Es gibt kein Recht ohne Moral

Das Recht nicht dasselbe ist wie Moral oder Sitte, ist allgemein bekannt. Trotzdem ist der vielfach geschriebene Leitsatz, Moral und Recht hätten „nichts miteinander zu tun“ oder seien „unabhängig voneinander“, zumindest verkürzt. Thomas Fischer nennt den Grund: „Denn es gibt zwar Moral ohne Recht, aber kein Recht ohne Moral.“ Als Recht bezeichnet man Ordnungen oder Systeme von Normen, die eine Metaebene ihrer Geltung enthalten, also eine übergeordnete, ihrerseits normative Sinnebene, die „vorschreibt“, wie, warum und auf welche Weise die Normen Gültigkeit und Legitimität erhalten. Das betrifft insbesondere die Entstehung der Rechtsnormen und ihre Abgrenzung zu außerrechtlichen normativen Erwartungen. „Recht“ kann es zum Beispiel sein, bestimmte Speisen nicht essen zu dürfen. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Timothy Snyder kritisiert die Politik der Unausweichlichkeit

Die Politik der Unausweichlichkeit beruht auf der Annahme, dass es keine Ideen gibt. Wer sich sklavisch der Unausweichlichkeit unterwirft, leugnet, dass Ideen von zentraler Bedeutung sind, und zeigt damit nur, dass er seinerseits dem Einfluss einer mächtigen Idee unterliegt. Der Leitspruch der Politik der Unausweichlichkeit lautet: „Es gibt keine Alternativen.“ Timothy Snyder kritisiert: „Wer das akzeptiert, leugnet, dass er als Individuum Verantwortung dafür trägt, geschichtliche Entwicklungen zu erkennen und verändernd einzugreifen. Er wird zum Schlafwandler, der seinem bereits markierten, vorab gekauften Grab entgegenwankt.“ Die kapitalistische Version einer Politik der Ungleichheit, in der der Markt an die Stelle der Politik tritt, schafft eine ökonomische Ungleichheit, die jeden Glauben an Fortschritt unterminiert. Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University und Autor der Bücher „Über Tyrannei“, „Black Earth“ und „Bloodlands“.

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Das Grundgesetz sichert die Menschenwürde

Das gesamte Recht in Deutschland berücksichtigt die wichtigsten Grundwerte der Gesellschaft – Menschenwürde, Menschlichkeit und die Gleichheit aller. Jens Gnisa ergänzt: „Das Grundgesetz als oberstes Gesetz sichert das allen Bürgern zu. Jedes andere Gesetz hat diese Werte zu beachten, darüber wacht das Bundesverfassungsgericht.“ Auch die Behörden haben sie bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, ebenfalls die Gerichte, wenn sie deshalb angerufen werden. Auf jeder dieser Stufen wird als die Menschenwürde streng beachtet. Den Vorstellungen des Rechts folgend, ist nach einer rechtskräftigen und abschließenden Entscheidung gar kein Platz mehr dafür, dass gesellschaftliche Gruppen diese Ergebnisse infrage stellen. Es ist gesetzt und soweit unantastbar. Dies gilt selbstverständlich auch im Ausländerrecht. Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes.

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Eine moderne Gesellschaft prägen Konflikte und Kontroversen

Gestützt auf die Erfahrung der Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer langen Geschichte religiöser und ethnischer Vielfalt, entwickelt der amerikanische Wissenschaftler Lee Bollinger die These, dass die freie Meinungsäußerung „unsere Fähigkeit auf die Probe stellt, in einer Gesellschaft zu leben, die unvermeidlich von Konflikten und Kontroversen geprägt ist; sie schult uns in der Kunst der Toleranz und wappnet uns gegen die Wechselfälle [einer solchen Gesellschaft]“. Da die Menschen äußerst verschieden sind, werden sie sich nicht alle für das gleiche Leben entscheiden. Sie werden nicht alle einig sein. Timothy Garton Ash erklärt: „Wie schon Immanuel Kant wusste, würde die menschliche Gesellschaft stagnieren und wäre einfältig, wenn wir das täten.“ Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

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Viele Menschen lehnen die Freiheit als Zumutung ab

