Manchmal entsprechen die eigenen Vorstellungen nicht der Realität

Es kommt vor, dass Dinge den Vorstellungen nicht entsprechen, die Menschen sich von ihnen machen. Eine davon abweichende Realität zu akzeptieren, kann schwerfallen, auch wenn sie nicht zu leugnen ist. Wilhelm Schmid nennt ein Beispiel: „Im Privaten kann beispielsweise ein Ärger, der gemäß der Vorstellung von einer harmonischen Beziehung nicht vorkommen sollte, aus diesem Grund auch nicht bewältigt werden.“ Den verengten Blick etwas zu erweitern, sodass mehr Realität darin Platz hat, könnte Beziehungen alltagstauglicher machen. Schließlich ist eine Verengung möglich, weil Dinge den eigenen Interessen nicht entsprechen. Zwar liegt es nahe, den täglichen Strom von Informationen zügig nach dem Prinzip zu kanalisieren: „Das geht mich etwas an, jenes nicht.“ Beziehungen jeder Art sind jedoch darauf angewiesen, Informationen über die Interessen anderer an sich herankommen zu lassen. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.

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Sinnlichkeit ist der Anfang von Heimat

Die morgendliche Waschung ist mehr als eine lästige Verrichtung, bei der Wasser am Körper herabrinnt. Wilhelm Schmid erläutert: „Heimat ist dort, wo die Fülle des Sinns ist. Die Sinnlichkeit ist dafür der Anfang. Wer sich zerschlagen und niedergeschlagen fühlte, kehrt erhobenen Hauptes in die Welt zurück.“ Wer am Boden zerstört war, den durchpulst neue Lebenslust. Die eben noch schmerzenden Glieder erleben eine wundersame Verjüngung, jede Zelle wirkt wie neugeboren. Die Haut, die wie ein frisch gesprengter Rasen dufte, ruft erotische Anwandlungen wach. Nicht von ungefähr vermutete man in der Antike überall dort, wo Wasser sprudelte, Nymphen, denen Satyrn nachstellten. Die Dusche könnte der Brunnen sein, der die Fabelwesen birgt, das Badezimmer ein Tempel wohlgesinnter Götter. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.

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Schon immer suchte der Mensch einen Schutzraum

Der Rückzug von draußen nach drinnen, von der Welt in die Höhle, ist so alt wie die Menschheit. Das Verlassen der vertrauten Baumkronen erzwang die Suche nach einem Schutzraum im Gelände, um nicht wilden Tieren oder feindlich gesinnten Artgenossen ausgeliefert zu sein. Wilhelm Schmid stellt fest: „Vertrauensselig unter Sternen zu schlummern, ist eine moderne Idee, die archaischen Menschen das Leben gekostet hätte. Romantik konnten sie sich nicht leisten.“ Sich auszuruhen war von Anfang an eine gefährliche Angelegenheit. Daher der Rückzug in jede Art von natürlichem Gewölbe, das Schutz bieten konnte. Als Menschen begannen, aus Erde, Gräsern, Stroh, Lehm, Holz und Steinen künstliche Höhlen zu bauen, bildete sich die Form des Hauses heraus. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.

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Heimat kann Geborgenheit vermitteln

Wilhelm Schmid stellt fest: „Liebende, die in einer Waldwiese versinken, folgen der Logik der Gefühle, die sie in sich verspüren. Vielleicht folgen sie jedoch auch der Logik der Landschaft, die sie zu Gefühlen ermuntert.“ Entgegen dem äußeren Anschein ist eine Umgebung nicht einfach nur da. Denn sie ruft auch Gedanken und Gefühle wach, regt etwa ein Verweilen an oder hält davon ab. Sie kann befremden oder die Geborgenheit einer Heimat vermitteln, sei es für die Liebe oder andere Tätigkeiten und Seinsweisen, momentan oder anhaltend. Manche Menschen halten Landschaft für völlig überwertet, nichts als Kulisse, aber es gibt kein Entrinnen. Leben ist immer Leben in einer Landschaft. Heimat ebenso. Die jeweilige Umgebung zu ignorieren dient allenfalls dazu, eine eventuelle Belastung durch sie abzumildern. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.

