Zeugnisungerechtigkeit ist notwendigerweise mit Vorurteilen verbunden. Hin und wieder ist Zeugnisungerechtigkeit jedoch ein ganz normaler Aspekt von Situationen, in denen etwas bezeugt wird. Miranda Fricker erklärt: „Manchmal hat diese Art von Ungerechtigkeit harmlose Auswirkungen und richtet kaum Schaden an, doch manchmal kann sie eine schwerwiegende Schädigung bewirken, vor allem wenn die Ungerechtigkeit anhaltend und systemisch ist.“ Vorurteile behindern die Wahrheitsfindung entweder direkt, indem der Hörer ihretwegen eine bestimmte Wahrheit nicht mitbekommt, oder indirekt, indem sie die Weitergabe von wichtigen Gedanken behindern. Die Tatsache, dass Vorurteile eine Sprecherin daran hindern können, ihr Wissen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, zeigt darüber hinaus, dass Zeugnisungerechtigkeit in einer kollektiven Sprechsituation eine schwerwiegende Form von Unfreiheit darstellt. Miranda Fricker ist Professorin für Philosophie an der New York University, Co-Direktorin des New York Institute für Philosophy und Honorarprofessorin an der University of Sheffield.
Immanuel Kant
Die Forschung ermöglicht wirksameres Handeln
Charles Sanders Peirce bringt den Pragmatismus in Gang, indem er bei Alexander Bains Definition des Glaubens als einer Regel beziehungsweise einer Gewohnheit des Handelns ansetzt. Von dieser Definition ausgehend machten Peirce folgendes geltend. Nämlich, dass die Aufgabe der Forschung nicht in der Darstellung der Wirklichkeit liege, sondern dass sie die Möglichkeit eröffnet, wirksamer zu handeln. Richard Rorty stellt fest: „Das Bedeutet, dass man sich von der „Abbild-Theorie“ der Erkenntnis lossagt, die seit René Descartes eine die Philosophie beherrschende Rolle gespielt hat.“ Und man verzichtet insbesondere auf die Vorstellung von der Erkenntnis, die nicht durch Zeichen vermittelt ist. Charles Sanders Peirce gehört zu den ersten Philosophen, der die Fähigkeit zum Zeichengebrauch als wesentliches Merkmal des Denkens hinstellte. Richard Rorty (1931 – 2007) war einer der bedeutendsten Philosophen seiner Generation. Zuletzt lehrte er Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University.
Vernünftiges Handeln kann ein Gefühl der Lust auslösen
Die Lebensweise des Einzelnen ist, soweit sie sich auf die globale Ökologie auswirkt, für die Menschheit als Ganzes von Belang. Wenn sie, wie inzwischen feststeht, Folgen für das Geschick der ganzen Menschheit haben, dann fallen ökologisch relevante Aspekte der Lebensführung in den Gültigbereich eines Satzes, den wir Immanuel Kant, einem der Fixsterne am Himmel der Philosophie, verdanken: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Joachim Bauer fügt hinzu: „Obwohl er aus guten Gründen die Auffassung vertrat, dass die Welt der Gefühle keine Quelle von Moralität sei, war Immanuel Kant sehr wohl der Meinung, dass – umgekehrt – vernünftiges Handeln „wahre Zufriedenheit“, ein „moralisches Gefühl“, ja sogar „ein Gefühl der Lust oder des Wohlfallens“ auszulösen in der Lage sei.“ Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.
Um Moralapostel sollte man einen großen Bogen machen
Axel Braig schreibt: „Bei Unterhaltungen über moralische Fragen scheinen Aufgeregtheiten oft unvermeidlich und Streit vorprogrammiert, denn moralische Argumentationen zeichnen sich häufig durch eine gewissen Dinglichkeit aus.“ Tatsächlich wirken Aussagen wie: „Das gehört sich nicht“ oder „Das ist nicht gut“ oft bedrohlich und signalisieren, dass Widerspruch nicht gern gesehen wird. Um Moralphilosophen wie Immanuel Kant hat Axel Braig in seinem Philosophiestudium eher einen Bogen gemacht und gegen Menschen, die als Moralapostel auftreten, wehrt er sich regelmäßig. Axel Braig teilt Niklas Luhmanns Einschätzung, dass es eine der wichtigsten Aufgaben der Ethik sei, vor Moral zu warnen, die er damit begründet, dass Moral häufig zur Eskalation von Konflikten und sogar Rechtfertigung von Gewalt beitrage. Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.
