Die Neigung der Menschen zu Gegenwart und Vergangenheit kommt auch daher, dass man die Zukunft bis vor Kurzem kaum wissenschaftlich untersuchte. Florence Gaub blickt zurück: „Für unsere Vorfahren war die Zukunft nicht etwas, das in ihren Köpfen entstand und von ihren Entscheidungen, Träumen und Ängsten geprägt war. Stattdessen war die Zukunft für sie etwas, das von jemand anderen geschaffen wurde, etwas, dem sie bei der Entfaltung nur zusehen konnten.“ Das kam daher, dass die meisten keinen richtigen Einfluss auf die Zukunft hatten, auch auf die eigene nur sehr begrenzt. Die meisten Menschen lebten von ihrer Geburt bis zum Tod im selben Dorf, blieben in der gleichen sozialen Schicht und gingen den gleichen Tätigkeiten nach wie Vater und Mutter. Dr. Florence Gaub ist Politikwissenschaftlerin, Militärstrategin und Zukunftsforscherin. Sie leitet als Direktorin den Forschungsbereich NATO Defense College in Rom.
Ein Glück der Fülle ist eine Kunst der Balance in aller Polarität des Lebens
Das philosophische Glück ist umfassend und dauerhaft, nicht abhängig von bloßen Zufällen und momentanen Empfindungen. Dabei handelt es sich um ein Glück der Fülle, eine Kunst der Balance in aller Polarität des Lebens, nicht unbedingt im jeweiligen Augenblick, sondern durch das Leben hindurch. Wilhelm Schmid erklärt: „Ein Lebenkönnen nicht nur mit dem Gelingen, auch mit dem Misslingen; nicht nur mit dem Erfolg, auch mit dem Misserfolg; nicht nur mit Lust, auch mit Schmerz; nicht nur an der Oberfläche, auch in der Abgründigkeit; nicht nur mit einem Tun, auch mit einem Lassen.“ Das ist eine Frage der bewusst eingenommenen geistigen Haltung, in Heiterkeit und Gelassenheit kommt sie am besten zum Ausdruck. Zu dieser Fülle gehört nicht nur das Glücklichsein, sondern auch das Unglücklichsein. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.
Die Natur ist der Kultur entgegengesetzt
Anstatt Homo sapiens als Herrn der Schöpfung zu begreifen, ist es auch möglich, ihn als in alle möglichen Zusammenhänge verstricktes Tier zu sehen. Nämlich als Knotenpunkt in einem unendlich komplexen Geflecht aus auch changierenden Zuständen. Also als ein Wesen mit weniger Macht und Willensfreiheit, als es sich schmeichelnd zuspricht. Philipp Blom erklärt: „Den passiven Part bei all diesem Nachdenken über das Verhältnis zwischen Mensch und Natur spielt Letztere, die ich weiterhin so bezeichnen möchte, obwohl sich beide Begriffe im Laufe der Überlegungen auflösen werden.“ Die Schwierigkeit des Nachdenkens liegt schon in diesem Wort „Natur“ beschlossen. Obwohl man meinen sollte, dass sofort klar ist, was gemeint ist. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.
