Helmut Walser Smith blickt auf den Bauernkrieg zurück

Der Bauernkrieg, der größte Aufstand in der europäischen Geschichte vor der Französischen Revolution, begann mit Revolten der Landbevölkerung im Südschwarzwald und im Bodenseeraum. Er breitete sich bis ins Allgäu und an den Oberrhein aus. Helmut Walser Smith weiß: „Schon bald nahm dieser Krieg sowohl religiösen als auch politischen Charakter an.“ Mit der Ausweitung der Aufstandsbewegung auf die Pfalz und Thüringen sowie Richtung Süden bis nach Tirol fand sie immer mehr Unterstützung, vor allem bei den Armen in den Städten. Anfang April 1525 waren nach Schätzungen heutiger Historiker nicht weniger als 300.000 Menschen bereit, gegen ihre Unterdrücker zu den Waffen zu greifen. Doch die Bauern waren den gut bewaffneten, kampferprobten Soldaten nicht gewachsen. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

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Die Folgekosten des „Aufbau Ost“ wurden unterschätzt

Die Neubildung der deutschen Nation – und darum ging es ja bei und nach der Wiedervereinigung von 1990 – schien gelungen. Deutschland war ein postklassischer Nationalstaat, als Großmacht gezähmt, da in vielfältige supranationale Strukturen und Gebilde eingebunden. Die Deutschen hatten aus ihrer Geschichte gelernt und begriffen, dass sie nach zwei Weltkriegen und ungeheuerlichen Verbrechen eine unverhoffte zweite Chance erhielten, wie sie im Leben nur selten vorkommt. Edgar Wolfrum erinnert sich: „Der äußeren Einheit würde rasch die innere Einheit folgen. „Blühende Landschaften“ wurde versprochen. Das war die erste Täuschung.“ Die Transformation von einer sozialistischen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft verlief nicht reibungslos. Zwischen West und Ost tat sich ein großer Graben auf, die Folgekosten des „Aufbau Ost“ wurden massiv unterschätzt. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Es gibt nicht die eine deutsche Geschichte

Helmut Walser Smith beschreibt in seinem neuen Buch „Deutschland“ die Geschichte der deutschen Nation von 1500 bis in die Gegenwart. Dabei hält er die Idee des Nationalstaats und die Ideologie des Nationalismus hellsichtig auseinander. Imaginationen von Deutschland und deutsche Wirklichkeit stoßen in seinem Werk hart aufeinander. Die nationalistischen Exzesse des Dritten Reichs im 20. Jahrhundert schildert Helmut Walser Smith ebenso eindringlich wie schonungslos. Seine klugen Gedanken über Deutschland und das Erbe seiner Vergangenheit reichen bis hin zur Bundestagsrede von Navid Kermani und den aktuellen Versuchen der Alternative für Deutschland (AfD), sich der deutschen Geschichte zu bemächtigen. Für den australischen Historiker Christopher Clark ist das Buch eine Pflichtlektüre für jeden, der sich für Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft interessiert. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

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Das Universelle hat zwei Bedeutungen

François Jullien kennt den Unterschied zwischen dem Universellen, dem Gleichförmigen und dem Gemeinsamen. Das Universelle hat dabei für den französischen Philosophen zwei Bedeutungen. Da ist einerseits eine konstative, man könnte sagen schwache Bedeutung, die sich auf die Erfahrung beschränkt: „Soweit wir bisher beobachten konnten, stellen wir fest, das etwas immer so gewesen ist.“ In diesem Sinne bezieht sich der Begriff auf das Allgemeine. Das Universelle besitzt jedoch auch eine starke Bedeutung, nämlich die der universellen Gültigkeit im genauen oder strengen Sinn – sie ist es, woraus man in Europa eine Forderung des Denkens gemacht hat. François Jullien erläutert: „Wir behaupten von vornherein, noch vor aller Bestätigung durch die Erfahrung, dass eine bestimmte Sache so sein muss.“ François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

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Die Identität junger Muslime ist gespalten

