Die Polarisierung der Meinungen ist extrem

Es ist nicht zielführend, wenn man in der öffentlichen Diskussion und auch in den Medien immer häufiger extreme Standpunkte vernimmt. Hans-Jürgen Papier kritisiert: „Das hat teilweise verschwörungstheoretische Züge angenommen. Dies schlägt sich besonders in den Kommentarspalten und in den sozialen Medien nieder.“ Eine bemerkenswerte Wirkung hiervon ist die extreme Polarisierung von Meinungen und ihren Trägern. Diese sind oftmals nicht mehr in der Lage, über Argumente zu kommunizieren. An die Stelle demokratisch verfasster Auseinandersetzung treten dann schnell offen geäußerter Hass und unüberbrückbare Freund-Feind-Schemata. Das ist eine Entwicklung, die man seit den Hochzeiten der PEGIDA-Demonstrationen in Dresden kennt. Ein Teil der Social-Media-Nutzer wird zu Fans, zu Followern starker Männer und ihrer Systeme. Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier war von 2002 bis 2014 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

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Auch die Guten lügen

Zeitgenossenschaft bedeutet, sich tastend dem anzunähern, was die Zeit, in der man lebt, ausmachen könnte. Konrad Paul Liessmann unternimmt in seinem Buch „Lauter Lügen“ mit seinen Texten solche Annäherungsversuche. Bei dieser Aufgabe, von markanten Vorkommnissen auf den Geist der Zeit zu schließen oder in manchen Nachrichten die Signaturen der Epoche zu erkennen, bewegt man sich stets auf schwankendem Boden und dünnem Eis. Es gibt nicht wenige Menschen, die die Gegenwart als postfaktisches Zeitalter bezeichnen. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Ungeniert können Populisten Lügen verbreiten, ihre Anhänger wissen das und jubeln trotzdem oder vielleicht gerade deshalb.“ Das ist jedoch nicht verwunderlich, denn in der Politik geht es nicht um Wahrheit, sondern um Machtfragen. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.

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Reaktionäre arbeiten mit Schuldzuweisungen

Autoritäre und Nationalisten transformieren die Politik in Narrative der Schuldzuweisung. Roger de Weck erläutert: „An allem sind alle anderen schuld, dieser Refrain erschallt von den USA bis Ungarn. Reaktionäre Politik braucht die Endlosschleife des Schmähens unguter Ausländer, unbelehrbarer Feinde, unfairer Kritiker, unfähige Eliten, unheimliche Drahtzieher.“ Andersdenkende sind automatisch Verräter, weil das neurechte Machtdenken einzig Loyale und Illoyale kennt, Gefügige und Schädlinge, Rückendeckung oder Dolchstoß. Und das hat die politische Sprache mit Hass erfüllt, aber solche Aggressivität scheint je länger, desto weniger zu entrüsten. „Der Hasser lehrt uns immer wehrhaft bleiben“, heißt es in Goethes Trauerspiel „Die natürliche Tochter“. Doch auch die Gleichgültigkeit ist ein Kind des Hasses. Der gesunde Schutzinstinkt gegen diese allenthalben erhältliche Droge schwindet – Hass-Dealer setzen bewusst auf diesen Gewöhnungseffekt. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

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Hass ist die primitivste aller Emotionen

Reinhard Haller definiert den Hass in seinem neuen Buch „Die dunkle Leidenschaft“ wie folgt: Es handelt sich dabei um eine „auf Zerstörung ausgerichtete Abneigung, die destruktivste Form der Verachtung“. Als intensives Empfinden von Feindseligkeit und Aggressivität äußert sich Hass beispielsweise in toxischem Schweigen oder verbalen Attacken. Er kann zu heftigen zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen und Gesellschaftskonflikten führen. Weitere Formen des Hasses sind Diskriminierung und Mobbing, am schlimmsten Verbrechen und Krieg. Hass ist tatsächlich eine Leidenschaft, die nichts als Leiden schafft. Hass ist die primitivste aller Emotionen – ein Trieb zur Grausamkeit, wie ihn Sigmund Freud bezeichnet hat. Prof. Dr. med. Reinhard Haller war als Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe über viele Jahre Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik. Heute führt er eine fachärztliche Praxis in Feldkirch (Österreich).