Die Lüge gilt immer als erlaubtes Mittel in der Politik
Laut Hannah Arendt zählt die Wahrhaftigkeit niemals zu den politischen Tugenden, denn die Lüge gilt immer als erlaubtes Mittel in der Politik. Nicht alle haben dies so offen ausgesprochen wie Niccolò Machiavelli, der die Lüge für legitim hielt, wenn sie dem Machterhalt – das ist die böse Variante – oder dem Wohl des Volkes – das ist die gute Variante – diente. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Dass mit der Wahrheit in der Politik, in der es um Machtansprüche, um den Kampf zwischen Meinungen und Ideologien geht, wenig zu erreichen ist, mag ein Gemeinplatz sein. Dennoch überrascht es stets aufs Neue, mit welcher Verve ausgerechnet in diesem Feld Ehrlichkeit eingefordert und die Lüge als der große Sündenfall gebrandmarkt wird.“ Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.
Die Aufklärung hatte revolutionäre Folgen
Das „Projekt Aufklärung“ war insgesamt das zentrale und in seiner Vielgestaltigkeit und Konsequenz das vielleicht folgenreichste Vorhaben Europas. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Es sollte alle Medien und Institutionen erfassen, alle Stände und Länder durchdringen und massive, ja revolutionäre Folgen haben.“ Für Immanuel Kant ist Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist dabei das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Der Wahlspruch der Aufklärung lautet: „Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Eine Formel wie diese schreibt sich nicht einfach so hin. Sie ist das Resultat eines Erfahrungs- und Erwartungsprozesses. Sie spricht von der Vergangenheit wie von der Zukunft, ist Feststellung und Appell zugleich. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Mündigkeit und Mut charakterisieren die vier Geister der Gegenwart
In seinem neuen Buch „Geister der Gegenwart“ entwirft Wolfram Eilenberger ein großes Ideenpanorama der westlichen Nachkriegszeit. Dazu begibt er sich auf die Spuren von Theodor W. Adorno, Susan Sonntag, Michel Foucault und Paul K. Feyerabend. Wolfram Eilenberger schreibt: „Dieses Buch ist das Zeugnis einer Befreiung. Sie wurde vom Autor in langen Jahren erträumt. Das Philosophieverständnis, von dem diese Befreiung geleitet ist, widerspricht den derzeit vorherrschenden Formen akademischen Philosophierens. Aber nicht der philosophischen Tradition.“ Dies erklärt auch die Auswahl der Leitgestalten dieses Buches. Alle vier hier näher vorgestellten „Geister der Gegenwart“ standen zu den seit dem Nachkrieg sich institutionell verfestigenden Formen und Schulen des Philosophierens in einem Verhältnis unterlaufender Gegnerschaft. Darüber hinaus bilden sie selbst keine Gruppe oder Schule. Auch schufen sie keine Theorie oder gar ein System.