Das Wünschenswerte im Leben kommt zugleich mit etwas Unerwünschtem daher, die helle Seite ist ohne die dunkle nicht zu haben. So ist es auch mit der Freiheit. Reinhard K. Sprenger erklärt: „Der Stolz auf sie ist nicht zu entbinden von der Angst vor ihr. Denn die Freiheit, entscheiden zu können, beinhaltet auch den Zwang, entscheiden zu müssen. Und damit steigt das Risiko für den Einzelnen, falsch zu entscheiden, von dem selbst gewählten Weg überfordert zu sein, gar zu scheitern.“ Und da die meisten Menschen dazu neigen, das Risiko zu überschätzen und die Chancen zu unterschätzen, ist die Neigung groß, Freiheit als Zumutung abzulehnen. Reinhard K. Sprenger ist promovierter Philosoph und gilt als einer der profiliertesten Managementberater und Führungsexperte Deutschlands.

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Die ersten Universitäten entstanden in Bologna und Paris

Die Universität in Europa hatte ihre Anfänge um das Jahr 1200 in Bologna und in Paris, das als „Stadt der Weisheit“ gerühmt wurde und bald alle anderen Denkorte Frankreichs, zeitweilig ganz Europas, überragte. Sie stellte die klerikalen Schulen in den Schatten, verdrängte sie aber nicht. Gelegentlich mag eine bereits existierende Rechts- oder Theologenschule den Anknüpfungspunkt geboten haben. Bernd Roeck erklärt: „So erwuchs die Universität von Bologna aus einer lokalen Juristenschule. Ihr Aufstieg wurde durch eine Mischung von Standortvorteilen, etwa der Lage an einer wichtigen Passstraße über den Apennin, und Zufällen wie der Präsenz kluger Köpfe begünstigt. Entscheidend waren die Rahmenbedingungen.“ Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

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Die Grenze gewährt Zuflucht

Der Staat bestimmt seinen Einflussbereich und seine Grenzen, ist für fremdes Hoheitsgebiet nicht zuständig. Paul Kirchhof ergänzt: „Gäbe es keine ersichtliche Staatsgrenze, die der Staat auch einmal schließen dürfte, fände der Aggressor bei einem militärischen Angriff auf diesen Staat keinen Haltepunkt.“ Und ein Diktator, der seine Grenze überschreitet, um jenseits seines Herrschaftsbereichs Gebiete zu erobern, träfe auf keine rechtlichen Warnsignale. Das Staatsvolk entwickelt seine Kultur in seinem Gebiet. Der Staatsangehörige hat die Gewissheit, im Gebiet seines Staates leben und in dieses jederzeit einreisen zu dürfen, dort grundsätzlich vor Auslieferungen sicher zu sein. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Die Verantwortung ist eng mit der Lüge verbunden

Konrad Paul Liessmann macht sich nichts vor: „Ist von Verantwortung die Rede, lauert im Hintergrund schon die Lüge.“ Ein Beispiel? „Verantwortung kennt keine Grenzen.“ Mit diesem Slogan bewarb der VW-Konzern vor dem Abgasskandal seine angeblich führende Rolle in Sachen „Corporate Social Responsibility“. Noch kurz vor seinem Rücktritt konnte der Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn verkünden: „Mit dem Wachstums des Konzerns wächst auch seine Verantwortung – für sichere und gute Arbeitsplätze, für die Ausbildung und die Chancen der jungen Generation, für Bildung, Wissenschaft und Kultur, für eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Talente entfalten kann, und vor allem auch: für eine intakte Umwelt.“ Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Die Freiheit schützt die Vernunft

In der Antike, im Mittelalter und am Beginn der Neuzeit forderte die Freiheit vor allem den Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Paul Kirchhof erläutert: „Mit Vernunft werde die Natur beherrscht, Frieden gesichert, Herrschaft gemäßigt, eine Gleichheit der Lebensverhältnisse für alle erstrebt.“ Heute in Zeiten dominanter teilrationaler Eigensysteme – der ökonomischen, technischen und sozialen Vernunft – muss man für eine ganzheitliche Freiheit kämpfen, die Folgen wettbewerblichen Gewinnstrebens, algorithmischer Folgerichtigkeit und sozialen Erwartungen in Frage stellen. Die Freiheit schützt die Vernunft, gewährt aber auch das Recht unvernünftig sein zu dürfen. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Der Glaube ist etwas Irrationales