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Jeder Ort macht die Liebe zur Heimat

Alle Liebenden kennen Landschaften, die unauflöslich mit ihrer Geschichte verquickt sind. Wilhelm Schmid behauptet: „Jeder Ort macht die Liebe zur Heimat.“ In der Momentheimat, die durch das intensive Erleben entsteht, vergessen die Liebenden die Zeit und interessieren sich nicht mehr dafür, wo sie sind. Just die Erfahrung der Zeitlosigkeit markiert jedoch einen Einschnitt in der Zeit, den sie nicht mehr vergessen werden. Es ist wie ein Gongschlag, der noch lange nachklingt. Die Erfahrung stellt eine Beziehung zum Ort her und hebt seine Fremdheit auf, sodass Vertrautheit entsteht. Fast so schön wie die Erfahrung ist die spätere Reflexion. Sie dient dazu, das Erlebte länger auszukosten, ihm nachzusinnen und gewonnene Ereignisse auch künftig für die Kunst des Liebens zu nutzen. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.

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Wilhelm Schmid erweitert den Heimatbegriff

In seinem neuen Buch „Heimat finden“ vertritt Wilhelm Schmid die These, dass Heimat eine große Zukunft hat. Allerdings nicht als ein Modell der Vergangenheit. Seiner Meinung nach ist eine Erweiterung des Heimatbegriffs nötig, den Heimat ist für ihn mehr als nur ein Ort: „Sie kann als Basislager des Lebens gelten, von dem aus Erkundigungen ins Ungewisse möglich sind.“ Dabei gibt es zahlreiche Möglichkeiten Heimat zu finden. So ist es auch die Vielfalt der Heimat, die im Zentrum dieses Buches steht. Das Wesentliche, das allen Heimaten eigen ist, dürfte die Bedeutung sein, die ein Mensch allem und jedem geben kann. Was nichts bedeutet, kann folglich keine Heimat sein. Daher ist Heimat nur das, was nicht egal ist. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.

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Die Globalisierung verdichtet Räume

In dem Maße, in dem sich die Welt durch Digitalisierung vergrößert, kehrt Heimat in den philosophischen und politischen Diskurs über die Frage nach Zugehörigkeit in Zeiten permanenter Migration. Christian Schüle stellt fest: „Globalisierung hat Räume vergrößert und zugleich verdichtet; je globalisierter die Welt gerät, desto kleingeistiger wird sie gedacht.“ Auffällig ist, dass kleine, relativ bevölkerungsarme, oft von vielen Anrainern umgebene Länder zu einer Inwendigkeit mit Außenverschluss neigen: die Schweiz, Österreich, Ungarn, Polen, die Slowakei – Länder, die man im Laufe der Menschheitsgeschichte oftmals überrollte und zur Disposition stellte. Durchgangsländer, deren Identität immer dem vorgegebenen Narrativ des Eroberers entsprach. Die Reaktionen auf den drohenden Verlust der Heimat verstärken sich in starkem Maße. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Das Wort „Liebe“ kennt viele Bedeutungen

Für Robert Spaemann gibt es kein Wort – außer dem Wort „Freiheit“ vielleicht –, das ein solches Sammelsurium an Bedeutungen in sich vereinigt, und zwar von einander diamentral entgegengesetzten Bedeutungen, wie das Wort „Liebe“. Es bezeichnet Gefühle, die Eltern ihren Kindern, Kinder ihren Eltern, Freunde ihren Freunden entgegenbringen. Robert Spaemann ergänzt: „Aber auch und vor allem das berühmte und nie genug gerühmte Gefühl, das einen Mann und eine Frau miteinander verbindet und das in den heiligen Büchern der Juden und der Christen ebenso wie bei vielen Heiden als Metapher zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk oder zwischen Gott und den Frommen dient.“ Und dann gibt es noch den Begriff der „Vaterlandsliebe“. Robert Spaemann lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Ohne Geborgenheit gibt es keine Heimat