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Deutschland führte wieder Krieg

Nach der Epochenwende von 1989 ist leider kein „goldenes Zeitalter“ des Friedens angebrochen. Edgar Wolfrum stellt fest: „Aus der tiefsten Ächtung ist der Krieg vielmehr wieder zu neuer Bedeutung gelangt, auch in Europa.“ Im zerfallenen Jugoslawien brachen seit 1991 blutige Konflikt aus. In Randgebieten der ehemaligen Sowjetunion fanden ebenfalls Kämpfe statt. In nie dagewesener Form wurden in verschiedenen Staaten terroristische Anschläge verübt. Die Terroranschläge auf das New Yorker World Trade Center 2001 waren für viele Beobachter der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Es folgten die Kriege in Afghanistan und dem Irak, dann kamen kriegerische Auseinandersetzungen in Nordafrika, schließlich der Syrienkrieg. In diesem Zeitalter der „neuen Kriege“ wandelte sich die außenpolitische Stellung und militärische Rolle Deutschlands fundamental. Deutschland wurde wieder zu einer Krieg führenden Nation. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Der Nationalismus ist eine Inszenierung der Macht

Die Gründe für den Aufstieg des Rechtspopulismus sind für Jan-Werner Müller keineswegs identisch. Radikale Rechtspopulisten haben allerdings ähnliche Strategien entwickelt. Und vielleicht könnte man sogar von einer gemeinsamen autoritär-populistischen Regierungskunst sprechen. Vereinfacht gesagt basiert diese auf Nationalismus, durch die Aneignung des Staates durch eine Partei und auf der Nutzung der Wirtschaft als Waffe zur Sicherung der politischen Macht. Das führt zu einer Mischung aus Kulturkampf, Patronage und dem, was Politikwissenschaftler Massenklientelismus nennen würden. Wobei der Nationalismus oft mehr eine Art Stimulierung von Souveränität ist. Er ist eine Inszenierung der Macht des „Volkswillens“ in Form von vermeintlich starken Gesten starker Männer. Tatsache ist, dass die heutigen Gefahren für die Demokratie mit vielen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kaum noch etwas gemein haben. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.

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Jeder Mensch braucht eine Lebensphilosophie

Was macht ein gutes Leben aus? Wie muss ein Leben geführt werden, damit es im Rückblick als gelungen und gut betrachtet werden kann? Solange ein Mensch auf diese Grundfrage keine Antwort hat, wird sein Leben nonstop mit der Bewältigung von Krisen beschäftigt sein. Anders ausgedrückt: Ohne klare Lebensphilosophie ist das Risiko groß, dass jemand sein Leben einfach nur „verlebt“. Für Rolf Dobelli steht fest: „Es ist nicht so wahninnig wichtig, für welche Lebensphilosophie Sie sich entscheiden. Hauptsache, Sie haben sich seriös Gedanken gemacht und Ihre Wahl getroffen.“ Vielleicht hat jemand ähnliche Ziele als der Autor selbst. Vielleicht auch ganz andere. Nicht so wichtig – Hauptsache man hat Ziele und ist sich im Klaren darüber. Der Bestsellerautor Rolf Dobelli ist durch seine Sachbücher „Die Kunst des klaren Denkens“ und „Die Kunst des klugen Handelns“ weltweit bekannt geworden.

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Die Liebe ist für Max Scheler ein Urakt

Max Scheler vertritt eine Aktphänomenologie, für die das Fühlen als intentionaler Akt eine zentrale Rolle einnimmt. So etwa beim Erfühlen von Werten in seiner bekannten Schrift „Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik“. Mit welcher er sich nicht nur gegen die kantische Pflichtethik wendete. Sondern mit der er auch die Grundlegung einer bis heute einflussreichen Position der Wertethik vorlegte. Es verwundert daher nicht, dass in einer Theorie, die das Fühlen derart aufwertet, auch der Liebe eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. Max Scheler postuliert einen Primat des Emotionalen im geistigen Geschehen. Dabei versteht er die Liebe als den „Urakt“ menschlicher Geistestätigkeit. Er geht hier von einem christlichen Liebesgedanken aus, wobei er stark an augustinische Gedanken anknüpft. Max Scheler (1874–1928) war ein deutscher Philosoph, Psychologe, Soziologe und Anthropologe.