Menschen können rational über moralische Themen nachdenken
Hinter dem Kategorischen Imperativ verbirgt sich ein ziemlich kompliziertes logisches Argument, an dem Immanuel Kant viele Jahrzehnte gearbeitet hat. Markus Gabriel erläutert: „Die erste Annahme besteht darin, dass wir überhaupt sinnvoll und rational über moralische Themen nachdenken und streiten können. Moralische Fragen sind demnach nicht nur willkürliche Setzungen, Ausdruck einer Laune, dieses oder jenes zu tun.“ Kurzum: Es gibt einiges was ein Mensch tun, und einiges, was er nicht tun soll. Wenn man sich angesichts einer konkreten Option, dieses oder jenes zu tun, fragt, ob man es auch wirklich tun soll, kann man diese Frage dieser Annahme zufolge prinzipiell durchaus beantworten, wie schwierig dies im Einzelnen auch sein mag. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Vielen Menschen ist am Schutz von Minderheiten gelegen
Markus Gabriel stellt fest: „Minderheiten kann man keineswegs stets den Anspruch zugestehen, Gehör zu finden und bei Entscheidungsprozessen mit am Tisch zu sitzen.“ Pädokriminelle, Antidemokraten, eindeutige Verfassungsfeinde, Mörder usw. haben aufgrund ihrer moralischen Defizite schlichtweg nicht das Recht, als Minderheiten vor institutioneller Härte geschützt zu werden. Vielen Menschen ist jedoch zu Recht am Schutz von Minderheiten gelegen. Zu schützende Minderheiten sind meistens solche, denen man nachweisbar Unrecht angetan hat. Man muss sie besonders schützen, um ihnen das volle moralische und juristische Recht zukommen zu lassen, dessen man sie beraubt hat. Es gehört zu der moralisch empfehlenswerten Seite der Demokratie, dass sie zu Unrecht unterdrückten Minderheiten Gehör verschafft. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Immanuel Kant interessiere sich keinesfalls nur für Philosophie
Eine äußerst bemerkenswerte Ansammlung von Universalgelehrten im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert fand sich in Deutschland, einer Kulturnation, die seinerzeit noch kein Nationalstaat war. Peter Burke nennt ein Beispiel: „Der Schweizer Albrecht von Haller, Professor für Medizin, Anatomie und Botanik in Göttingen, war auch als Literaturkritiker, Dichter und Romancier aktiv.“ Immanuel Kant könnte ebenfalls mit einbezogen werden, da sich seine Interessen keineswegs auf Philosophie beschränkten. Was man heute als Psychologie und Anthropologie bezeichnet – Disziplinen, zu denen er Beiträge lieferte – bildete zu seiner Zeit zwar noch einen Teil der Philosophie, doch Kant schrieb zudem über Kosmologie und physische Geographie. Sechzehn Jahre lehrte Peter Burke an der School of European Studies der University of Sussex. Im Jahr 1978 wechselte er als Professor für Kulturgeschichte nach Cambridge ans Emmanuel College.
Drei Revolutionen prägten das Werk Immanuel Kants
Bei dem Wort „Revolution“ denken viele Leute heute zumeist an einen politischen Umsturz. Aber seinen ersten großen Auftritt in der europäischen Geistesgeschichte hatte es in der Astronomie. „De revolutionibus orbium coelestium“ – sprich „Über die Umwälzungen der Himmelsphären“ – so lautet der Titel des seinerseits revolutionären Buches, in dem Nikolaus Kopernikus 1543 sein heliozentrisches Weltbild darlegte. Marcus Willaschek erklärt: „Nicht die Sonne dreht sich um die Erde, wie der Augenschein es nahelegt und die Bibel behauptet, sondern die Erde und die anderen Planeten drehen sich um die Sonne.“ An die kopernikanische Bedeutung des Wortes „Revolution“ als „Umwälzung“ oder „Umdrehung“ knüpft Immanuel Kant an, der 1755 selbst eine bedeutenden, wenn auch lange vergessenen Beitrag zur modernen Astronomie leistet. Marcus Willaschek ist ein international führender Kant-Experte und Professor für Philosophie der Neuzeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Vertrauen und Sich-verlassen-auf unterscheiden sich
Ist es sinnvoll, zwischen Vertrauen und Sich-verlassen-auf zu unterscheiden? Martin Hartmann antwortet: „Die Philosophie macht hier oft einen Unterschied, im Englischen vor allem anhand der Begriffe „trust“ und „reliance“. Meine Antwort lautet: Ja, aber …“ Klar ist, dass die meisten Menschen im Alltag den Vertrauensbegriff breit verwenden. Sie unterscheiden nicht unbedingt zwischen Vertrauen und Sich-verlassen-auf. Oft können sie ohne Unterschied sagen, dass sie sich auf jemanden verlassen oder ihm vertrauen. Die Philosophie dagegen unterscheidet oft ganz klar zwischen Vertrauen und Sich-verlassen-auf. Jedoch ist nicht immer deutlich, was aus diesem Unterschied praktisch folgt oder ob ihm echte Unterschiede in den Einstellungen der Menschen entsprechen. Bekannt ist, dass Immanuel Kant sehr regelmäßig um 19 Uhr sein Haus verließ und einen Spaziergang machte. Martin Hartmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Luzern.