Erinnerungen sind ganz zentral für ein gutes Leben
In seinem Buch „Mit der Vergangenheit leben“ stellt Charles Pépin die These auf, dass Erinnerungen zentral für ein gutes Leben sind: „In den Werten, an die wir glauben, und in den Dingen, und wichtiger sind als alles andere, überdauern die Spuren unseres Herkunftsmilieus, unserer Erziehung und unseres einschneidenden Begegnungen.“ All dies entspringt der Vergangenheit. Und in allem ist die Vergangenheit gegenwärtig. Sie liegt nicht hinter einem Menschen, sondern macht sich kontinuierlich bemerkbar. Egal, ob Menschen glücklich oder unglücklich sind, ihre Vergangenheit kehrt unentwegt zurück. Ein seltsames Ding die Vergangenheit: Sie lässt sich nicht rückgängig machen und sucht doch fortwährend die Gegenwart heim. Menschen bestehen zu weitaus größeren Teilen aus Vergangenheit als aus Gegenwart. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Die Leistungsgesellschaft ist irritiert
Verschwörungserzählungen sind für Richard David Precht Früchte einer irritierten Leistungsgesellschaft. Ist man dabei, so ist man Teil einer Wissenselite. Und wo es darum geht, zu einer Gegen-Elite zu gehören, welche die etablierten Eliten als Heuchler enttarnt, kommt es auf Plausibilität nicht an. Hauptsache, das Elitegefühl ist da. Ohne dieses will auch mancher vergrätze Rentner und mancher Empfänger von Sozialleistungen nicht mehr auskommen. Richard David Precht stellt fest: „Leistungsgesellschaften zerbröckeln dadurch, dass die soziale Durchlässigkeit austrocknet, durch Vererben verkrustet und Leistung durch Erfolg ersetz wird.“ Die zivilgesellschaftliche Verbundenheit wird so auf eine harte Probe gestellt. Argwohn gegen Mitmenschen speist sich zumeist aus einem Mangel an echter Resonanz, der die vermisste Anerkennung nicht besser ersetzt als Pornografie eine erfüllte Sexualität. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Die eheliche Liebe ist kaum mehr als „eine zweifache Selbstsucht“
Die französische Schriftstellerin und Feministin Claire Démar schreibt Anfang des 18. Jahrhunderts: „Wenn die Ehe ungleich sei, dann sei sie auch nicht gemäß dem spirituellen und libidinösen Charakter der Menschen ausgerichtet, die von ihrem Schöpfer keineswegs für dauerhafte Vereinigungen geschaffen seien. Das ganze Arsenal der Emotionen und sittlichen Werte im Umfeld der Ehe sei die Frucht dieses Missverhältnisses zwischen Kultur und Natur.“ Die eheliche Liebe sei kaum mehr als „eine zweifache Selbstsucht“. Christopher Clark ergänzt: „Die Eifersucht, die viele Ehen vergiftet, entsteht aus einem abstoßenden Gefühl des Egoismus und der Persönlichkeit heraus.“ „Treue“, so Claire Démar, „hat so gut wie immer ausschließlich auf Angst und der Unfähigkeit basiert, es besser oder anders zu machen!“ Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens.
Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wird noch lange andauern
Vaclav Smil schreibt: „Während der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts – angesichts eines sich verlangsamenden globalen Bevölkerungswachstum und stagnierender oder sogar abnehmender Einwohnerzahlen in vielen wohlhabenden Ländern – dürfte es den Volkswirtschaften nicht schwer fallen, die Nachfrage nach Stahl, Zement, Ammoniak und Kunststoffen zu bewältigen, namentlich wenn man die Recyclingquoten erhöhen kann.“ Sehr unwahrscheinlich ist jedoch, dass sich alle diese Branchen bis 2050 aus ihrer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen befreien und aufhören werden, einen beträchtlichen Beitrag zu den globalen CO2-Emisssionen zu leisten. Die geringste Wahrscheinlichkeit dafür besteht in den einkommensschwachen, auf dem Weg der Modernisierung befindlichen Ländern, deren enormer Nachholbedarf an Infrastrukturen und Konsumgütern starke Steigerungen bei der Versorgung mit den genannten Stoffgruppen nach sich ziehen wird. Vaclav Smil ist Professor Emeritus für Umweltwissenschaften an der University of Manitoba. Er hat unter anderem das Grundlagenwerk „Energy and Civilization“ geschrieben.