Junge Muslime der zweiten Generation leben vorwiegend in weltlichen Gesellschaften mit christlichen Wurzeln. Sie befinden sich also in einer Umgebung, in der ihren religiösen Werte und Bräuche nicht öffentlich unterstützt werden. Ihre Eltern stammen häufig aus geschlossenen Dorfgemeinschaften. In denen praktiziert man beispielsweise lokale Formen des Islams, etwa die sufische Heiligenverehrung. Francis Fukuyama weiß: „Wie vielen Kinder von Immigranten liegt ihnen daran, sich von der altmodischen Lebensweise ihrer Familien zu distanzieren. Aber es fällt ihnen schwer, sich ihrer neuen europäischen Umgebung anzupassen.“ Die Jugendarbeitslosenquoten, zumal für junge Muslime, übersteigen oftmals dreißig Prozent. Und in etlichen europäischen Ländern stellt man immer noch eine Verbindung zwischen Ethnizität und Zugehörigkeit zu der dominierenden kulturellen Gemeinschaft her. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

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Die homogene Gesellschaft ist eine Illusion

Die Deutschen leben in einer pluralisierten Gesellschaft. Das ist nicht nur ein relativ neues Faktum. Das ist auch ein unhintergehbares Faktum: Es gibt keinen Weg zurück in eine nicht-pluralisiert, in eine homogene Gesellschaft. Isolde Charim erklärt: „Um die Reichweite und das ganze Ausmaß der Neuheit zu ermessen, muss man sich den „prä-pluralen“ Gesellschaften, also den Gesellschaften Westeuropas vor ihrer Pluralisierung zuwenden.“ Denn diese geben das Vergleichsmodell ab. Diese homogenen Gesellschaften, also diese Gesellschaften einer relativen ethischen, religiösen und kulturellen Einheitlichkeit sind gewissermaßen die Negativfolie. Der Hintergrund, von dem sich die heutige, pluralisierte Gesellschaft abhebt. Diese homogenen Gesellschaften waren nicht einfach da. Sie sind nicht einfach gewachsen, sozusagen natürlich. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Die Autoritären sehnen sich nach Stärke

Die Wähler von rechtspopulistischen Parteien hegen eine besondere Faszination für autokratische Führungspersönlichkeiten. Dazu zählt Philipp Hübl den Russen Wladimir Putin, den Ungarn Viktor Orbán und den Türken Recep Tayyip Erdoğan. Die Alternative für Deutschland (AfD) lehnt zwar den Internationalismus und damit oft auch den Amerikanismus ab. Sie bewundert aber gleichzeitig Donald Trump für sein autoritäres Auftreten. Einige Forscher beobachten bei den Neuen Rechten eine heimliche Eifersucht gegenüber den islamisch regierten Ländern. Diese sind zwar ihre erklärten Feinde, aber mit ihrer streng patriarchalischen Gesellschaftsform haben sie dennoch eine Vorbildfunktion inne. Die Autoritären sehnen sich nicht nur nach einem starken Herrscher, sondern auch nach einer starken eigenen Nation. Diese sollte auf jeden Fall internationale Bedeutung haben. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

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Isolde Charim stellt den zweiten Individualismus vor

Der zentrale Wunsch des zweiten Individualismus ist es, sich nicht zu verändern, sondern sich nur zu bestätigen. Der erste Individualismus hat den Großverbänden zugesprochen, die Individuen zu transformieren. Isolde Charim erläutert: „Der Einzelne trat etwa einer Partei bei, die ihn verwandelte zu einem Parteimitglied oder zu einem Parteigenossen machte. Assoziation, Verband bedeutete damit auch: Veränderung des Individuums.“ Und das ist ein grundlegender Unterschied zum zweiten Individualismus. Geht es bei diesem doch darum, sich eben nicht zu verändern. Denn im Zeitalter des Authentizität geht es nicht nur darum, einen eigenen Weg zu wählen – eine eigene Kirche, eine eigene Partei oder sonst eine eigene Gruppierung –, sondern auch darum, dass diese „mich ansprechen“ muss. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Die Deutschen mangelte es am Geist des Verhaltens