Søren Kierkegaard (1813 – 1855) beschäftigt sich in seinem berühmtesten Werk „Entweder – Oder“ (1843) mit dem Thema der Entscheidungsfindung. Nigel Warburton erklärt den Inhalt: „Dieses Buch stellt den Leser vor die Entscheidung, entweder ein Leben des Vergnügens und der Schönheit zu wählen oder eines, das auf konventionellen Moralregeln gründet – eine Entscheidung zwischen Ästhetik und Ethik.“ Und immer wieder kehrte er in seinen Schriften auf ein Thema zurück – den Glauben an Gott. Den Mittelpunkt bildet die Geschichte von Abraham. Für Søren Kierkegaard ist der Glaube an Gott keine einfache Entscheidung, sondern eine, die einen Sprung ins Ungewisse erfordert, eine im Glauben getroffene Entscheidung, die sich sogar gegen konventionelle Vorstellungen von dem, was man tun sollte, wendet. Der Philosoph Nigel Warburton ist Dozent an der Open University. Er gibt außerdem Kurse über Kunst und Philosophie am Tate Modern Museum.

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Der Staat muss die Meinungsfreiheit schützen

Der Staat muss das einsetzen, was der Soziologe Max Weber als „Monopol auf legitime physische Gewaltsamkeit“ bezeichnet, um diese Menschen zu beschützen und diejenigen zu verfolgen, die sie zu töten drohen. Timothy Garton Ash ergänzt: „Das ein Rund-um-die-Uhr-Schutz teuer ist, muss eine demokratische Regierung ihren Worten auch Taten, sprich Geld, folgen lassen, selbst wenn manche Steuer zahlenden Wähler das nicht gutheißen werden.“ Das setzt natürlich voraus, dass nicht der Staat selbst offen oder verdeckt die Quelle gewaltsamer Einschüchterung ist, sondern sie vielmehr entschlossen und mit allen Mitteln bekämpft. Doch selbst wenn ein Staat alles in seiner Macht unternimmt, um gefährdete Personen zu schützen, wird deren persönliche Erfahrung dennoch traumatisch sein. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Ein Gemeinwesen braucht eine politische Herrschaft

Der Kernbestandteil eines jeden Gemeinwesens besteht in einem Recht, das sich wesentlich mit Zwangsbefugnis verbindet. Seinetwegen hat jedes Gemeinwesen einen Herrschaftscharakter, weshalb nicht die „geordnete Anarchie als philosophisches Leitbild des freiheitlichen Rechtsstaates“ behauptet werden kann. Otfried Höffe erklärt: „Weil angeblich jede Regierung Rechte von Individuen verletzt, taucht selbst gegen eine von den Betroffenen ausgeübte Herrschaft Skepsis auf.“ Es ist überraschend, dass ursprünglich, im Griechischen, die Herrschaftslosigkeit durchweg negativ bewertet wird. Auch in der politischen Neuzeit, etwa von Niccolò Machiavelli über Montesquieu bis Voltaire, herrscht die negative Einschätzung vor. Erst in Karl Marx` und Friedrich Engels` These vom Absterben des Staats, bei dem davon beeinflussten Herbert Marcuse, auch in der subversiven Institutionenkritik eines Michel Foucault und nicht zuletzt in antiautoritären Bewegungen lebt der Gedanke der Herrschaftsfreiheit auf. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Das Recht beschreibt Forderungen und Zumutungen

Unter „Recht“ versteht Thomas Fischer ein besonderes System von Regelungsmechanismen. Das Recht beschreibt nicht Gegebenheiten oder Kausalabläufe, sondern Forderungen und Zumutungen. Das Strafrecht als spezieller Regelungsbereich ist durch Voraussetzungen und Bedingungen geprägt, die nicht allein den Zusammenhang des Rechtssystems insgesamt berühren, sondern weitere Fragen nach den Grundlagen des Rechts als soziales Steuerungssystem aufwerfen. Thomas Fischer erläutert: „Es ist in den modernen Gesellschaften heute klar und gedanklich vorausgesetzt, dass Strafrecht in der Gesellschaft „gemacht“ wird und ihn nicht von außen vorgegeben ist. Ausnahmen in kleineren fundamentalistischen Gemeinschaften spielen praktisch keine Rolle.“ Damit wirft Thomas Fischer die Frage auf, auf welche Weise und aus welchen Quellen das Strafen und das Strafrecht entstehen. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Strafrecht ist Kommunikation und Gewalt