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Ayn Rand vertritt das Ideal des elitären Daseins

Es gibt ein besonders hartnäckiges Hindernis auf dem Weg zum elitären Dasein. Für Ayn Rand ist es das allzu menschliche Streben nach Anerkennung durch andere. Insbesondere gehört dazu, der sich aus innerer Schwäche oder auch Leere speisenden Drang, anderen gefallen zu wollen. Oder von diesen gelobt oder gar geliebt zu werden. Ayn Rand sieht, soweit es das Ideal wahrer Selbstbestimmung betrifft, die gesamte Sphäre anderer Menschen als eine Sphäre der notwendigen Deformation, Korrumpierung und Unterdrückung an. Wolfram Eilenberger fügt hinzu: „Und wahrhaft elitär ist also nur derjenige, dem es gelingt, sich im Dialog mit der besseren Version des je eigenen Selbst konsequent aller Anerkennungssehnsüchte zu entsagen.“ Wolfram Eilenberger war langjähriger Chefredakteur des „Philosophie Magazins“, ist „Zeit“-Kolumnist und moderiert „Sternstunden der Philosophie im Schweizer Fernsehen.

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Erasmus von Rotterdam begründet die Philologie

Erasmus von Rotterdam (1464/69 – 1536) war nicht nur der Erzieher Karls V., sondern er war darüber hinaus ein einschließender Geist. Der überlebensgroße Sammler hat jeden Tag circa 1.000 Wörter zu Papier gebracht. Er trug in seinem weitläufigen Werk Weisheiten von allen Ufern zusammen. Als Herausgeber, Redakteur und Textkritiker begründete er die moderne Philologie. Er war ein geselliger Geist, dessen Briefwechsel keine Ecke seiner Welt ausließen. Zugleich war er jedoch in seiner Zeit eine einsame Erscheinung. Keine Kompromisse nämlich machte er als Pazifist. Legitim konnte ein Krieg für ihn höchstens sein, wenn das ganze Volk in wünschte. Dieses aber bestand für Erasmus von Rotterdam bereits aus Individuen. Die Torheit ist seiner Meinung nach die Einzige, die für alle sprach. Nicht zu schön ist sie sich, vom Olymp zu den Menschen herunterzusteigen.

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Hass kann sich zu einem Flächenbrand ausweiten

Oscar Wilde stellte die rätselhafte Behauptung auf: „Die meisten Menschen sind jemand anderes.“ Er begründete seine Ansicht sehr überzeugend: „Ihre Gedanken sind die Meinungen anderer, ihr Leben ist Nachahmung, ihre Leidenschaften sind Zitate.“ Amartya Senn stimmt dieser Auffassung zu: „Tatsächlich werden wir in erstaunlichem Maße von Menschen beeinflusst, mit denen wir uns identifizieren.“ Sektiererischer Hass kann sich, wenn er aktiv geschürt wird, zu einem Flächenbrand ausweiten. Amartya Sen nennt als Beispiele den Kosovo, Bosnien, Ruanda, Timor, Israel, Palästina und den Sudan. Das Gefühl der Identität mit einer Gruppe kann, entsprechend angestachelt, zu einer mächtigen Waffe werden, mit der man anderen grausam zusetzt. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Konsequent gedacht gibt es gar keine Pflicht

Leiden wird oft mit der „Pflicht“ erklärt. Wer seine Pflicht tut, scheint vor jedermann gerechtfertigt – vor anderen und sich selbst. Reinhard K. Sprenger erklärt: „Pflichtbewusst erfreut man sich allseitiger Wertschätzung: als Mutter, als Vater, als Briefträger, als Beamter, als Soldat. Wer seine Pflicht tut, tut das, was sich gehört.“ Die Pflicht kommt dabei meist im grauen Leinensack der Entbehrung daher und wird begleitet von einer Aura der Selbstaufopferung. Viele Menschen kennen das Gefühl der Pflichterfüllung, einige seufzen unter dieser Last. „Dazu fühle ich mich verpflichtet“ oder „Dafür habe ich mich in die Pflicht nehmen lassen“, sagen jene, die irrigerweise glauben, eigentlich etwas anderes zu wollen. Reinhard K. Sprenger ist promovierter Philosoph und gilt als einer der profiliertesten Managementberater und Führungsexperte Deutschlands.

