Die Glaubenswelten sind ein „Tummelplatz für Betrügereien“

Rüdiger Safranski stellt fest: „Kein Autor vor Michel de Montaigne hat so gedankenreich das Hohelied von Gewohnheit und Übung angestimmt.“ Und es ist bezeichnend, dass er dieses Thema beim Nachdenken über den Tod entdeckt. Es heißt zwar: eine Erfahrung „machen“. In Wirklichkeit aber widerfährt sie einem, im günstigsten Fall wird sie einem geschenkt, und für Michel de Montaigne ist es die große Natur, die nimmt und gibt. Und darum schreibt er in einem der letzten Essays, nicht lange vor seinem Tod: „Falls ihr nicht zu sterben versteht – keine Angst! Die Natur wird euch, wenn es soweit ist, schon genau sagen, was ihr zu tun habt, und die Führung der Sache voll und ganz für sich übernehmen. Grübelt also nicht darüber nach.“ Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

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Das Böse geht der Menschheit nicht verloren

In der griechischen Mythologie sind die Menschen ihren Ursprüngen entkommen, wie man einer Katastrophe entgeht. Aber sie brauchen sich nicht darum zu sorgen, dass ihnen das Böse verloren gehen könnte. Rüdiger Safranski stellt fest: „Es kehrt stets wieder – in veränderter Gestalt. Wie bei den Göttern, gibt es auch beim Bösen einen Gestaltwandel.“ Das „Böse“ ist kein Begriff. Nur ein Name. Ein Name wofür? Für vielerlei: für das Barbarische, die Gewalt, Realitätszerstörung. Aber neuerdings auch für das Chaos, den Zufall, die Entropie, die undurchschaubare und unberechenbare Komplexität. Was das Entscheidende ist: Das „Böse“ hat aufgehört, lediglich ein Name zu sein für das im engeren Sinne Moralische. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

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Einst war Gott für das Schicksal verantwortlich

Wer hätte nicht schon mal versucht, dem Masterplan des Lebens auf die Spur zu kommen, dem Schicksal, dem Nicht-Wählbaren, dem Kontingenten? Fragen zu klären wie: Warum geschieht gerade dies mir, uns, ihnen? Der Mensch ist ein Warum-Wesen. Reinhard K. Sprenger erläutert: „Er sucht für jedes Phänomen eine Erklärung, eine Ordnung. Eine Ur-Sache. Und wenn er sie nicht findet, er-findet er eine.“ Früher war diese Ursache einsilbig: Gott. Wenn die Ernte ausblieb – Gott will uns strafen. Starb jemand zu früh – Gottes Wille. Hatte man Glück – Gott hat Gnade walten lassen. Den Extremfall etikettierte man als „Jüngsten Tag“. Man verbeuge sich vor dem Göttlichen, dem Unabänderlichen, was ein Mensch ist und wie ihm geschieht. Reinhard K. Sprenger, promovierter Philosoph, ist einer der profiliertesten Führungsexperten Deutschlands.

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John Locke kennt keine Tabus

Kategorien wie Gerechtigkeit, Treue, Schuld, Sünde, Gewissen, alles, woran sich Menschen zu orientieren pflegen, sind nur temporäre Vereinbarungen, Verhandlungssache. John Locke behauptet das nicht einfach, sondern belegt seine These mit reichem empirischem Material. Jürgen Wertheimer erläutert: „Eine Art Gehirnforschung aus dem Geist der anthropologischen Expertise, eine Ethnophilosophie ohne Tabus und Grenzen der Schicklichkeit.“ Es beginnt ein Großreinemachen im Augiasstall der Gewohnheiten, der Vorurteile und mentalen Restbestände aller Couleur. Wenn Menschen das, woran sie zu glauben gewohnt sind, für unumstößliche Wahrheiten halten, benehmen sie sich nicht anders als Kinder, die man blindem Gehorsam lehrte. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass letztlich Gott und die Welt auf dem Spiel stehen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Schon Aristoteles fragte nach dem Zweck des Lebens

