessen Produkte zu erwerben. In der kapitalistischen Version dagegen handelt ein Geldbesitzer mit Waren, um noch mehr Geld anzuhäufen. Karl Marx schreibt im „Kapital“: „Die Bewegung des Kapitals ist also maßlos.“ Karl Marx verknüpft also den Kapitalismus mit dem Wirtschaftswachstum. Die Wurzeln dessen, was man heute als Kapitalismus bezeichnet, lassen sich auf drei Ereignisse zurückführen, die Europas Wirtschaft auf ihren spektakulären Sonderweg geführt haben.

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Moderne Ideologien sind Konzepte der Weltdeutung

Die radikale Veränderung der Welt in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wurde von der bürgerlichen Gesellschaft als Krise und Bedrohung empfunden. Dies führte vor allem in Deutschland zum Aufkommen nicht minder radikaler Antworten auf die Verunsicherung. Ulrich Herbert erklärt: „Das schlug sich im Aufschwung der großen politischen Ideologien nieder, die im Zuge des Aufstiegs der Massengesellschaft so viele Menschen wie nie zuvor mobilisierten.“ Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei modernen Ideologien um Konzepte der Weltdeutung handelt. Sie erläutern die komplexen Verhältnisse auf eingängige und einleuchtende Weise, heben dabei auf eindeutige Verursacher ab und bieten so Anleitungen für das Handeln und gewähren Sicherheit im Verhalten. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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Ohne Otto von Bismarck hätte es kein Deutsches Reich gegeben

Die große Biographie von Ernst Engelberg über Otto von Bismarck wird von vielen Historikern und Politikwissenschaftlern als ein Meisterwerk deutscher Geschichtsschreibung bezeichnet. Ernst Engelberg, einer der bedeutendsten Historiker des 20. Jahrhunderts, schuf darin das faszinierende Bild einer einzigartigen Persönlichkeit und einer herausragenden politisches Werkes, das zuletzt allerdings Züge von Tragik annahm. Zum 200. Geburtstag Otto von Bismarcks liegt der Klassiker nun in einer aktualisierten und gekürzten Neuausgabe im Siedler Verlag vor. In seiner Biographie über Otto von Bismarck breitet Ernst Engelberg gleichzeitig vor seinen Lesern das breite Panorama einer Epoche und ihrer widerstreitenden Kräfte aus. Er beschreibt den Lebensweg Otto von Bismarcks, der mit der Schaffung des Deutschen Reiches letztlich jenes Altpreußen aufhob, dem er mit allen Wurzeln anhing und dem seine ganze Liebe gehörte.

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Paul Nolte beleuchtet die Krisenanfälligkeit der Demokratie

„Demokratie ist immer in der Krise“, schreibt Paul Nolte. Zeiten, in denen ihre Selbstverständlichkeit nicht hinterfragt wurde, hat es seiner Meinung nach kaum gegeben – vor allem nicht in Europa. Und dennoch hat sich die Demokratie nach 1945 zu einer Art Standardmodell entwickelt, allerdings nur in Westeuropa. Am Ende des 20. Jahrhunderts eroberte die demokratische Freiheit sogar Osteuropa. Dennoch tauchten immer wieder Zweifel an der Tauglichkeit der Demokratie im Westen auf. In ihre tiefste Krise geriet die Demokratie laut Paul Nolte, als eigentlich alle Vorzeichen für ihren endgültigen Siegeszug über alle Kontinente sprachen. Der Durchbruch einer Massengesellschaft ebnete zum Beispiel alte soziale Hierarchien ein. Aber paradoxerweise galt die Demokratie plötzlich selbst in Deutschland als ein Auslaufmodell, das einer hochkomplexen und zugleich nivellierten Gesellschaft nicht mehr gerecht zu werden schien. Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.

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Andreas Wirsching erklärt das westeuropäische Parteiensystem

In der Geschichte der europäischen Demokratie gehört es laut Andreas Wirsching zu den wichtigsten Funktionen von Parteien, das Massenpublikum in den demokratischen Prozess der Willensbildung zu integrieren. Andreas Wirsching schreibt: „Parteien bilden die entscheidenden Schnittstellen zwischen Politik und Gesellschaft und erfüllen eine zentrale Aufgabe, indem sie gesellschaftliche Anliegen aufnehmen, transportieren und auf die politische Tagesordnung setzen.“ In Westeuropa pendelten sich seiner Meinung nach überraschend schnell nach 1945 entsprechende politische Parteienverhältnisse ein, zum Teil sicherlich auch in Anknüpfung an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Tatsächlich restaurierte sich ein Parteiensystem der Eliten des alten Europas, die noch im 19. Jahrhundert sozialisiert worden waren. Andreas Wirsching ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

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Die geistesgeschichtlichen Quellen des Anarchismus

Für den Politologen Peter Lösche sind die Ursprünge und Vorläufer des Anarchismus ebenso zahlreich wie die sozialen, geistesgeschichtlichen und politischen Bedingungen, unter denen der Anarchismus entstanden ist. Geistesgeschichtlich wird der Anarchismus laut Peter Lösche aus zwei Quellen gespeist, die selbst miteinander verbunden sind. Er schreibt: „Zunächst ist er ein Produkt der Aufklärung: Unter Anlehnung an naturrechtliche Vorstellungen ermöglicht der Rationalismus überhaupt erst ein Gesellschaftskonzept, das die in der Gegenwart vorhandene menschliche Entfremdung für real aufhebbar hält.“ In der Abwendung vom Reich Gottes und des Feudalismus wird die Einzigartigkeit des Individuums entdeckt. Der Liberalismus und der Anarchismus haben an dieser Stelle die gleiche Wurzel. Der Anarchismus allerdings treibt den Individualismus bis zu seiner letzten Konsequenz. Die zweite geistesgeschichtlich Quelle des Anarchismus sieht Peter Lösche, ähnlich dem Marxismus in seinen Ursprüngen, in der Hegel-Kritik.

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