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Der Hass ist umfassend und allgemein

Der Hass stellte eine negative Emotion dar, der sich auf das Ganze der Person konzentriert statt auf die einzelne Tat. Obgleich auch der Zorn auf eine Person gerichtet ist, liegt sein Focus auf der Tat, und wenn die Tat irgendwie aus der Welt geschafft wird, kann man erwarten, dass sich auch der Zorn verflüchtigt. Martha Nussbaum fügt hinzu: „Der Hass hingegen ist umfassend und allgemein, und wenn dabei Handlungen eine Rolle spielen, dann einfach deshalb, weil alles an der Person in einem negativen Licht gesehen wird.“ Aristoteles zufolge gibt es nur eine einzige Sache, die gegen den Hass hilft und ihn wirklich zur Ruhe kommen lässt: nämlich dass die Person zu existieren aufhört. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Auch innere Impulse werden als Aggressionen bezeichnet

Als Aggression werden im Deutschen häufig nicht nur sichtbare Verhaltensweisen bezeichnet, sondern auch innere Impulse, nämlich Emotionen wie Ärger, Wut und Hass. In dieser Bedeutung wird dann meistens die Pluralform „Aggressionen“ bevorzugt: Aggressionen haben, Aggressionen ausleben, Aggressionen loswerden und so weiter. Das wäre für Hans-Peter Nolting unproblematisch, wenn aggressives Verhalten und aggressive Emotionen lediglich zwei Seiten desselben Prozesses wären. Aber das ist nicht so. Hans-Peter Nolting erklärt: „Es gibt aggressives Verhalten, dass nicht auf aggressiven Emotionen beruht, sondern zum Beispiel auf Habgier oder Angst, und umgekehrt werden aggressive Emotionen keineswegs immer in aggressives Verhalten umgesetzt.“ Daher sollte man beides auseinanderhalten. Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Dozent für Psychologie an der Universität Göttingen.

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Der Populismus macht sich zum Anwalt der Beleidigten

Der Populismus bezieht sich unter anderem auf die negativen Gefühle, die beim Brüchigwerden von Einbindungen freigesetzt werden. Er bezieht sich auf Kränkungserfahrungen. Isolde Charim erläutert: „Diese sind wesentlich an die Veränderungen gebunden, die mit der Pluralisierung der Gesellschaft einhergehen.“ Früher war der Anhänger des Populismus Teil der Gruppe, die fürs Ganze stand, er war Teil jener, die vorgaben, was Normalität ist. Und nun, zurückgeworfen auf seine Einzelheit, auf sein prekarisiertes Weniger-Ich, fühlt er sich nicht gehört, vergessen, unverstanden, ausgeschlossen, entmächtigt. Die Reaktion darauf ist das grundlegende Begehren nach Anerkennung. Es geht dabei nicht darum, ob der Populismus dieses Begehren erfüllt. Es geht auch nicht darum, ob diese Kränkung berechtigt ist. Es geht darum, dass der rechte Populismus genau hier einhakt – und sich zum Advokaten der Beleidigten macht. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Hass enthemmt Fanatiker in Wort und Tat

Eine andauernde Konfrontation mit Unsicherheit, der man hilf- und machtlos ausgeliefert ist, erschüttert in massiver Weise das eigene Selbstwertgefühl. Ernst-Dieter Lantermann ergänzt: „Solche Selbsterschütterungen gehen einher mit schmerzhaften Erfahrungen von Verbitterung, von Misstrauen und Kränkung, von Verlassenheit und Resignation.“ Vor diesem Stimmungshintergrund geraten gerade Fanatiker in einen Zustand misstrauischer Wachsamkeit, Anspannung und Dauergereiztheit, sodass ihr gesamtes Denken, Wollen und Handeln von der Logik ihrer Gefühle mitgerissen und bestimmt wird. Diese richten den Fanatiker dann ausschließlich auf den Augenblick, auf das Hier und Jetzt. In diesen Momenten existieren keinerlei Abwägung, Vergleiche, Relativierungen, sondern ausschließlich ein Entweder-oder, Lüge oder Wahrheit, wir oder die anderen. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Der fanatische Fremdenfeind hasst alle Ausländer