Nicht jeder Mensch, der sich liebt, wird zum Narzissten. Nicht jede Nation, die sich liebt, wird zum narzisstischen Monster. Thea Dorn erläutert: „Im Gegenteil: Für dergleichen Störungen und Exzesse sind gerade diejenigen Menschen und Nationen anfällig, die sich in Wahrheit selbst verachten.“ Denn sie verfügen eben über kein souveränes, gelassenes Selbstbewusstsein, sondern leiden vielmehr unter einem Minderwertigkeitskomplex. Unter einem groben Minderwertigkeitskomplex haben die Deutschen von Anfang an gelitten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlichte Adolph Freiherr von Knigge seine berühmte Benimmfibel „Über den Umgang mit Menschen“. Die Notwenigkeit seiner Schrift begründete der Freiherr damit, dass es den Deutschen bei aller Gemütstiefe leider eklatant am „esprit de conduite“ mangele. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Nationalstaaten sind oftmals reißende Bestien

Das einzige Mittel die deutsche Gesellschaft vor einer noch gravierenderen und irgendwann nicht mehr zu kontrollierenden Spaltung zu bewahren, scheint für Thea Dorn das Bekenntnis zur Nation zu sein. Und zwar nicht in einem völkisch-ethischen, sondern in einem verfassungsrechtlichen, sozialsolidarischen und kulturellen Sinn. Thea Dorn weiß: „Nationalstaaten sind keine Lämmer. Oft genug haben sie bewiesen, dass sie zu reißenden Bestien werden können. Und beweisen es in manchen Regionen der Welt noch immer.“ Andererseits ist es in der Menschheitsgeschichte bisher keinem Gesellschaftsmodell außer dem Nationalstaat gelungen, einen verlässlichen Rahmen für Menschen- und Bürgerrechte zu bieten. Die extrem kleinen Stadtstaaten im antiken Griechenland glichen eher erweiterten Familienverbänden, in denen nahezu jeder Bürger mit jedem verwandt war. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Die Kultur kann von einer störrischen Unnachgiebigkeit sein

In Reaktion auf eine soziale Ordnung, in der Kultur wahrhaftig allumfassend erschien, begannen einige postmoderne Theoretiker in den 1980er Jahren, die Lehre des Kulturalismus zu verbreiten, wonach der Mensch seiner gesamten Existenz nach Kultur sei. Terry Eagleton ergänzt: „Jede Erwähnung der Kultur wurde zutiefst suspekt, paradoxerweise ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, als die Umweltbewegung auf der Bildfläche erschien.“ Wann immer in einem postmodernen Text das Wort „Natur“ auftaucht, ist es in der Regel von verschämten Anführungszeichen umrahmt. Menschen gelten nicht mehr als natürliche, materielle Tiere mit Bedürfnissen und Fähigkeiten, die ihnen als Art gemeinsam sind, sondern sie werden durch und durch zu kulturellen Geschöpfen. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Die Reichsfürsten hatten kein Interesse an einem deutschen Nationalstaat

Der Traum von der deutschen Nation ist älter als der deutsche Nationalstaat. Thea Dorn weiß: „Und diejenigen, die ihn träumten, waren mitnichten die deutschen Reichsfürsten.“ Im Gegenteil: Die Feudalherren im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation hatten wenig bis gar kein Interesse an einem deutschen Nationalstaat. Das Heilige Römische Reich deutscher Nationen hatte sich im 10. Jahrhundert unter der Dynastie der Ottonen herausgebildet und bestand auf dem Papier bis 1806. Den deutschen Reichsfürsten war viel mehr daran gelegen, unter dem Schutzmantel des Heiligen Römischen Reichs ihre lokale Macht auf den klein- und kleinstaatlichen Schollen zu erhalten. Der Träger und Verfechter des nationalen Gedankens in deutschen Landen war zuallererst das Bürgertum. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Der Wert einer Gesellschaft wird unterschiedlich beurteilt

Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, lautet: Worin besteht der Wert einer Gesellschaft beziehungsweise einer Nation? Die Anhänger eines Weltbildes, das sich primär an sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit orientiert, würden sagen: Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich, welches Leben sie den Schwächsten ihrer Mitglieder ermöglicht. Thea Dorn fügt hinzu: „Anhänger eines Weltbildes, das Exzellenz im Blick hat, würden sagen. Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich in erster Linie an ihren Leistungen auf den verschiedensten Gebieten – in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Technik, in der Wirtschaft, im Sport.“ Man kann auch sagen, dass eine Gesellschaft, die das Streben nach Exzellenz aufgibt, sich der Schafherde annähert, die Immanuel Kant beschreibt. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Viele Menschen lehnen die Freiheit als Zumutung ab

Das Wünschenswerte im Leben kommt zugleich mit etwas Unerwünschtem daher, die helle Seite ist ohne die dunkle nicht zu haben. So ist es auch mit der Freiheit. Reinhard K. Sprenger erklärt: „Der Stolz auf sie ist nicht zu entbinden von der Angst vor ihr. Denn die Freiheit, entscheiden zu können, beinhaltet auch den Zwang, entscheiden zu müssen. Und damit steigt das Risiko für den Einzelnen, falsch zu entscheiden, von dem selbst gewählten Weg überfordert zu sein, gar zu scheitern.“ Und da die meisten Menschen dazu neigen, das Risiko zu überschätzen und die Chancen zu unterschätzen, ist die Neigung groß, Freiheit als Zumutung abzulehnen. Reinhard K. Sprenger ist promovierter Philosoph und gilt als einer der profiliertesten Managementberater und Führungsexperte Deutschlands.

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Regionale Einheiten haben das Bild der deutschen Kultur geprägt

Es gibt Menschen, die ihre spezifische Skepsis gegenüber einer „deutschen Kultur“ nicht einfach nur behaupten, sondern bereit sind, diese zu begründen. Das erste Argument, das in diesem Zusammenhang regelmäßig angeführt wird, lautet: Deutschland ist so hochgradig regional geprägt, dass sich nicht sinnvoll von einer gemeinsamen „deutschen Kultur“ reden lässt, sondern allenfalls von einer „bayerischen“ einer „rheinischen“, einer „westfälischen“, einer „sächsischen“ usw. Thea Dorn schreibt: „Auf den ersten Blick hat das Argument, die deutsche Kultur erschöpfe sich in Regionalkulturen, einiges für sich. Wie der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner es so schön auf den Begriff brachte, handelt es sich bei Deutschland um eine „verspätete Nation“, sprich: Bis 1871 war Deutschland ein bunter – manche sagen: grotesker – Flickenteppich aus Königreichen, Großherzog-, Herzog-, und Fürstentümern; ein Kurfürstentum, eine Landgrafschaft und ein paar freie Städte kamen noch hinzu.“ Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Die Frage: Was ist deutsch? ist schwer zu beantworten

Es gibt eine Frage, die endlos diskutiert wird und die lautet: „Was ist deutsch?“ Bis zum Jahr 1800 bezog sich die Antwort auf diese Frage in erster Linie auf die Sprache, nachdem die Reformation, im Gegensatz zur territorialen und konfessionellen Zersplitterung, das Deutsche als gemeinsame Sprache etabliert hatte. Jenseits dessen allerdings wurde es schnell diffus. Andreas Rödder ergänzt: „Und so wurde die Debatte über die deutsche „Identität“ zu einem Wesensmerkmal der deutschen Identität.“ „Redlich, rechtschaffen, unverstellt“ – in Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von 1811 wurden individuellen Charaktereigenschaften als Merkmale der Deutschen als Volk aufgeführt. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Nationen gründen sich oftmals auf Mythen und Erzählungen

Nationen sind, so die klassische Definition von Ernest Renan, keine materiellen Phänomene, sondern geistige Prinzipien. Sie beruhen darauf, dass eine Gruppe von Menschen sich aufgrund bestimmter Merkmale wie Staatsangehörigkeit, gemeinsamer Sprache, Kultur oder Geschichte als zusammengehörig begreift. Andreas Rödder ergänzt: „Der Realitätsgehalt dieser Vorstellungen gemeinsamer Geschichte und Kultur ist in der Regel begrenzt, vielmehr beruhen sie oftmals auf Mythen und Erzählungen.“ Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat Nationen daher als „vorgestellte“ oder gar „erfundene Gemeinschaften bezeichnet – was freilich nichts an der durchschlagenden Wirkung dieser Idee in der Geschichte der westlichen Moderne ändert. Denn Gemeinschaften, die sich als Nation verstanden, wollten im 19. Jahrhundert auch in einem Staat zusammenleben. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Christian Schüle untersucht die Sehnsucht nach Identität