Thomas Fischer lotet in seinem neuen Buch „Über das Strafen“ die Wechselwirkungen von Strafrecht und Gesellschaft aus. Einer seiner hervorstechenden Thesen lautet: „Strafrecht ist Kommunikation und Gewalt.“ Denn im Strafrecht manifestiert sich erstens das Gewaltmonopol des Staates. Es steht im Fokus der politischen Bemühungen der Steuerung. Und zweitens ist die Kommunikation über das Strafrecht die Oberfläche sozialer Prozesse. Thomas Fischer vereint soziologische, philosophische und juristische Erkenntnisse zu einer so gehaltvollen wie provokativen Antwort auf die Frage nach dem Gleichgewicht von Rache und Prävention, Sicherheit und Freiheit, Affekt und Rechtsstaatlichkeit. Dabei erscheint das Strafrecht manchmal wie eine eigene Wirklichkeit, als eine mögliche, häufig sogar naheliegende Lösungsinstanz, die man aus der Unübersichtlichkeit der Lebenswelt und der gesellschaftlichen Problemlagen anrufen kann. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Der Zorn lässt Menschen kindisch wirken

Seneca hat eine Reihe unterschiedlicher Einwände gegen den Zorn. Oft, so behauptet er, gelte die Emotion ziemlichen Belanglosigkeiten. Weit davon entfernt, nützliches Verhalten zu fördern, stelle der Zorn eine sehr instabile und unverlässliche Grundlage der Motivation dar. Er sei beileibe nichts Erfreuliches, sondern vielmehr äußerst unerfreulich und eine Ursache für noch mehr Unerfreuliches. Martha Nussbaum zitiert Seneca weiter, der über den Zorn noch folgendes zu sagen hat: „Auch dient der Zorn nicht zuverlässig der Abschreckung, sondern lässt die Menschen kindisch wirken, und mit einer solchen Ausstrahlung verbindet sich nichts Abschreckendes.“ Keineswegs erhaben, sei der Zorn vielmehr Ausdruck von Engstirnigkeit und niederer Gesinnung. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Thea Dorn fordert eine Kultur des Streits

Die zentrale Tücke der Debatte um die sogenannte Leitkultur hat Norbert Elias, lange bevor der Begriff „Leitkultur“ überhaupt am Horizont aufgetaucht ist, bereits auf den Punkt gebracht: „Der Zivilisationsbegriff lässt die nationalen Differenzen zwischen den Völkern bis zu einem gewissen Grade zurücktreten; er akzentuier, was allen Menschen gemeinsam ist, oder – für das Gefühls einer Träger – sein sollte.“ Dagegen hält er lapidar fest: „Der Begriff >Kultur< grenzt ab.“ Thea Dorn allerdings glaubt nicht, dass dieser Schluss zwingend ist. Aus ihrer Sicht gibt es zwei Strategien, wie man mit diesem Begriff produktiv umgehen kann. Denn es gibt im Deutschen eine Verwendungsweise des höchst quecksilbrigen Kulturbegriffs, der ziemlich genau dem entspricht, was Norbert Elias über den Zivilisationsbegriff gesagt hat. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Verzeihen ermöglicht einen Neuanfang

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 01/2019 lautet: „Verzeihen. Gibt es einen Neuanfang?“ Wo Menschen handeln entsteht manchmal Schuld. Und in einzelnen Fällen wiegt sie so schwer, dass kein Heil mehr möglich scheint. Hier kommt das Verzeihen ins Spiel, als Weg das Gewesene zu verwandeln und neu zu beginnen: Darin waren sich Denker wie Friedrich Nietzsche, Hannah Arendt und Paul Ricœur einig. Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler schreibt in ihrem Beitrag, dass es Verletzungen gibt, die ein Dasein ganz und gar bestimmen können. Schmerzhafte Erfahrungen fesseln das Selbst – und nicht selten auch ganze Nationen. Sie halten Menschen gefangen in einer Fixierung auf Taten, die das Leben tief erschüttern, vielleicht gar zerstören. Der französisch-jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas schrieb: „Wer verzeiht, ist fähig, das Band mit der Vergangenheit neu zu knüpfen.“