Menschen mit fremdenfeindlichen Haltungen fühlen sich im Gegensatz zu den Fanatikern nicht in jedem Augenblick von selbstwertbedrohlichen Gefühlen umgetrieben. Ernst-Dieter Lantermann nennt den Grund dafür: „Ihnen bleiben in aller Regel noch andere Orte und Gelegenheiten, ihr angegriffenes Selbstwertgefühl zu stärken, jenseits der Sicherheitsgewinne, die sie aus ihrer Fremdenfeindlichkeit ziehen.“ Der Fanatiker setzt dagegen alles auf eine Karte: Er kennt nur den einen Weg, seine Selbstsicherheiten und seine Selbstwertschätzung zurückzugewinnen – die Fremden mit höchster Konsequenz zu verachten und zu bekämpfen. Während sich fremdenfeindliche Menschen damit begnügen, ihre Ablehnung mit abfälligen Bemerkungen und Gesten, verbalen Rundumschlägen, Beleidigungen, Erniedrigungen, Ab- und Ausgrenzungen oder in Form versteckter oder offener Diskriminierung zum Ausdruck zu bringen, gibt sich der fanatische Fremdenfeind damit nicht zufrieden: Er hasst die fremden Eindringlinge, und sein Hass zielt auf deren Vernichtung. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Jean-Jacques Rousseau misstraut der Aufklärung

Die Rebellion gegen eine alles zermalmende Moderne ist kein Phänomen der Gegenwart. Sie hat ihre Wurzeln in der Zeit der Aufklärung und beginnt mit einem erbitterten Streit zwischen zwei brüderlichen Freunden, Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot. Philipp Blom weiß: „Persönliche und intellektuelle Fragen vermischen sich in diesem jahrelangen Disput, aber sie brachten Rousseau dazu, den aufgeklärten Idealen seiner Freunde zu misstrauen.“ Die Zivilisation, die Großstadt und die Unterdrückung aller Menschen gehören zusammen, räsonierte er, die Aufklärung befreit nicht, sondern entfernt die Gesellschaft mit ihrer kultivierten Kompliziertheit immer weiter von ihrer ursprünglichen Tugend und versklavt sie gleichzeitig durch Mode, gesellschaftliche Anerkennung und Lohnarbeit. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Viele Menschen in Deutschland träumen von Abschottung

In Deutschland, nicht anders als in anderen europäischen Ländern oder unter Donald Trump-Wählern, träumen viele von Abschottung, um ihre Wohlfühlmatrix nicht teilen zu müssen. Zudem ist die Sehnsucht nach einem besseren Gestern, nach einem Heil in der Vergangenheit allgegenwärtig. Richard David Precht erläutert: „Noch hängen in Deutschland mehr Menschen einer solchen Retropie an als gegen eine wahrscheinliche digitale Dystopie aufzubegehren. Geflüchtete Menschen auf den Straßen sind sichtbarer, lauter und für viele verstörender als Algorithmen.“ In ihrer Angst, Überforderung, Unsicherheit, Aggression und in ihrem Hass schreien Menschen auf deutschen Marktplätzen und in Bierkellern: „Deutschland!“ Doch was ist Deutschland, zu welchem Deutschland wollen sie zurück? Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Liebe ist die Verantwortung eines Ichs für ein Du

Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Fantasie; und das Gedächtnis selber verwandelt sich, da es aus der Einzelung in die Ganzheit stürzt. Martin Buber ergänzt: „Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme; und die Sehnsucht selber verwandelt sich, da sie aus dem Traum in die Erscheinung stürzt.“ Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung. Dass die unmittelbare Beziehung ein Wirken am Gegenüber einschließt, ist an folgendem offenbar: die Wesenstat der Kunst bestimmt den Vorgang, in dem die Gestalt zum Werk wird. Das Gegenüber erfüllt sich durch die Begegnung, es tritt durch sie in die Welt der Dinge ein, unendlich fortzuwirken, unendlich Es, aber auch unendlich wieder Du zu werden, beglückend und befeuernd. Martin Buber (1878 – 1965) war ein österreichisch-israelischer Religionsphilosoph.

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Man darf sich vom Hass der anderen nicht anstecken lassen

So nachvollziehbar Hass als Reaktion auf ein Verbrechen ist, so hält er leider einen Menschen in einem negativen Zustand gefangen und schwächt seine Seele. Georg Pieper weiß: „Hass führt zu Anspannung und einer eingeengten Sichtweise. Wir dürfen uns vom Hass der anderen nicht anstecken lassen.“ Weder vom Hass der Islamisten noch vom Hass der Rechtspopulisten oder der Rechtsextremisten. Er macht diese Menschen nach der Ansicht von Georg Pieper außerdem viel wichtiger, als sie eigentlich sind. Und wenn man sich dem Hass gegen sie hingibt, begibt man sich auf die gleiche Stufe mit Leuten, die man wegen ihrer Gewalttaten und ihrer Aggression gegen andere Menschen ablehnt und fürchtet. Dadurch verliert man den Kontakt zu seinen eigenen Stärken und schadet sich selbst. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Das Zeitalter der großen Gereiztheit ist angebrochen