Eine der Varianten der Sinnfrage fragt ganz konkret nach dem Zweck der Existenz eines Menschen. Und das scheint Christian Uhle durchaus logisch, wenn es um das Thema Sinn geht: „In sehr vielen Fällen ist der Sinn einer Sache ja sein Zweck.“ Nach dem Zweck des menschlichen Lebens zu fragen hat eine lange Tradition in der Philosophiegeschichte. Vor mehr als zweitausend Jahren überlegte schon Aristoteles, was der „télos“ des Lebens sei. Der Begriff „télos“ lässt sich ungefähr mit Zweck oder Ziel übersetzen. Diesen Sinn, der als Zweck verstanden werden kann, bezeichnet Christian Uhle fortan als zweckhaften Sinn. Also, was ist der Zweck des menschlichen Daseins? Das Anliegen des Philosophen Christian Uhle ist es, Philosophie in das persönliche Leben einzubinden.

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Das „Gefühl des Absurden“ ist total berechtigt

Die französische Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir (1908 – 1986) beschrieb, wie insbesondere Frauen sich selbst fremd werden. Das ist vor allem dann der Fall, wenn man sie gesellschaftlich aus der Norm ausschließt und sie stattdessen als das „andere“ Geschlecht aufwachsen. Für sie seien Sinnkrisen geradezu vorprogrammiert. Immerhin sah Simone de Beauvoir auf dieser Ebene einen möglichen Ausweg. Christian Uhle ergänzt: „Demgegenüber betonte Albert Camus, dass auf einer noch tieferen Ebene, jenseits gesellschaftlicher Machtverhältnisse, sämtliche Menschen mit dem gleichen Schicksal konfrontiert sind.“ Er nannte die Empfindung sinnsuchender Menschen das „Gefühl des Absurden“. Und dieses Gefühl erklärte er für absolut berechtigt, ja, zutreffend. Denn es entspringe der Bereitschaft, das eigene Leben durch einen klaren, unverfälschten Blick zu sehen als das, was es ist: absurd. Das Anliegen des Philosophen Christian Uhle ist es, Philosophie in das persönliche Leben einzubinden.

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Der Mensch muss sich von der Herde abkehren

Michel de Montaigne entdeckte eine Generation nach Martin Luther seine Einzelheit und gewann Abstand zu sich und den anderen. Dabei fühlte er sich nicht wie Luther der Majestät eines Gottes ausgeliefert, sondern der obskuren Majestät der Menge. In seinem Essay „Über die Einsamkeit“ heißt es: „Daher ist es nicht genug, sich von der Herde abgekehrt zu haben, es ist nicht genug den Ort zu wechseln. Vom Herdentrieb in unserem Inneren müssen wir uns abkehren, zukehren aber dem eigenen Selbst, um es wieder in Besitz zu nehmen.“ Rüdiger Safranski erläutert: „Für Luther ist das eigene Selbst vollkommen korrumpiert von der Sünde.“ Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

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Das Schicksal spiegelt die Verdienste wider

Michael J. Sandel betont: „Der Gedanke, dass unser Schicksal unsere Verdienste widerspiegelt, ist in der moralischen Intuition der westlichen Kultur tief verwurzelt.“ Die biblische Theologie lehrt, dass Naturereignisse aus einem Grund heraus geschehen. Günstiges Wetter und eine reiche Ernte sind göttliche Belohnungen für Wohlverhalten. Dürre und Pestilenz sind Strafen für Sünden. Aus der Entfernung des heutigen wissenschaftlichen Zeitalters mag diese Denkungsart naiv oder gar kindlich erscheinen. Doch sie liegt nicht so fern, wie es zunächst erscheint. In Wahrheit ist diese Auffassung der Ursprung des meritokratischen Denkens. Sie spiegelt die Überzeugung wider, dass das moralische Universum auf eine Weise geordnet ist, die Wohlstand mit Verdienst und Leiden mit Übeltaten verknüpft. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph, der seit 1980 in Harvard lehrt. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

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Das Individuum muss sich selbst erhöhen