Der Exodus bindet die Befreiung an die Erfahrung
In der westlichen Kultur gibt es eine Verbindung von Freiheit und Selbstbewusstsein. Durch diese Bindung der Freiheit an das Freiheitsbewusstsein schlägt die griechisch-westliche Konzeption der Befreiung in neue Herrschaft um. Christoph Menke erklärt: „Sie reproduziert die Knechtschaft, gegen die sie sich richtet, in anderer, neuer Gestalt. In der Gestalt des Subjekts, das diese Befreiung hervorbringt.“ In dieser Sichtweise bleibt die Befreiung kraftlos, reproduziert sie die Knechtschaft, ja, ist die Befreiung nichts anderes als ein Mechanismus der Knechtschaft. Man muss sie daher von einer anderen Erzählung her weiterdenken und radikalisieren. Eine dieser anderen Erzählungen ist die jüdische Szene und Erfahrung: die Befreiung des Exodus. Der Exodus bindet die Befreiung nicht an das Bewusstsein, sondern an die Erfahrung. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Bei der Begegnung mit der Liebe sollte man mit dem Zufall rechnen
Wer in der Überzeugung handelt, seine Wünsche der Welt aufzwingen zu können, irrt sich gewaltig: er unterschätzt den Widerstand der Wirklichkeit und vergisst, dass er sich im Hinblick auf die eigenen Wünsche irren kann. Charles Pépin rät: „Gehen wir hinaus. Handeln wir in der Welt. Nicht in der verrückten Hoffnung, unseren Willen der Wirklichkeit zu oktroyieren, sondern um auszuprobieren. Ich gehe los – und sehe.“ Dabei entdeckt man, was möglich ist; man wird sich darüber im Klaren, was man wirklich wünscht. „Liebe ohne Zufall!“ versprach vor ein paar Jahren ein Werbeslogan der Singlebörse Meetic. Ein erstaunliches Programm – und allemal trügerisch. Um der Liebe zu begegnen, sollten wir besser mit dem Zufall rechnen, mit ihm spielen, ihn herausfordern, ihn zum Verbündeten machen, statt zu versuchen, ihn abzuwenden. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Für die Existenz der Menschheit basiert auf Zufall
Charles Darwin präsentierte eine alternative Antwort auf die uralte Frage, warum die Menschen existieren. Und diese Antwort kam ganz ohne irgendein „télos“ aus. Christian Uhle erläutert: „Auf sehr überzeugende Weise erklärte er die Entstehung des Homo sapiens als eine Kette von Ursachen und Wirkungen. Das war weit mehr als eine „Kränkung“ des Egos, die Sigmund Freud diagnostiziert hatte.“ Unvorstellbares konnte man sich plötzlich sehr wohl vorstellen. Nämlich, dass es überhaupt keinen Sinn gibt, weshalb die Menschheit zu existieren begann. Warum gibt es Menschen? Charles Darwin hatte darauf eine komplett anderen Antwort als bisherige Entstehungsgeschichten. Denn er lieferte eine Erklärung der menschlichen Existenz, keine Begründung. Denn Naturwissenschaften können keine Sinnfragen beantworten. Das Anliegen des Philosophen Christian Uhle ist es, Philosophie in das persönliche Leben einzubinden.
Der Vorwurf der Lüge ist weit verbreitet und oft berechtigt
Das Titelthema des neuen Philosophiemagazins 04/2025 handelt diesmal von Wahrheit und Lüge. Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler schreibt: „Der Vorwurf der Lüge ist weit verbreitet und oft berechtigt. Doch wird er auch als rhetorisches Mittel eingesetzt, um Gesprächspartner aus dem Diskursfeld zu kicken. Wer lügt, disqualifiziert sich schließlich selbst.“ Wenn unklar bleibt, was Lügen, Tatsachen oder Meinungen genau sind, und auch mit dem Begriff „Wahrheit“ am Ende alles und nichts gemeint ist, wird es schwierig bis unmöglich, noch die Basis zu definieren, auf der Debatten stattfinden können. Der Philosoph Slavoj Žižek erklärt in seinem Beitrag das sogenannte Lügenparadox. Aussagen wie „Alles was ich sage, ist falsch“ wurde vom antiken Griechenland und Indien bis hin zur Philosophie des 20. Jahrhunderts endlos diskutiert. Das Problem ist, dass, wenn diese Aussage wahr ist, sie falsch ist – nicht alles, was ich sage, ist falsch – und umgekehrt.
Der Wut fehlt die gesellschaftliche Akzeptanz
In ihrem Buch „Wut“ setzt sich Heidi Kastner mit einem verpönten Gefühl auseinander. Die Autorin schreibt: „Wut ist, gelinde gesagt, unangenehm, und zwar sowohl für den, der sie empfindet als auch für den, den sie trifft. Wir kennen die blinde Wut, die kalte Wut, die ohnmächtige Wut, wir sind außer uns vor Wut.“ Wut ist eine von mehreren Basisemotionen, ist also Teil der „conditio humana“ und Teil unseres ureigenen Verhaltensrepertoires. Die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz schlägt sich in einer umfangreichen Ratgeberliteratur nieder: 99,9 Prozent aller verfügbaren Buchtitel zum Thema Wut befassen sich mit dem Nicht-Ausleben. Die Wut wird in diesen Büchern meist als Indiz fehlender Selbstakzeptanz interpretiert. Heidi Kastner ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie. Seit 2005 ist sie Chefärztin der Forensischen Abteilung der Landesnervenklinik in Linz.
