Es gibt kein Recht ohne Moral

Das Recht nicht dasselbe ist wie Moral oder Sitte, ist allgemein bekannt. Trotzdem ist der vielfach geschriebene Leitsatz, Moral und Recht hätten „nichts miteinander zu tun“ oder seien „unabhängig voneinander“, zumindest verkürzt. Thomas Fischer nennt den Grund: „Denn es gibt zwar Moral ohne Recht, aber kein Recht ohne Moral.“ Als Recht bezeichnet man Ordnungen oder Systeme von Normen, die eine Metaebene ihrer Geltung enthalten, also eine übergeordnete, ihrerseits normative Sinnebene, die „vorschreibt“, wie, warum und auf welche Weise die Normen Gültigkeit und Legitimität erhalten. Das betrifft insbesondere die Entstehung der Rechtsnormen und ihre Abgrenzung zu außerrechtlichen normativen Erwartungen. „Recht“ kann es zum Beispiel sein, bestimmte Speisen nicht essen zu dürfen. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Recht kann nur durch Recht entstehen

Die Frage, auf welche spezifische Quelle Recht zurückgeführt wird, ob und welche Änderungsregeln es gibt und auf welche Weise eine praktische „Anwendung“ und Durchsetzung erfolgt, ist für die Frage, ob eine Normordnung „Recht“ ist, im Grundsatz gleichgültig. Thomas Fischer erläutert: „Als Recht können Regeln gelten, die angeblich göttlich gesetzt und unveränderbar sind; aber auch solche, deren Geltung ganz und gar „positivistisch“, also als schlichte „Gesetztheit“ begründet wird.“

Wenn Thomas Fischer die Geltungslinie von Recht zu Ende denkt, stößt er auf die paradoxe Erkenntnis „Recht kann nur durch Recht entstehen“ – jede Anerkennungsregel, die aus einer normativen Erwartung „Recht“ macht, muss ihrerseits schon Recht sein, um selbst Geltung zu erlangen. Insofern könnte man als zusätzliche Bedingung das Element von „Herrschaft“ oder Durchsetzungsmacht hinzufügen, um ein nicht-zirkuläres, externes Kriterium in die Definition einzufügen. Aber man nimmt heute ganz überwiegend an, dass auch solche Normensysteme „Recht“ sein können, die keine – rechtlich begründete – Durchsetzungsmacht beinhalten oder voraussetzen.

Trotz Recht ist Gewalt immer möglich

Damit sind vor allem Ordnungen gemeint, die auf „Aushandeln“ oder Mediation beruhen. Solche Modelle finden sich in nichtstaatlichen Gesellschaften, in denen Konflikte zur Vermeidung von Gewalt und Rache von einer neutralen Instanz – Priester, Ältester – bis zur Lösung ausgehandelt und verglichen werden. „Recht“ ist hierbei nicht die Grundlage von „Ansprüchen“, sondern allein die Regelungsordnung zum „Wegverhandeln“ des Konflikts; die materiellen Berechtigungen bleiben dabei auf der Ebene von Moral und Brauch.

Im Hintergrund des Rechts stehen immer die Möglichkeit der Gewalt und eine Verstetigung von normativen Erwartungen zu deren Vermeidung; hieraus entstehen – nicht zwangsläufig, aber naheliegen – Formalisierungen, die aus Normen über die Verstetigung selbst bestehen. Thomas Fischer nennt ein Beispiel: „Wenn man vermeiden will, dass die Verletzung einer Person zu einem lang dauernden Rachekampf zwischen den Clans von Opfer und Täter führt, ist es sinnvoll, sich auf eine „Buße“ zu einigen, die zu zahlen ist, damit die Angelegenheit als beigelegt angesehen werden kann. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer

Von Hans Klumbies