Friedrich Nietzsche hat das Christentum immer wieder scharf kritisiert. Dabei schätzte er die Gottesvorstellung als lebensfeindlich ein. Nach dem Tod Gottes muss der Mensch folgenden Leistungen vollbringen. Friedrich Nietzsche schreibt: „Das Individuum steht da, genötigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künste und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung.“ Oder mit einem Wort Zarathustras: „Ich nahm euch Alles, den Gott, die Pflicht – nun müsst ihr die größte Probe einer edlen Art geben.“ Christian Niemeyer erklärt: „Den Hervorhebungen Nietzsches zufolge wäre das Übermenschen-Konstrukt also in der praktischen Philosophie zu beheimaten. Und dies mit dem Auftrag, jener Gefahr des Nihilismus entgegenzutreten.“ Lesen freilich will gelernt sein, Friedrich Nietzsche lesen ohnehin, aber auch ganz allgemein. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an. der TU Dresden.

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Friedrich Nietzsche verkündet den Tod Gottes

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) verkündet öffentlich den Tod Gottes. Er steht damit eher am Ende als am Beginn einer langen Geschichte banger und finsterer Ahnungen. Diese nahmen ihren Anfang schon ein Jahrhundert zuvor. Ger Groot weiß: „Schon 1796 hatte der deutsche Romancier und Publizist Jean Paul in seinem Roman „Siebenkäs“ einen Text aufgenommen, der seiner Zeit weit voraus war.“ Er lässt darin den toten Christus vom Weltgebäude herab reden, dass es keinen Gott gibt. Jesus sprach zu den gestorbenen Kindern: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“ Das erinnert unvermeidlich daran, was Friedrich Nietzsche gut achtzig Jahre später in „Die fröhliche Wissenschaft“ schreibt. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Friedrich Nietzsche sagt ja zum Übermenschen

Friedrich Nietzsche nimmt in „Jenseits von Gut und Böse“ an, dass es gewisse Moralen gäbe. Mit deren Hilfe über deren Urheber an der Menschheit Macht und schöpferische Laune aus. Für Christian Niemeyer ist der Eindruck hier kaum vermeidbar, Friedrich Nietzsche spräche hier von sich und der Motivstruktur. Diese wurde ihm zum Anlass, als Menschenersatz den Übermenschen zu konzipieren. Der österreichische Arzt und Psychoanalytiker Paul Federn betrachtete Friedrich Nietzsches Philosophie als eine Kontrastbildung gegen seine eigene Existenz. In dieser Logik geriet Nietzsches Übermensch sehr schnell zum „Wunschtraum einer kranken Seele“. Friedrich Nietzsche selbst etikettiert sich selbst als „Dynamit“. Respektive auch als eines Denkers, „der die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet“. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

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Gott durchdringt die gesamte Materie

Zenon der Gründer der Stoa, war im Jahr 312 von Zypern nach Athen gekommen. Er und seine Anhänger wurden als Stoiker bekannt. Dies geschah aufgrund der Angewohnheit Zenons, seinen Unterricht in einer bemalten Stoa, einem Säulengang, abzuhalten. Tom Holland erklärt: „Wie bereits Aristoteles beschäftigten sie sich mit der Spannung zwischen einer himmlischen, von mathematischen Gesetzen bestimmten Ordnung und einem sublunaren Reich, das von Zufall beherrscht war.“ Ihre Lösung war ebenso radikal wie elegant. Die leugneten, dass eine solche Spannung überhaupt existierte. Die Stoiker argumentierten, dass die Natur selbst göttlich war. Gott belebte das gesamte Universum, und er war aktive Vernunft: der „Logos“. Er ist vermischt mit der Materie. Der Autor und Journalist Tom Holland studierte in Cambridge und Oxford Geschichte und Literaturwissenschaft.