In der Welt der sozialen Netze herrscht längst ein Zustand rauschhafter Nervosität, eine Stimmung der kollektiven Gereiztheit, weil alles ans Licht gezerrt wird, sei es das Banale oder das Bestialische, die enthemmte Beschimpfung und die anonyme Attacke. Bernhard Pörksen analysiert in seinem neuen Buch „Die große Gereiztheit“ die Erregungsmuster der digitalen Epoche und das große Geschäft mit der Desinformation. Der Autor führt vor, wie sich die Idee von Wahrheit, die Dynamik von Enthüllungen, der Charakter von Debatten und die Vorstellung von Autorität und Macht verändern. Heute kann jeder Nachrichten versenden, der Einfluss der etablierten Medien schwindet. In dieser Gemengelage sollte der kluge und intelligente Umgang mit Informationen zur Allgemeinbildung gehören und in der Schule gelehrt werden. Denn die Mündigkeit in Bezug auf die Medien ist zur Existenzfrage der Demokratie geworden. Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

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Eine Kultur entsteht durch Intelligenz und Gefühle

Herkömmlicherweise erklärt man die kulturellen Bestrebungen der Menschen unter dem Gesichtspunkt des außergewöhnlichen menschlichen Intellekts. Dabei hält man die Gefühle kaum einer Erwähnung wert. Antonio Damasio stellt fest: „Die Stars der kulturellen Entwicklung sind vielmehr die Expansion von menschlicher Intelligenz und Sprache sowie das ungewöhnliche Ausmaß an Geselligkeit.“ Auf den ersten Blick gibt es gute Gründe dafür, eine solche Erklärung für plausibel zu halten. Die Kulturen der Menschen zu erklären, ohne dabei die Intelligenz zu würdigen, die sich hinter den neuartigen Mitteln und Vorgehensweise namens Kultur verbirgt, ist undenkbar. Dass die Beiträge der Sprache für die Entwicklung und Weitergabe von Kulturen entscheidend sind, muss nicht eigens betont werden. Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California und Direktor des dortigen Brain and Creative Institute.

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Die wahre Liebe wird immer geachtet werden

Das Studium, das dem Menschen angemessen ist, ist das seiner Beziehungen. Solange er sich nur als körperliches Wesen kennt, muss er sich im Hinblick auf seine Beziehungen zu den Dingen studieren: das ist die Beschäftigung seiner Kindheit; fängt er an, sich als geistiges Wesen zu fühlen, muss er sich im Hinblick auf seine Beziehungen zu den Menschen studieren: das ist die Beschäftigung seines ganzen Lebens. Jean-Jacques Rousseau schreibt: „Sobald der Mann eine Gefährtin braucht, ist er kein isoliertes Wesen mehr, sein Herz ist nicht mehr allein. Alle seine Beziehungen zu seiner Gattung, alle Zärtlichkeit seiner Seele werden mit jener geboren. Seine erste Leidenschaft wird bald die anderen in Wallung bringen.“ Die Neigung des Instinkts dagegen bezieht sich auf kein bestimmtes Objekt.

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Das Sicherheitsgefühl der Deutschen ist stark angeschlagen

Der islamistische Terror ist auch in Deutschland angekommen – nicht nur örtlich und politisch, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Seit dem Sommer 2016 vergeht kaum eine Woche ohne Nachrichten über aktuelle Terroranschläge oder Terrorwarnungen, auch in Deutschland. Die anhaltende Bedrohung hinterlässt Spuren bei der Bevölkerung. Jens Gnisa erklärt: „Das Sicherheitsgefühl der Deutschen ist stark angeschlagen. Die Furcht vor islamischem Terror steigt nach einer Erhebung im Roland Rechtsreport (2017) stetig.“ Das ist nicht nur irgendeine abstrakte Einschätzung. Die Menschen beziehen die Gefahr auf sich persönlich und fühlen sich unmittelbar bedroht. Das beeinflusst auch ihr Verhalten: 45 Prozent sind in größeren Menschenansammlungen verunsichert. Jens Gnisa fordert, dass dies nicht so bleiben darf. Denn dann ginge die perfide Strategie der Terroristen auf, deren Ziel die Einschüchterung der Bevölkerung ist. Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes.

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