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Der Gedanke an Vergeltung ist nur ein kurzer Traum

Die Vorstellung, dass Vergeltung ein sinnvolles Unternehmen ist und eine Verletzung auszugleichen man, ist allgegenwärtig und wahrscheinlich evolutionär ererbt. Vergeltung hat häufig auch eine psychische Funktion. Martha Nussbaum erklärt: „Wenn Menschen kulturell bedingt der Vorstellung anhängen, dass Vergeltung gut ist, werden sie Befriedigung empfinden, sobald sie ihre Rache bekommen. Diese Befriedigung wird häufig als „Abschluss“ bezeichnet.“ Martha Nussbaum vertritt in dieser Frage allerdings etwas sehr Radikales. Ihrer Meinung nach ist der vom Zorn umfasste Gedanke an Vergeltung oder Heimzahlung bei einer vernünftigen und nicht übermäßig ängstlichen und statusfokussierten Person nur ein kurzer Traum, eine Wolke, die bald durch vernünftigere Vorstellungen vom Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft vertrieben wird. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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Der ewige Friede bleibt ein unerreichbarer Menschheitstraum

Die verherrenden Wirkungen des Siebenjährigen Krieges waren nach dreißig Jahren noch spürbar. Die Ideale von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution erstickten am Gegensatz von „Bruder“ und „Vaterlandsverräter“, hatten zu Guillotine, Diktatur und Krieg geführt. Da erscheint Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“. Der Wille zum Frieden war allgemeine Hoffnung. Ewiger Friede aber blieb ein unerreichbarer Menschheitstraum. Paul Kirchhof schreibt: „Doch Immanuel Kant dachte radikal und kategorisch. Seine Schrift machten diesen Frieden zur Utopie – unmöglich mit einem Hauch von Hoffnung. Die Idee des Weltfriedens ist letztlich darauf angelegt, lang ersehnt und doch unverhofft verwirklicht zu werden.“ Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Paul Kirchhof weist den Weg zu einer beherzten Freiheit

Paul Kirchhof fordert in seinem neuen Buch „Beherzte Freiheit“ ein neues Denken der freiheitlichen Autonomie des Menschen. An zahlreichen Beispielen zeigt er, wie Menschen durch das Recht und die Politik aus falschem Wohlmeinen eingeschränkt werden. Die Globalisierung und Digitalisierung kann eine Person von einem handelnden Subjekt in ein lenkbares Objekt verwandeln. Paul Kirchhof warnt: „Wenn wir die Sorge für die Freiheit allein dem Staat überlassen, verkümmert unsere innere Kraft dazu.“ Echte Freiheit, so zeigt der Autor, lässt sich in einer an Gütern, Chancen und Informationen übervollen Gesellschaft nicht allein durch die Verbesserung der äußeren Lebensbedingungen gewinnen. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Die Gleichberechtigung der Geschlechter hat Verfassungsrang

Jede Form einer Diskriminierung der Frau ist in Deutschland verboten, insofern haben sich alle Kulturfremden im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis diesem deutschen Normverständnis unterzuordnen. Christian Schüle erläutert: „Die Gleichberechtigung der Geschlechter hat Verfassungsrang, und die auf der Verfassung aufbauende Rechtsordnung schützt Mann wie Frau gleichermaßen vor Einschränkungen ihrer Freiheit und Herabsetzung ihrer Würde.“ In Deutschland wie in Europa existiert das Grundrecht expliziter Gleichberechtigung der Geschlechter als Rechtsanspruch auf bedingungslose Würde, in islamischen Ländern hingegen wird meist gleiche menschliche Würde von gleichen Rechten getrennt betrachtet. Wer das thematisiert und artikuliert, ist weder Nationalist noch Fremdenfeind. Jenseits von Polit-Korrektheit und Apokalypse-Geraune darf bei nüchterner Betrachtung ja durchaus die Frage erlaubt sein, wie man einen allgemeine moralische Hilfspflicht gegenüber Menschen die an Leib und Leben bedroht sind, mit einem Regelwerk für kontrollierte Zuwanderung jener, die nicht asylberechtigt und arbeitswillig sind, in Einklang bringt. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Beschwörung der Heimat geschieht durch Abspaltung