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Martin Luther wetterte gegen Ablässe

Am 31. Oktober 1517 sandte Martin Luther ein Schreiben an Albrecht von Brandenburg, den Erzbischof von Mainz. In diesem Brief, der die berühmten 95 Thesen enthielt, wetterte Luther gegen Ablässe. Dabei handelt es sich um käufliche, aus einem Blatt Papier bestehende Dokumente, die einen angeblich von den Sünden befreien. Helmut Walser Smith fügt hinzu: „Ob Luther die Thesen dann auch an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg nagelte, ist in der Geschichtswissenschaft bis heute umstritten.“ Sicher ist, dass Martin Luthers Kritik im Wesentlichen auf der Vorstellung gründete, Gottes Gnade werden allein durch den gewährt und empfangen, nicht durch gute Werke oder die Fürsprache von Priestern. Diese Vorstellung hatte das Potential, das Christentum, wie man es damals praktizierte, zu untergraben. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

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Menschen sehnen sich nach einer Ordnung der Welt

Viele Menschen haben das Bedürfnis, eine große Ordnung der Welt anzunehmen, die als Erklärung für alles dienen kann. Dadurch machen sie die häufig verwirrende Vielfalt, die auf sie einstürzt, erträglicher. Freilich, die Art und Weise und der Inhalt dieser Welterklärungen unterscheiden sich, je nach geschichtlicher Situation, Kultur oder Individuum. Axel Braig stellt fest: „In religiösen Zusammenhängen spielen die Götter oder zumindest ein Gott bei der Erklärung des gesamten Kosmos eine wesentliche Rolle.“ Vor gut zweieinhalbtausend Jahren vertraten schon einige vorsokratische Philosophen jedoch eine andere Meinung. Sie vertraten die These, dass der menschliche Intellekt auch ohne göttliche Hilfe zu einer umfassenden Welterklärung in der Lage sei. Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.

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Der Mensch ist weder aufrichtig noch ehrlich

Friedrich Nietzsche hat sich von Beginn seiner Professorenkarriere an bis kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch immer wieder neu mit der Wahrheitsfrage auseinandergesetzt. Dies geschah durchaus entlang eines Ariadnefadens. Dieser bringt Anfang wie Ende dieses Reflektierens im als Motto angeführten Zitat aus „Ecce homo“ auf den wichtigen Punkt: „Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand.“ Christian Niemeyer schließt allerdings aus, dass Friedrich Nietzsche zeitlebens an der Dekonstruktion der Idee von Richtigkeit und Wahrheit gearbeitet hat. Im Essay „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, den Friedrich Nietzsche bewusst geheim gehalten hatte, ist folgende Definition zentral: „Wahrheit ist (e)in bewegliches Heer von Metaphern.“ Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

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Friedrich Nietzsche predigt eine andere Vernunft

Friedrich Nietzsches Zarathustra sagt zu den Ursprüngen der christlichen Metaphysik folgendes: „Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen.“ Diese Stelle nimmt Bezug auf das Neue Testament. Zarathustra fährt fort: „Allzu gut kenne ich diese Gottähnlichen: sie wollen, dass an sie geglaubt werde, und Zweifel Sünde sei.“ Christian Niemeyer stellt die provokanteste These Friedrich Nietzsches vor: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt bleibt übrig? Die scheinbare vielleicht? … Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“ Zu dieser Aussage aber will ja nicht recht passen, dass Friedrich Nietzsche noch 1882, in gleichsam „optimistischer“ Manier, zur Entdeckung „anderer“ Welten aufgerufen hatte. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

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Die Bürger der Polis lenken ihre Geschicke selbst

Am Ende des hellenistischen Mittelalters sprach man zum ersten Mal von der Stadt, der Polis. Dabei handelte es sich um eine autonomen Einheit, die ihre eigenen Geschicke lenkte. An ihren Entscheidungen waren oft alle Bürger in freien Diskussionen direkt beteiligt. Die politische Struktur dieser Poleis war extrem variabel und komplex. Es gab Monarchien, Aristokratien, Tyranneien, Demokratien, wettstreitende politische Parteien und Verfassungen. Eine davon war die Verfassung von Solon, die zuerst formuliert und dann wieder umgeschrieben wurden. Carlo Rovelli ergänzt: „Es wird experimentiert: Verschiedene Wege, die kommunale Struktur zu organisieren und zu leiten, werden ausprobiert und wieder verworfen.“ Die griechischen Poleis waren Stätten, wo eine breite Klasse von Bürgern miteinander diskutierten. Sie berieten darüber, wie man die Macht verteilen soll und wie sich Probleme am besten lösen lassen. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