Die Abwesenheit von Krieg erzeugt noch keinen dauerhaften Frieden
Voraussetzung für den Wohlstand Roms und des Römischen Reiches war der Friede, den Kaiser Augustus nach dem nicht enden wollenden blutigen Bürgerkriegen gebracht hatte. Manfred Lütz betont: „Es gibt wohl keine grausameren Kriege als Bürgerkriege, die nicht nur die Eintracht der Bürger, sondern auch die der Familien und Nachbarn zerstören.“ Deswegen überschüttete man den neuen ersten Mann im Staat mit Ehrungen und Dankesbezeugungen. Doch Augustus war klar, dass dauerhafter Friede nicht nur durch die Abwesenheit von Krieg erreicht werden kann. Das Ende des Wahnsinns allein produziert noch keinen Sinn. Der allgemeine Sittenverfall, den die jahrzehntelange hemmungslose Herrschaft der Gewalt bewirkte, hatte tatsächlich zu einer tiefen Verunsicherung beigetragen. Manfred Lütz hat Medizin, Theologie und Philosophie in Bonn und Rom studiert. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Autor zahlreicher Bestseller.
Die Aufklärung hatte revolutionäre Folgen
Das „Projekt Aufklärung“ war insgesamt das zentrale und in seiner Vielgestaltigkeit und Konsequenz das vielleicht folgenreichste Vorhaben Europas. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Es sollte alle Medien und Institutionen erfassen, alle Stände und Länder durchdringen und massive, ja revolutionäre Folgen haben.“ Für Immanuel Kant ist Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist dabei das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Der Wahlspruch der Aufklärung lautet: „Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Eine Formel wie diese schreibt sich nicht einfach so hin. Sie ist das Resultat eines Erfahrungs- und Erwartungsprozesses. Sie spricht von der Vergangenheit wie von der Zukunft, ist Feststellung und Appell zugleich. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Jeder Mensch ist ein komplexer Prozess
Verschiedene Komponenten begründen die Identität eines Menschen. Carlo Rovelli erläutert: „Als Erstes identifiziert sich jeder von uns mit einem Standpunkt zur Welt. Die Welt spiegelt sich in jedem von uns über ein reichhaltiges Spektrum von für unser Überleben wesentlichen Korrelationen wider.“ Jeder Mensch ist ein komplexer Prozess, der die Welt reflektiert und deren Informationen integriert in sich aufnimmt. Die zweite Zutat, welche die Identität eines Menschen ausmacht, ist dieselbe wie beim Wagen. Beim Reflektieren der Welt organisiert man sie in Untereinheiten. Man denkt die Welt, indem man ein Kontinuum aus mehr oder weniger uniformen Prozessen möglichst gut zusammenstellt. Man unterteilt sie dann in kleine Teile, um mit ihnen besser integrieren zu können. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.
Kriege bringen eine Ethik der Grausamkeit hervor
Aber was immer auch der Krieg an schrecklichen Opfern nach sich zieht, so ist er doch, in einer Ethik aus Härte und Grausamkeit, eine Schule des Lebens, die jedem einzelnen zukünftigen Soldaten abverlangt wird. Wolfgang Müller-Funk stellt fest: „Es sind der Erste Weltkrieg und nachfolgende Revolutionen diverser Couleurs, die einen postreligiösen Diskurs und damit eine Ethik der Grausamkeit hervorbringen werden.“ Robert Musil, der solchen Diskursen abhold war, hat trotz eines gewissen Faibles für Friedrich Nietzsche der Versuchung widerstanden, daran mitzuwirken. Andere wie Ernst Jünger haben den Krieg als ein Vorspiel für die Schaffung einer Gesellschaft gesehen, die auf systematische Gewaltsamkeit aufgebaut ist. Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.
Sprache kann einem Menschen seine Identität verweigern
Sprache besitzt notwendigerweise auch die Macht, zu verletzen. „Wenn die Sprache den Körper erhalten kann, so kann sie ihn zugleich auch in seiner Existenz bedrohen“, schreibt Judith Butler in ihrem Buch „Hass spricht“, und man kann jetzt, auf der Grundlage des Gesagten, ermessen, wie tief diese Drohung Judith Butler zufolge geht: Eine sprachliche Verletzung berührt einen Menschen in seinen Grundfesten. Svenja Flaßpöhler fügt hinzu: „Denn wenn Identität in der beschriebenen Weise ein Effekt von Sprache ist, dann kann die Sprache sie logischerweise auch zerstören beziehungsweise Menschen von vornherein Identität verweigern, ihnen regelrecht die Existenzberechtigung entziehen.“ Das „N-Wort“ etwa hat jahrhundertelang dazu gedient, Menschen zu erniedrigen, sie zum Tier zu degradieren. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“.
