Der Zorn lässt Menschen kindisch wirken

Seneca hat eine Reihe unterschiedlicher Einwände gegen den Zorn. Oft, so behauptet er, gelte die Emotion ziemlichen Belanglosigkeiten. Weit davon entfernt, nützliches Verhalten zu fördern, stelle der Zorn eine sehr instabile und unverlässliche Grundlage der Motivation dar. Er sei beileibe nichts Erfreuliches, sondern vielmehr äußerst unerfreulich und eine Ursache für noch mehr Unerfreuliches. Martha Nussbaum zitiert Seneca weiter, der über den Zorn noch folgendes zu sagen hat: „Auch dient der Zorn nicht zuverlässig der Abschreckung, sondern lässt die Menschen kindisch wirken, und mit einer solchen Ausstrahlung verbindet sich nichts Abschreckendes.“ Keineswegs erhaben, sei der Zorn vielmehr Ausdruck von Engstirnigkeit und niederer Gesinnung. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

Zorn ist ein Zeichen der Unbeherrschtheit

Zorn resultiert auch häufig aus einer Unterstellung feindlicher Absichten, wo es keine gibt. Viele Menschen neigen dazu, anderen zu glauben, wenn sie einem sagen, dass man verletzt oder ungerecht behandelt worden ist. Dabei sollte man vielmehr sehr skeptisch sein. Seneca fügt noch einen interessanten Punkt an: „Danach verwechseln wir Menschen häufig überraschendes Verhalten mit unrechtem Verhalten – vermutlich weil wir Gewohnheitstiere sind und durch jede Abweichung vom üblichen Verlauf aufgeschreckt werden.“

Ungeachtet literarischer Gegendarstellungen ist Zorn auch nichts Schönes oder Erfreuliches: Er ist eher wie ein Fieber, eine Krankheit, eine Versammlung wilder Tiere; und wenn man ihm erst einmal nachgegeben hat, lässt er einen nicht mehr los, da es so viel schlechtes Verhalten gibt, über das man in Zorn geraten könne, sofern man es mit dem Zorn hält. Zorn ist laut Seneca auch ein Zeichen der Unbeherrschtheit, Krankheit und hohler Aufblähung. Denn der wirklich standhafte, vornehme und vortreffliche Mensch sei imstande, Verletzungen auszuhalten und über sie hinauszuwachsen.

Aus den Furien werden freundliche Wesen

In „Die Eumeniden“ schildert Aischylos die Verwandlung des archaischen Zorns der Vergeltung in juristische und politische Gerechtigkeit. Aus den Furien, deren einziger Daseinszweck es war, Übeltäter aufzuspüren, um ihnen Schmerz und Leid zuzufügen, werden freundliche und zukunftsbezogene Wesen, die Segen über das Land bringen und nach dem Wohl seiner Bewohner trachten. Sie werden außerdem vernünftig und schenken der rationalen Stimme der Überzeugung Gehör.

Als Hüter des Rechts suchen sie Rechtsbrüche zwar weiterhin dadurch zu verhindern, dass sie den Menschen Angst einflössen, doch sie legen ihren Zorn ab. Sie konzentrieren sich auf das Verhindern von Unrecht und nicht auf Vergeltung. Zu ihren Strategien gehört ein umfassender Plan für sozialen Wohlstand und Wohlergehen, für Verbesserungen gegen Hunger und Krankheit sowie die Einbeziehung aller Bürger. Sie umfasst jedoch auch die Schaffung eines Strafrechtsystems. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum

Von Hans Klumbies