In einer Epoche des Verlustes von Grenzen mag die Sehnsucht nach Identität vor allem ein Verlangen nach Leiblichkeit in einer Welt sein, die sich im Zuge der Globalisierung zugleich entleiblicht. Christian Schüle erläutert: „Heimat ist immer auch Raum-Philosophie – die Philosophie einer spürbaren, in ihren Grenzen erfahrbaren Identität. Die Klärung dessen, was unter zeitgemäßer Identität zu verstehen sein könnte, ist mittlerweile zu einem globalen Desiderat geworden.“ Was aber begründet nationale Identität? Sprache? Sitte? Tradition? Vermutlich von allem etwas. Die Meinungsforscher des amerikanischen Pew Research Centers bestätigen, dass 80 Prozent der 2016 von ihnen Befragten Europäer der Auffassung sind, nationale Identität erfordere die Kenntnis der Landessprache. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die politischen Parteien sind in eine Krise geraten

Der Bürger, das war einmal der Angehörige eines definierten sozialen Standes mit bestimmten Interessen, Lebensformen und Werten, die sich in einer politischen Partei artikulierten und ausdrücken sollten. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Und der Bürger ist das Mitglied einer politischen Gemeinschaft, das je nach Lebenslage, Herkunft, Sozialisation und Perspektiven unterschiedliche, oft divergierende und rasch wechselnde Interessen, Präferenzen und Lebenskonzepte vertritt, die sich nur noch schwer im Angebot einer Partei fassen lassen und zu einer Fluktuation im Bekunden politischer Vorlieben führt.“ Traditionelle Weltanschauungsparteien mit starken Wurzeln in einer bestimmten sozialen Schicht werden mit den offenen und sich rasch wandelnden Konzepten einer Multioptionsgesellschaft konfrontiert. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Die Reformation mündete in eine strenge Überwachung der Sitten

Als der amerikanische Soziologe David Riesman beschrieb, wie die Fähigkeit des Lesens die menschliche Persönlichkeit verändert hat, kam er in seiner Darstellung um die Lektüre der Bibel nicht herum. Wie Emmanuel Todd feststellt, gibt es tatsächlich eine protestantische Grundpersönlichkeit: „Auf sich selbst gerichtet, ist sie durch ihre Moral, ob sexuell oder nicht, zu Schuldgefühlen und einem ehrbaren, rechtschaffenen Leben prädestiniert, das dem Lernen und der Arbeit zugewandt ist.“ Kann allein das Eintauchen in die Innerlichkeit erklären, warum sich in der Geisteswelt des Protestantismus der Verband der Brüder, Schwestern und Cousins aufgelöste hat. Für Emmanuel Todd ist dies wahrscheinlich. Aber eine „individualisierende“ Deutung wäre hier zu einfach. Im konkreten Leben der protestantischen Gemeinden vom 17. bis zum 19. Jahrhundert zeigten sich die lokalen Gruppen mit ihrer Fähigkeit, das Leben des Einzelnen zu kontrollieren, gewaltig gestärkt. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

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Die europäischen Nachbarn haben mit Deutschland ein Jahrhundertproblem

Andreas Rödder erzählt in seinem neuen Buch „Wer hat Angst vor Deutschland?“ von der Rolle und der Wahrnehmung Deutschlands in den letzten knapp 150 Jahren. Die Bundesrepublik ist heute die stärkste Macht in Europa, wirtschaftlich wie politisch. Diese Stärke zieht sich ebenso durch die Geschichte wie die ambivalente Wahrnehmung Deutschlands in den Nachbarländern: als Kulturnation und als rücksichtsloser Staat. Andreas Rödder erläutert die Entstehung und die Wirkung solcher Stereotypen, aber auch der deutschen Selbstbilder, die ganz anders ausfielen. Aktuell steckt Deutschland wieder einmal in einem Dilemma. Allenthalben wird erwartet, dass es politische Führung übernimmt. Doch wenn es dies tut, ist der Vorwurf der Dominanz sofort bei der Hand. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Es gibt keine einheitlichen Nationen