Die kämpferische Verschärfung der Beschwörung der Heimat geschieht durch Abspaltung. Christian Schüle weiß: „Ihre quasi heilige Berufung auf eine glorreiche Vergangenheit ist allen sezessionistischen und separatistischen Gruppierungen eigen.“ Fast immer sind ihre Argumente zugleich ökonomischer und ökologischer Natur: Wohlhabende Regionen grenzen sich gegen jene ab, die ihren Wohlstand von außen bedrohen und ihre Regionen einwandern, weil aus separatistischer Sicht Wohlstand und Region Synonyme sind. Einer politischen Abgrenzung entspricht als typische Geisteshaltung der Separatismus, vielfach zu studieren an Unabhängigkeitsgelüsten in Norditalien, im Baskenland, in Katalonien, in Schottland und in der Ost-Ukraine. Der Traum vom eigenen Ministaat, von der heilen Welt der unverdorbenen, autarken, autonomen Heimat, bringt die Selbstbestimmung der regionalen Bürger in Stellung gegen die Fremdbestimmung durch die eigene Nation oder etwa den „Suprastaat“ der Europäischen Union. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Stefan Weidner fordert ein kosmopolitisches Denken

Viel zu lange glaubten die Staaten des Westens, dass sich ihre Maximen wie Fortschritt, Säkularität und Liberalismus sich irgendwann auf der ganzen Erde durchsetzen würden. Aus einer radikal aufklärerischen Position heraus stellt Stefan Weidner diese vermeintliche Überlegenheit in seinem Buch „Jenseits des Westens“ in Frage: Gerade heute braucht es seiner Meinung nach ein kosmopolitisches Denken, das ganz unterschiedliche Weltenwürfe ernst nimmt. Auch in Arabien, Afrika und China haben sich etwa Vorstellungen von der Würde des Menschen entwickelt und wie sie durch das Recht garantiert werden kann. Jedem Weltbild geht eine Grammatik, ein Vokabular, eine Überlieferung, eine Erzählung voraus. Dieses Narrative, das heißt, die Geschichten, die über die Welt erzählt werden, interessieren Stefan Weidner mehr als das, was angeblich die Welt selbst sein soll. Stefan Weidner studierte Islamwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn.

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Viele Deutsche fürchten sich vor dem sozialen Abstieg

Der Ruf nach dem starken Staat zeigt immer die Annahme einer schwachen Gesellschaft an – wenn Schwäche im Verhängniszusammenhang von Orientierungsverlust und Angst vor dem persönlichen Abstieg besteht. Christian Schüle erläutert: „Individuelle Verlustangst ist die treibende Kraft hinter der Ablehnung jener Mächte, die man dafür verantwortlich macht: Globalisierung, Kapitalismus, Migration. Sie alle, so lässt sich solches Denken personalisieren, nehmen mir auf meiner Scholle in meiner Heimat das mir Zustehende ab.“ Großherzigkeit, Humanitarismus, Toleranz und Solidarität, heißt das im Umkehrschluss, muss man sich leisten können. Und sie sind nur dann möglich, wenn das eigene Ich stabil im Leben steht, getragen von einem formidablen Bruttoinlandsprodukt mit relativer Perspektive von stabilen Wohlstand, Wachstum, Steigerung und Verbesserung, wenn man sich in relativer Ruhe nach oben orientieren kann. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Globalisierung ist weit vielfältiger als sie wahrgenommen wird

Die derzeitige Globalisierung ist weit vielfältiger, als sie üblicherweise wahrgenommen wird. Im Gegensatz zur verbreiteten ökonomistischen Verkürzung findet sie nämlich in drei Dimensionen statt, die Otfried Höffe als „globale Gewaltgemeinschaft“, als „globale Kooperationsgemeinschaft“ und als „globale Schicksalsgemeinschaft von Not und Leid“ bezeichnet. Längst lebt die Menschheit in einer Welt, in der das Netz wirtschaftlicher und sozialer, technischer und ökologischer, wissenschaftlicher und kultureller, nicht zuletzt rechtsmoralischer Kooperation immer enger geknüpft ist. Otfried Höffe ergänzt: „Leider trifft das auch auf das Netz krimineller und anderer Bedrohungen zu. In all diesen Bereichen taucht ein globaler Handlungsbedarf auf.“ Als Bespiele nennt Otfried Höffe den Umwelt- und Klimaschutz sowie den Kampf gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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