Die Denksucht operiert nach Art eines Diktators
Wie jede Sucht operiert auch die Denksucht nach Art eines Diktators. Rebekka Reinhard erläutert: „Sie zwingt Ihr Gehirn in eine Montur der Gleichförmigkeit und programmiert es darauf, möglichst fantasielos zu denken, alles schon vorwegzunehmen, bei allem recht haben zu müssen und vor Dauerdenken halb wahnsinnig zu werden.“ Der Stoff, der überall verfügbar ist, hat krasse Begleiterscheinungen: Egoismus. Selbstgerechtigkeit. Seelische Versteifung. Betroffene hören auf, um die Ecke zu denken, zu zweifeln, zuzuhören. Sie kleben an gleichförmigen, vorhersehbaren kognitiven Abläufen – doch die Angst ist immer noch da. Und mit ihr die Unfreiheit. Das Gehirn reduziert die vielen Möglichkeiten, sich als Mensch in einer unsicheren Welt zu behaupten und das zu tun, was man eigentlich tun will, von vornherein auf zwei Alternativen. Rebekka Reinhard ist Chefredakteurin des Magazins „human“ über Mensch und KI. Unter anderem ist sie bekannt durch den Podcast „Was sagen Sie dazu?“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wbg.
Gefühle repräsentieren Zustände im Inneren eines Menschen
Antonio Damasio weiß: „Ob vage, näherungsweise oder präzise – Gefühle sind informativ, sie tragen wichtige Kenntnisse und pflanzen dieses Wissen fest in den Strom des Geistes ein.“ Zunächst einmal entspricht alles, was ein Mensch fühlt, Zuständen in seinem Inneren. Man führt dabei, wie es seinem Organismus im Ganzen oder in Teilen von Augenblick zu Augenblick geht. Gefühle existieren, weil das Nervensystem in direktem Kontakt zum Inneren eines Menschen steht und umgekehrt. Das Nervensystem berührt ganz buchstäblich das Innere des Organismus, und das überall in seinem Inneren. Im Gegenzug wird es berührt. Natürlich kann man das Erlebnis der Gefühle mit Worten beschreiben, aber man braucht die Vermittlung von Worten nicht, um zu fühlen. Antonio Damasio ist Dornsife Professor für Neurologie, Psychologie und Philosophie und Direktor des Brain and Creativity Institute an der University of Southern California.
Selbstfindung ist eine Illusion
Der Schlafende ist nicht nur ein Wesen, das seine Geschichtlichkeit verloren hat, das sich ins Unhistorische transzendiert, sondern der schlafende Mensch ist auch ein Wesen, das sein Ich verloren hat. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Im Schlaf können wir über uns keine Auskunft geben, im Schlaf können wir uns nicht zu uns selbst verhalten. Damit fehlt dem Schlafenden aber die Grundvoraussetzung, um überhaupt von einem Selbst sprechen zu können.“ Sören Kierkegaard hat das Selbst einmal folgendermaßen definiert: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.“ Das Selbst ist eine ontologische Entität im Menschen, die gesucht werden könnte: Selbstfindung ist eine Illusion. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.
Herfried Münkler beschreibt Deutschlands Rolle im 21. Jahrhundert
Ein wesentlicher Strang des Buches „Macht im Umbruch“ von Herfried Münkler ist die Geopolitik, die im Zuge der Umbrüche und Veränderungen der letzten zehn Jahre einen bemerkenswerten Wiederaufstieg erfahren hat, auch in Deutschland, wo sie aus der öffentlichen wie fachwissenschaftlichen Debatte nahezu verschwunden war. Einen Schwerpunkt bildet dabei Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Herfried Münkler schreibt: „Es wird die Rolle eines „primus inter pares“ sein, eines Ersten unter Gleichen, aber doch eben eines Ersten, dessen es beim Umbau und der Neugestaltung der EU bedarf.“ Aber Deutschland schafft das nicht allein, sondern ist dafür auf eine Reihe von Unterstützermächten angewiesen, die in einer reformierten und an Handlungsfähigkeit orientierten EU so etwas wie den innersten Kreis der Europäischen Union bilden würden. Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Imperien“ oder „Die Deutschen und ihre Mythen“.