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Der Gottesglauben dämmert weg

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nabelt sich die philosophische Psychologie von der spekulativen Philosophie ab. Sie entwickelt sich zu einer experimentellen Wissenschaft mit Forschern wie Wilhelm Hundt, William James und Gerard Heymans in Groningen. Ger Groot betont: „Das hat einen prägenden Einfluss auf die Art und Weise, wie die Menschen sich selbst sehen.“ Im Laufe des 19. Jahrhunderts sondert sich das Persönliche und da Religiöse zunehmend voneinander ab. Und die Bedeutung des „einzigartigen Ichs“ wird außerhalb der religiösen Sphäre noch wichtiger und nachhaltiger als in ihr. Das Wegdämmern des Gottesglaubens zehrt nicht am Ich, sondern lässt es erstarken. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Zudem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Der Tod Gottes bringt die moderne Kultur hervor

Ein Ursprung des modernen Begriffs der Kultur ist der Tod Gottes. Vielleicht kann die Kultur die gottesförmige Lücke füllen, welche die säkulare Moderne gerissen hat. Terry Eagleton weist allerdings darauf hin, dass die Neuzeit gepflastert ist mit gescheiterten Gottessurrogaten. Nämlich von Vernunft, Geist, Kunst, Wissenschaft und Staat bis hin zu Volk, Nation, Menschheit, Gesellschaft, dem Unbewussten und Michael Jackson. Terry Eagleton ergänzt: „Unter diesen verpfuschten Ersatzangeboten für den Allmächtigen nimmt der Kulturbegriff einen besonderen Platz ein. Denn er ist einer der plausibelsten Versuche ist.“ Tatsächlich gibt es eine offenkundige ideologische Beziehung zwischen dem Wort „Kultur“ und dem religiösen Begriff „Kult“. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Das Christentum war das Unglück der Menschheit

Besonders grundlegend gerät Friedrich Nietzsches Abrechnung mit dem Apostel Paulus. Ihm hält er vor, er habe mit dem Symbol „Gott am Kreuze“ die ganze Erbschaft anarchischer Umtriebe im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummiert. Es folgt eine Variante zum Sündenfallmythos unter der Überschrift „von der Höllenangst Gottes von der Wissenschaft“. Diese mündet in der Pointe, dass, in dieser Logik gedacht, der Mensch nicht als „Lernender“, sondern als „Leidender“ bestimmt war. Dieser hat zu jeder Zeit einen Priester nötig. Christian Niemeyer fasst zusammen: „In der Summe steht für Friedrich Nietzsche außer Frage, dass das Christentum bisher das größte Unglück der Menschheit war.“ Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

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Der religiöse Glaube ist eine innere Überzeugung

Die Religion ist für ein pluralisiertes Subjekt von besonderer, akuter Bedeutung. Auch in Bezug auf die Religion geht es für Isolde Charim darum, die Veränderung, welche die Pluralisierung bedeutet, in den Blick zu bekommen. Um diese Veränderung zu ermessen, muss man sich erst einmal der allgemeinen, der grundlegenden Funktionsweise von Religion, von Religiosität überhaupt, zuwenden. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek ist da ein guter Gewährsmann. Um zu erklären, wie Religion funktioniert, greift er immer wieder auf das Beispiel der tibetanischen Gebetsmühle zurück. Diese setzt man wie folgt in Gang: Man schreibt ein Gebet auf ein Papier, rollt es zusammen und steckt es in ebendiese Mühle. Und dann dreht man. Automatisch. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Das Wort „Liebe“ kennt viele Bedeutungen

