Cancel Culture zieht sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit

Cancel Culture ist ein uraltes Phänomen, das sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit zieht. Dazu zählen Praktiken, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, deren Auffassungen von den eigenen in störender Weise abweichen. Julian Nida-Rümelin stellt fest: „Manchmal sind diese Praktiken todbringend, wie in den Ketzerprozessen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Neben der Androhung oder Vollstreckung des physischen Todes gibt es die Praxis des sozialen Todes, des nachhaltigen Ausschlusses aus der Gemeinschaft.“ Im Römischen Imperium war die Verbannung neben der Ermordung ein bei Kaisern und anderen Potentaten beliebtes Instrument der Cancel Culture. Auch das Scherbengericht in den griechischen Stadtstaaten zählt dazu. Es zwang beispielsweise Alkibiades, den Feldherren und lange Zeit Liebling der Athener, mitten im Krieg gegen Syrakus zum Abbruch seiner militärischen Mission und zur Rückkehr nach Athen. Dort musste er sich vor einem Tribunal verantworten. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und „public intellectuals“.

Cancel Culture will unliebsame Meinungen verstummen lassen

Zur Cancel Culture zählen auch die alltägliche Praxis des Verächtlichmachens, der Diffamierung, der Denunziation, der üblen Nachrede sowie die Diskreditierung in den unterschiedlichsten Varianten. Dabei räumt man den betroffenen Personen keine faire Chance ein, sich zu verteidigen, sich zu rehabilitieren oder den Weg zurück in die soziale Gemeinschaft zu finden. Cancel Culture ist darauf gerichtet, unliebsame Meinungen verstummen zu lassen.

Das Gegenmodell zu den Praktiken der Cancel Culture ist nicht die große Harmonie, die „concordia“ klerikaler oder auch konfuzianischer Prägung. Es ist auch nicht die platonische „sophrosýme, die Tugend der Besonnenheit, sondern die aufklärerisch gestimmte Kritik. Julian Nida-Rümelin erläutert: „Menschen sind zu theoretischer Vernunft befähigt, sie suchen nach Erkenntnis und wollen Erklärungen für Ereignisse. Zudem sind Menschen in der Lage, so zu handeln, dass sich ihre eigene Praxis in eine vernünftige Struktur der Praxis aller einbetten lässt.“

Die Aufklärung ist eine Praxis der Vernunft

Aufklärung in allen ihren Varianten beruht auf diesen beiden miteinander verkoppelten menschlichen Fähigkeiten. Und sie ist darauf gerichtet, diese zu aktivieren, zu fördern und die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen so zu gestalten, dass sie praktisch wirksam werden. Kritik ist ein durchgängiges Merkmal der Aufklärung. Sie beginnt oft genug mit der Kritik von Vorurteilen und von Praktiken, die einem erfüllten menschlichen Leben zuwiderlaufen.

Julian Nida-Rümelin weiß: „Die Kritik an Aberglauben, Pseudowissenschaft, Ideologie und menschenunwürdiger Praxis steht am Beginn der Aufklärung. Die Alternative zur Aufklärung ist Rückfall in Irrationalität und Inhumanität.“ Aufklärung als Praxis der Vernunft gründet auf einer optimistischen Anthropologie. Sie ist jedoch seit Jahrzehnten in der Defensive. Ihre Gegner sind zahlreich und ihre Verteidiger ängstlich. Nicht allen ist bewusst, dass mit ihrem Niedergang nicht lediglich die eine oder andere Überzeugung bedroht wäre. Sondern darüber hinaus wäre eine Lebensform in Gefahr, ohne die eine Demokratie nicht existieren kann. Quelle: „„Cancel Culture“ – Ender der Aufklärung“ von Julian Nida-Rümelin

Von Hans Klumbies