Pyrrhon von Ellis begründet die Skepsis
Ludwig Marcuse schreibt: „Die Angst vor dem Wechsel, im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft, trieb die Philosophen zur Erfindung des Ewigen.“ Pyrrhon von Ellis lebte etwas 300 vor Christus und war der legendäre Begründer der Skepsis. Axel Braig hat begonnen, seiner Umwelt mitzuteilen, dass er auf die Vorstellung der einen großen Wahrheit verzichten möchte. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Lebens haben sich zu einem für neue Erfahrungen offenen, aber ansonsten durchaus stabilen Netz von Überzeugungen zusammengefügt. Axel Braig erklärt: „Dieses Netz bildet eine meist brauchbare Grundlage für viele Entscheidungen. Diese treffe ich täglich und meistens ganz ohne nachzudenken. So komme ich auch ohne die gefühlte Sicherheit einer angeblich absoluten Wahrheit durchs Leben.“ Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.
Es herrscht ein offensichtliches Ungleichheitsparadox
Ungleichheit mag unbeliebt sein, doch konnte dies offensichtlich nicht verhindern, dass die Einkommen und Vermögen in der gesamten industrialisierten Welt immer weiter auseinanderklaffen. Ben Ansell stellt fest: „Wir leben in einem Zeitalter eines offensichtlichen Ungleichheitsparadoxon: Die globale Ungleichheit ist zurückgegangen, da Milliarden Menschen in China und Indien aus der Armut befreit wurden; in den wohlhabenden Ländern wächst die Ungleichheit seit den 1980er- Jahren dramatisch.“ Die Schließung von Fabriken und stagnierende Löhne in den reichen Ländern führten zu Reaktionen sowohl gegen wohlhabende urbane Regionen als auch gegen den Handel mit ärmeren Ländern. Die politischen Auswirkungen dieser Abwehrreaktion waren gravierend und stellten die bisherige Rechs-links-Politik in Amerika und in Europa auf den Kopf. Ben Ansell ist Professor für Politikwissenschaften am Nuffield College der Universität Oxford.
Die Würde des Menschen ist unantastbar
Die Väter des Grundgesetzes von 1949 achteten darauf, dass die Rechte des Individuums in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland gewahrt werden und vor Übergriffen des Staates geschützt sind. Silvio Vietta blickt zurück: „Erarbeitet wurde dieses Grundgesetz von Mitgliedern der beiden damals zugelassenen Parteien CDU und SPD unter dem Vorsitz des Kölner Altbürgermeisters Konrad Adenauer und dem Ausschussvorsitzenden Staats- und Völkerrechtler Carlo Schmid (SPD). Inhaltlich stellt das Grundgesetz (GG) nun die Grundrechte des Bürgers an Anfang, so in Artikel 1 den Schutz der Menschenwürde – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Artikel 2, die freie Entfaltung der Persönlichkeit – „Jeder hat das Recht auf die Entfaltung der Persönlichkeit“ –, ist ein Grundrecht, das für die Entwicklung und Bildung der Bürger von zentraler Wichtigkeit ist. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.
Den Liberalismus prägt die voluntaristische Vorstellung von Freiheit
Abgesehen von der Prämie der amerikanischen Macht hatte das Versprechen der Vorherrschaft in den Nachkriegsjahren noch eine tiefere Quelle – in der Philosophie des Öffentlichen im zeitgenössischen Liberalismus. Michael J. Sandel erklärt: „Dieser Liberalismus machte den Vorrang des Rechts vor dem Guten geltend; der Staat sollte gegenüber konkurrierenden Vorstellungen des Lebens neutral sein.“ Damit würde er die Menschen als freie und unabhängige Persönlichkeiten respektieren, die in der Lage seien, ihre eigenen Ziele zu wählen. Die voluntaristische Vorstellung von Freiheit, die diesen Liberalismus beflügelt, bietet eine befreiende Vision, das Versprechen einer Handlungsmacht, die scheinbar auch unter den Bedingungen konzentrierter Macht zu verwirklichen war. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.