Freiheit und Nachhaltigkeit gehören zusammen
Über Freiheit nachzudenken erfordert, die Herausforderungen der Gegenwart mitzubedenken, unter denen die ökologische Krise weit oben steht. Aus dieser Überlegung heraus ist das Vorhaben von Katia Henriette Backhaus entstanden, das Konzept nachhaltiger Freiheit zu entwerfen. Dabei geht es ihr bewusst nicht darum, nach einer neutralen Position zu streben. Eine solche Konzeption muss plausibel darlegen, dass sie die Relation von Freiheit und Nachhaltigkeit in beide Richtungen stärken kann. Katia Henriette Backhaus erklärt: „Sie erhält die politische Freiheit der Menschen auf der Erde nachhaltig, also auf Dauer. Und sie respektiert und gewährleistet den Erhalt der natürlichen Bedingung der Möglichkeit der politischen Freiheit.“ Das bedeutet: Die nachhaltige Freiheit darf die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit nicht ignorieren. Katia Henriette Backhaus hat an der Universität Frankfurt am Main promoviert. Sie lebt in Bremen und arbeitet als Journalistin.
Immanuel Kant revolutioniert die Philosophie
Die Sonderausgabe des Philosophie Magazins ist diesmal Immanuel Kant gewidmet. Der Philosoph, dessen Geburtstag sich am 22. April zum 300. Mal jährt, gehört zu den bedeutendsten Denkern der Philosophiegeschichte. Der israelische Philosoph Omri Boehm versteht Kant, entgegen der gängigen Klischees, als einen Philosophen des Ungehorsams, gar als Anarchisten. Er sagt: „Die wichtigste Erkenntnis Kants ist, dass es Autorität – im Gegensatz zu Macht – nur geben kann, wenn die Vernunft in der Lage ist, sich selbst ihre eigenen Regeln zu geben.“ Dadurch wird jede von außen kommende Autorität abgelehnt. Denn äußere Autorität und Autonomie schließen sich in gewisser Weise aus. Laut Omri Boehm besteht Immanuel Kants wichtigstes Vermächtnis darin, den Universalismus durch die Freiheit und nicht durch Gott oder die Natur zu begründen – im Zusammenhang mit der Menschenwürde.
Die Kunst orientierte sich einst an der Nachahmung
Die Kunst zählt zu den großen Werten der europäischen Kultur. Dabei nimmt sie selbst an dem Wertekanon der Gesamtkultur Anteil. Silvio Vietta sagt: „Solange die Wahrnehmung der Welt in der europäischen Denkgeschichte als eine Art Abdruck der Dinge im Bewusstsein des Menschen begriffen wurde, orientierte sich auch die Kunst an dem Begriff der Nachahmung bzw. Mimesis.“ In seiner Poetik definiert Aristoteles das Drama als eine Form der „Mimesis der Handlung“ des Mythos. Die europäische Kunst und auch Literatur begriffen sich selbst dann im Weiteren als „Nachahmung der Natur“. Diese Vorstellung dominierte bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Und dieser Auffassung entsprach auch eine Praxis des Zeichnens und Malens „nach der Natur“. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.
Immanuel Kant ist der bedeutendste Philosoph der Neuzeit
Marcus Willascheks Buch „Kant“ vermittelt einen umfassenden Einblick in die Philosophie Immanuel Kants. In dreißig kurzen Kapiteln stellt der Autor die verschiedenen Themen und Aspekte von Kants Denken vor. Marcus Willascheks Darstellungen sind jeweils verflochten mit biographischen und historischen Miniaturen. Dadurch entsteht ein Bild von Immanuel Kant als Mensch und Philosoph seiner Zeit. Zugleich verdeutlicht Marcus Willaschek die aktuelle Relevanz – und gelegentlich auch die Problematik – seines revolutionären Denkens. Im Vorwort schreibt Marcus Willaschek: „Immanuel Kant ist der bedeutendste Philosoph der Neuzeit, die „Kritik der reinen Vernunft“ ein Meilenstein der Geistesgeschichte. Seit Platon und Aristoteles hat niemand über so viele und unterschiedliche Themen tiefer und innovativer nachgedacht als Kant.“ Marcus Willaschek ist ein international führender Kant-Experte und Professor für Philosophie der Neuzeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Platon begründete eine eigene Denkschule
Platon war der erste Philosoph, der ein größeres schriftliches Werk hinterlassen hat. Damit konnte er eine Tradition begründen. Mit dieser konnten sich zahllose Autoren über Jahrtausende hinweg auseinandersetzen und identifizieren. Jedoch gab es in der Antike auch schon Philosophen, die ganz andere Ansätze verfolgten. Zu ihnen zählten die Sophisten, Epikur, oder der Skeptiker Pyrrhon von Ellis. Axel Braig weiß: „Erst recht wurde die Tradition Platons in der Neuzeit von einer ganzen Reihe Denkern verlassen und dies jeweils in ganz verschiedener Hinsicht.“ Angelsächsische Philosophen wie Bacon, Hobbes, Berkeley, Hume, Peirce und Dewey ersetzten im Laufe der vergangenen Jahrhunderte den Idealismus Platons durch eine Hinwendung zu einer mehr an Erfahrung orientierten, pragmatischen Denkweise. Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.