Für Robert Spaemann gibt es kein Wort – außer dem Wort „Freiheit“ vielleicht –, das ein solches Sammelsurium an Bedeutungen in sich vereinigt, und zwar von einander diamentral entgegengesetzten Bedeutungen, wie das Wort „Liebe“. Es bezeichnet Gefühle, die Eltern ihren Kindern, Kinder ihren Eltern, Freunde ihren Freunden entgegenbringen. Robert Spaemann ergänzt: „Aber auch und vor allem das berühmte und nie genug gerühmte Gefühl, das einen Mann und eine Frau miteinander verbindet und das in den heiligen Büchern der Juden und der Christen ebenso wie bei vielen Heiden als Metapher zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk oder zwischen Gott und den Frommen dient.“ Und dann gibt es noch den Begriff der „Vaterlandsliebe“. Robert Spaemann lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Adalbert Stifter will nicht Tugend oder Sitte predigen

In einer Vorrede zu den sechs Erzählungen, denen er nach mehrfacher Umarbeitung schließlich den programmatisch gemeinten Obertitel „Bunte Steine“ gab, erläutert Adalbert Stifter (1805 – 1869) seine literarischen Absichten und einige Grundsätze seiner Weltanschauung auf wenigen Seiten. Diese sind in Aufbau und einfacher, aber einprägsamer Gedankenführung kaum zu überbieten. Ausgehend von einer dreifachen Verneinung. Er sei kein Künstler (Dichter). Er wolle nicht Tugend oder Sitte predigen und er habe weder „Großes“ noch „Kleines“ als Ziel. Damit will Adalbert Stifter sich und seine Freunde abgrenzen gegen die alles zersetzende Außenwelt. Denn, so sagt er, er wolle nur „Geselligkeit unter Freunden“ und ein Körnchen Gutes zum Bau der Welt beitragen – und natürlich wolle er auch vor falschen Propheten schützen. Erst nach dieser fast familiären Erklärung greift Adalbert Stifter weiter aus und erläutert, was er mit dem Großen und dem Kleinen meint.

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Viele Menschen glauben an eine Führerfigur

Im Unterschied zur traditionellen Auffassung, dass Autorität in Gott begründet liegt, sowie in Immanuel Kants Überzeugung, dass der Mensch selbstständig denken muss, glauben viele Menschen, dass Autorität am besten von einer Führerfigur ausgehen sollte. Paul Verhaeghe stellt fest: „Den Glauben an einen großen Anführer, der aufgrund seiner natürlichen Eigenschaften (er ist weise und gerecht) die Befehlsgewalt erwirb oder zumindest bekommt, gab es zu allen Zeiten.“ Die Idee geht zurück auf Platons Philosophenkönig, doch der wichtigste Impuls ging von Thomas Hobbes aus. Nach ihm legt Jean-Jaques Rousseau eine sehr eigene Interpretation des Gedankens vor. Und in Deutschland plädierte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts seinerseits Max Weber für eine charismatische Führerschaft. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

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Am Anfang war die Schönheit

Nichts ist für den Philosophen Konrad Paul Liessmann so verführerisch wie die Verführung: „Das Lockende und Verlockende, die Andeutungen und Versprechungen, die Eröffnung von bisher ungeahnten Möglichkeiten, das Verlassen eines sicheren Bodens, das Umgehen des Gewohnten, das Faszinosum des Neuen: Wer wollte dem widerstehen?“ Im Paradies muss es schön gewesen sein, so war es wohl. Am Anfang war die Schönheit, aber diese führte zu Wut, Trauer und Neid. Und der Schöpfer des Menschen ähnelte weniger einem Gott in seiner Machtvollkommenheit als einem Bastler. Dieser probiert einiges aus, um bei einem Produkt zu landen, das er nach kurzer Zeit wieder entsorgen muss. Die Erzählung vom Paradies ist von Anbeginn an eine Geschichte des Aufbegehrens und der Vertreibungen. Die Schöpfung in ihrer Schönheit provoziert den Widerstand desjenigen, dessen Licht diese Schönheit sichtbar macht, ohne selbst daran Anteil nehmen zu können.

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