In der westlichen Welt hat sich ein seltsames Gefühl der Ohnmacht ausgebreitet angesichts einer technischen Revolution, die dem Einzelnen doch eigentlich alle Möglichkeiten in die Hand zu geben scheint. Emmanuel Todd erläutert: „Worte, Bilder und Waren zirkulieren frei und in rasantem Tempo. Wir sehen eine medizinische Revolution, die eine fortschreitende Verlängerung des Lebens verheißt.“ Zwischen 1999 und 2014 stieg der Anteil der Internetnutzer von 5 auf 50 Prozent. Ländern verwandelten sich in Dörfer, Kontinente in Kantone. Dennoch macht sich in den hochentwickelten Staaten das Gefühl eines unaufhaltsamen Niedergangs breit. So sank beispielsweise im gleichen Zeitraum in den USA das durchschnittliche Einkommen von 57.909 auf 53.718 Dollar. Die Sterblichkeit der weißen Amerikaner zwischen 45 und 54 ist gestiegen. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.
Europa setzt auf die wirtschaftliche Globalisierung
Weiße amerikanische Wähler probten den Aufstand und wählten 2016 einen beunruhigenden Kandidaten: Donald Trump. In unterschiedlicher Weise scheinen die anderen Demokratien Amerika auf dieser Bahn wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Rückschritte zu folgen. Emmanuel Todd stellt fest: „Dass die Ungleichheit wächst und der Lebensstandard der jungen Generation sinkt, sind quasi universelle Phänomene. Neuartige Formen des politischen Populismus machen fast überall gegen den Elitismus der oberen Schichten mobil.“
In der jeweiligen Nachahmung erkennt Emmanuel Todd jedoch Unterschiede. Während Japan den Rückzug auf sich selbst zu proben scheint, verwandelt sich Europa, inzwischen von Deutschland gesteuert, in ein gewaltiges hierarchisches System, das noch fanatischer als die USA auf wirtschaftliche Globalisierung setzt. Der Freihandel und die freien Kapitalflüsse ermöglichen zwar höhere Gewinne, führen aber zugleich dazu, dass die gewöhnlichen Einkommen sinken und die Ungleichheiten wachsen.
Die Moderne ähnelt einem Weg in die Knechtschaft
Zudem bleibt die Nachfrage hinter dem Notwendigen zurück und am Ende eines wahnwitzigen Rennens kehren die Wirtschaftskrisen zurück. Weit entfernt davon, dank der Technik emanzipiert zu sein, gerät der Mensch der hochentwickelten Welt erneut unter das Joch der Abhängigkeit: Die Unsicherheit des Arbeitsplatzes und sinkender Lebensstandard, zuweilen bis an den Punkt, ab dem auch die Lebenserwartung sinkt – die Moderne ähnelt einem Marsch in die Knechtschaft. James Galbraith hat dargelegt, dass die Ultraliberalen inzwischen stark auf den Staat setzen, um sich selbst zu bereichern.
Pierre-Noël Giraud hab bewiesen, dass die Logik des Homo oeconomicus dazu führen kann, einzelne Menschen für „nutzlos“ zu erklären. Wenn es jedoch um Kritik am Freihandel geht, halten sich die meisten Ökonomen aus dem Establishment zurück. Sie scheuen sich vor Ratschlägen, ihn durch Mechanismen der Kontrolle an die Kandare zu nehmen. Dabei bedeutet ihre Zurückhaltung für die Theorie nicht einmal einen großen Verlust. Denn Emmanuel Todd weiß: „Zu den realen Auswirkungen des Freihandels finden wir alles Notwendige bereits in Friedrich Lists Werk „Das nationale System der Politischen Ökonomie“ – erschienen 1841. Quelle: „Traurige Moderne“ von Emmanuel Todd
Von Hans Klumbies