Das Mitleid ist der Kern des Gewissens
Das Mitleid gibt laut Jean-Jacques Rousseau allen Menschen anstelle jener erhabenen Maxime, der durch die Vernunft gestifteten Gerechtigkeit, eine Maxime der natürlichen Güte ein. Diese ist viel weniger vollkommen, aber vielleicht nützlicher als die vorangehende. Jean-Jacques Rousseau fordert: „Sorge für dein Wohl mit so wenig Schaden für andere wie möglich.“ Svenja Flaßpöhler ergänzt: „Nicht Immanuel Kants verkopfter kategorischer Imperativ, sondern das natürliche Gefühl des Mitleids ist der Kern des Gewissens und macht aus einem Menschen ein moralisches Wesen.“ In einer seiner Schriften führt Jean-Jacques Rousseau den Begriff der „Selbstliebe“ ein. Die Selbstliebe ist für ihn eine Grundbedingung dafür, dass ein Mensch seine Emotionen überhaupt positiv auf andere richten kann. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.
Freiheit ist zunächst einmal eine Fiktion
Freiheit ist vorab nichts anderes als eine Idee, eine Fiktion, eine Unterstellung. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Es mag nun Wesen geben, denen diese Idee gefällt und die gerne danach handeln. In diesem Moment sind sie tatsächlich frei. Es ist genau so, als ob die Freiheit ihres Willens überzeugend nachgewiesen worden wäre. Oder, sehr verkürzt, aber treffend: Wir sind genau dann frei, wenn wir so tun, als wenn wir frei wären.“ Immanuel Kants Moralphilosophie und sein Kategorischer Imperativ beruhen auf diesem „Als ob“, gründen in der Fiktion der Freiheit. Alle damit zusammenhängenden Annahmen haben dieses „Als ob“, die Fiktion zur Voraussetzung. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.
Dem Menschen ist seine Autonomie sehr wichtig
Die Freiheit wird auch heute noch immer hochgeschätzt. Immanuel Kant schrieb einst, dass man von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch machen sollte. Aber um welche Freiheit geht es? Der amerikanische Informatiker und Künstler Jaron Lanier vergleicht moderne Menschen mit Wölfen. Wie kann das sein? Rebekka Reinhard antwortet: „Eigentlich ist der moderne, aus dem soliden Umfeld der Tradition gerissene Mensch doch ein unvergleichliches Individuum, eine Singularität. Dieser Mensch möchte kein skinnerisches Versuchstier sein. Autonomie ist ihm sehr wichtig.“ Die Computer-Logik dagegen übersetzt Vieldeutigkeit in Eindeutigkeit und kennt nur zwei Zustände: Entweder – Oder. So blitzschnell, dass sie wie aus Versehen ein Gleichheitszeichen zwischen „subjektiv“ und „objektiv“ setzt. Die Philosophin Rebekka Reinhard war, bis zur Einstellung der Zeitschrift, stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.