Romantische Nationalisten wie Johann Gottfried Herder begriffen Nationen als einheitlich, selbsterschaffend und selbstbestimmt. In dieser Hinsicht kann man meinen, sie ähnelten Kunstwerken. Terry Eagleton stellt fest: „Es lässt sich kaum überschätzen, wie viel Unheil diese Lehre in die moderne Welt gebracht hat. Zunächst einmal gibt es keine einheitlichen Nationen. Die meisten Gesellschaften sind ethnisch vielfältig, und alle sind sozial gespalten.“ Nationen sind politische Konstrukte, keine Naturerscheinungen. Bürger einer Region oder eines Landes, die von einer fremden Macht unterdrückt werden, haben das Recht auf Selbstbestimmung; aber es spricht einiges für die These, dass sie einen solchen Anspruch haben, weil sie Menschen sind, und nicht, weil sie ein Volk sind. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Wie Gott ist die Nation heilig

Der Nationalismus sollte sich als die erfolgreichste revolutionäre Bewegung der Moderne erweisen. Er sollte Reiche zu Fall bringen, Tyrannen stürzen und zur Gründung einer Vielzahl neuer politischer Staaten führen. Er war gewissermaßen auch, wie ein Interpret schrieb, „die Erfindung der Literaten“, was man nicht unbedingt mit weltverändernden Projekten verbindet. Terry Eagleton ergänzt: „Und der wichtigste Grund dafür war die Bedeutung, die der Nationalismus dem Kulturbegriff beimaß.“ Vor allem durch den revolutionären Nationalismus gelang es dem Kulturbegriff, so abstrakt und ungreifbar er zunächst auch erscheinen mochte, das Antlitz der Erde zu verändern. Das Verlangen der Nationen, von ihren Kolonialherren frei zu sein, erwies sich als die wirkungsvollste Verbindung von Kultur und Politik in der Moderne, weit effektiver als die sogenannte Kulturpolitik der Gegenwart. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Die klassischen politischen Institutionen sind in Gefahr

Die Demokratie gibt es seit rund 2500 Jahren, aber in unterschiedlicher Gestalt. Von der überschaubaren Herrschaft der Bürger, wie sie die antike Polis zeitweilig bestimmte, über die römische res publica bis zu den neuzeitlichen Formen des Parlamentarismus wandelte sich die Gestalt einer Idee, die, und das scheint entscheidend, Politik als eine öffentliche, gemeinsame Angelegenheit und Herrschaft, als eine vom Volk legitimierte und kontrollierte Form der begrenzten Machtausübung verstanden hatte. Heute ist die Demokratie laut Konrad Paul Liessmann in Gefahr: „Wir beobachten nicht nur eine Erosion und Schwächung klassischer demokratischer Institutionen, sondern überhaupt die Verdrängung des Politischen durch die Interessen der Ökonomie.“ Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Die Machtzentren der Welt haben sich nicht verlagert

Die politische Ökonomie ist laut Emmanuel Todd nicht in der Lage, die gewaltigen Umwälzungen in der Welt zu erfassen. Um dies zu erkennen hält sich der französische Soziologe an die am weitesten entwickelten Länder. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten Brasiliens und Chinas räumen mit der Illusion auf, die Geschichte werde fortan maßgeblich durch die Schwellenländer geprägt. Emmanuel Todd schreibt: „Die Spielregeln der wirtschaftlichen Globalisierung wurden in den Vereinigten Staaten, Europa und Japan festgelegt. Diese „Triade“ hat seit 1980 die jüngst alphabetisierten Erwerbsbevölkerungen der Dritten Welt in Arbeit gebracht, dadurch die inländischen Arbeitseinkommen gewaltig unter Druck gesetzt und – wie man sagen muss – auf diese Art weltweit die Profitraten erhöht.“ Wohl noch besser drückt sich die Vorherrschaft der alternden entwickelten Welt in einer anderen Fähigkeit aus. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

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