John Stuart Mill definiert die Freiheit
Eine der einflussreichsten Schriften über das, was menschliche Freiheit bedeutet und was es rechtfertigen darf, sie einzuschränken, stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der britische Denker John Stuart Mill hat sie verfasst. Er war überzeugt, dass der Nutzen im Sinne menschlicher Zufriedenheit, den eine Handlung zum Ausdruck bringt, diese Handlung als gut oder schlecht kennzeichnet. Ina Schmidt erklärt: „Wenn ein Tun Glück stiftet, Leid oder Not lindert, Freude bringt, dann kann es nicht anders als gut sein.“ Dabei handelt es sich um eine Überzeugung des utilitaristischen Denkens. Nach John Stuart Mill kann es also nur berechtigt sein, in die freie Gestaltung der menschlichen Handlungen einzugreifen, wenn es darum geht, „Schaden“ abzuwenden. Ina Schmidt ist Philosophin und Publizistin. Sie promovierte 2004 und gründete 2005 die „denkraeume“. Seitdem bietet sie Seminare, Vorträge und Gespräche zur Philosophie als eine Form der Lebenspraxis an.
Freiheit und Gleichheit gehören zu den Grundrechten
Immanuel Kants kleine Schrift „Zum ewigen Frieden“ hat spätestens mit der durch sie angeregten Gründung des Völkerbunds 1919 einen weltpolitischen Rang erhalten. In ihr werden im ersten Definitionsartikel, der die Staaten auf eine republikanische Verfassung verpflichtet, drei Prinzipien genannt. Diese seien unbedingt zu beachten. Volker Gerhardt stellt fest: „Zwei der Prinzipien, nämlich die Freiheit und die Gleichheit der Bürger, sind uns aus den Grundrechtskatalogen bekannt.“ Aber das zwischen ihnen stehende dritte Prinzip der Abhängigkeit aller Bürger „von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung“ ist erklärungsbedürftig. Denn in einer offenen Welt, in der man seinen Wohnort selbst bestimmen kann, wirkt die Bindung an die Gesetzgebung eines einzigen Staates befremdlich. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Edmund Husserl erschafft die Phänomenologie
Fast unmittelbar nach Immanuel Kant versuchen Philosophen Denken und Wirklichkeit wieder zusammenzubringen. Sei es nun durch eine „Phänomenologie des Geistes“ wie bei Hegel oder durch eine „Philosophie des Willens“ wie bei Arthur Schopenhauer. Ger Groot weiß: „Am Ende dieses Jahrhunderts gibt der Mathematiker und Philosoph Edmund Husserl dem Denken Immanuel Kants eine bedeutende Wendung. Auch Husserl geht davon aus, dass die primäre Gegebenheit unserer Erkenntnis darin besteht, dass uns die Dinge erscheinen.“ Sie sind Phänomene – daher der Name der philosophischen Schule, die er ins Leben ruft: Phänomenologie. Auf Basis dieser Feststellung geht er, ebenso wie Immanuel Kant, auf die Möglichkeitsbedingungen der Phänomene zurück. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.
Konrad Paul Liessmann kennt die Kraft der Fiktion
Alle Formen der Höflichkeit beruhen auf einer Fiktion, auf einem „So tun als ob“. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Wir tun so, als ob es uns interessierte, wie es einem anderen geht, wie dessen Urlaub war, was seine Kinder machen. Täten wir nicht so als ob, hätten wir einander entweder nichts oder viel zu viel zu sagen.“ Dass man so tut als ob, und dass dabei alle mitspielen, ist die Vorbedingung dafür, dass Menschen in eine produktive Interaktion treten können. Man muss einander ein wechselseitiges Interesse unterstellen, damit man seine tatsächlichen Interessen zur Sprache bringen kann. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.
Es gibt einen moralischen Fortschritt
Markus Gabriel fordert: „Forschung muss sich am moralischen Wohl der Menschheit ausrichten.“ Wären alltägliche Situationen moralisch unauflösbar, von Dilemmata geprägt, wäre es unmöglich, absichtsvoll das Richtige zu tun. Wenn man dann doch einmal das Richtige, sprich das Gute täte, wäre dies reiner Zufall in einer komplexen Lage. Doch das würde bedeuten, dass man niemals in der Lage wäre, moralisch zu handeln. Die Handlungen wären ein Spielball des Zufalls, den man allenfalls noch annähernd mit verhaltensökonomischen oder evolutionsbiologischen Modellen beschreiben könnte. Nur so könnte man statistische Aussagen darüber machen, wie Menschen sich verhalten und wie man sie lenken kann. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.