Oikos im griechisch-antiken Sinne begreift Heimat als metaphysisches und rechtliches Obdach. Die mikrosoziale Gemeinschaft als Keimzelle einer größeren Gemeinschaft. Die Enklave des Vertrauens. Die Verbundenheit und Verbindlichkeit der Familie. Der Begriff der Heimat löst sich von seinem herkömmlichen Sinn und erfährt eine Transformation in den Oikos. Mit ideologischer Verbrämung, sozialistischer oder antistaatlicher Ideologie hat das Oikos-Prinzip nichts zu tun. Denn es zielt auf Höheres: die Partizipation an der Polis. Christian Schüle erläutert: „Partizipation – wohlgemerkt das Gegenteil von Ausgeschlossenheit und Ausgrenzung – beschreibt das Verhältnis von Teilhabe und Teilnahme an Welt und Umwelt.“ Die kulturelle Evolution, so scheint es, steht vor ihrem nächsten Sprung: Statt Nationen könnte es künftig konföderierte, auf Parzellen basierende Bündnisse geben. Zudem Netzwerke von Kooperativen, in denen das Heterogene zu völlig neuen Organisationsformen führt. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Europa bestimmt seine eigene Identität

Das Zeitalter der Aufklärung ist nicht nur selbst ein sich über den gesamten europäischen Kontinent erstreckendes Phänomen, es entwickelt auch als erste Epoche ein eigenständiges Bild von Europa als zivilisatorisches Gebilde. Wenn aufklärerisches Selbstverständnis und europäisches Bewusstsein der „philosophes“ (Aufklärer) in der Folge eine enge Verbindung eingehen, dann vor allem deshalb, weil die Aufklärer sich selber als eine genuin europäische Bewegung definieren, ebenso wie umgekehrt Europa von ihnen gerade als der geschichtliche Raum verstanden wird, der seit dem 16. Jahrhundert von dem Prozess der Aufklärung erfasst worden ist. Der Diskurs über Europa im Zeitalter der Aufklärung kann als Ausdruck eines spezifisch europäischen Bedürfnisses begriffen werden, die eigene Identität in Abgrenzung zur außereuropäischen Welt zu bestimmen. Im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts ist das Bild von Europa in erster Linie politischer Natur.

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Das Selbstgefühl jedes Menschen wird von seiner Herkunft geprägt

Kwame Anthony Appiah zeigt in seinem neuen Buch „Identitäten“, dass hinter den Kategorien von Zugehörigkeit und Abgrenzung häufig paradoxe Zuschreibungen stehen. Das Selbstgefühl jedes Menschen wird von seiner Herkunft geprägt, angefangen bei der Familie, aber darüber hinaus auch von vielen anderen Dingen – von der Nationalität, die eine Person an einen Ort bindet; vom Geschlecht, dass einen jeweils mit der Hälfte der Menschheit verbindet; und von Kategorien wie Klasse, Sexualität, race und Religion, die über die lokalen persönlichen Bindungen hinausreichen. Kwame Anthony Appiah erörtert in seinem Buch einige der Ideen, die den modernen Aufstieg der Identität geprägt haben, und betrachtet einige Irrtümer genauer, die Menschen regelmäßig im Hinblick auf Identität begehen. Professor Kwame Anthony Appiah lehrt Philosophie und Jura an der New York University.

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Das Vorhandene ist Allgemeingut der Menschheit

In so gut wie allen Bereichen wurde in den vergangenen Jahren die „kleine Einheit“ wiederentdeckt. Die Vorbehalte gegen Zentralismus und Großorganisationen wachsen in dem Maße, wie die Notwendigkeit von Kooperation im Kleinen steigt. Christian Schüle stellt fest: „In Zukunft wird es auf die Fähigkeit zur Kooperation ankommen, auf die Kompetenz, mit unvermeidbarer Diversität umgehen zu lernen.“ Zuständigkeiten müssen lokal und regional organisiert werden, mit bestem Wissen und Gewissen für die mikrosoziale Heimat, die der Oikos in seinen jeweils unterschiedlichen Verbünden darstellt. Der Grundgedanke einer neuen Heimat als Verbund von Bündnissen der Distrikte und Kreisläufen der Kooperationen basiert auf der schlichten Überlegung, dass das Vorhandene die Allmende der Menschheit ist: Allgemeingut. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Gaius Julius Caesar erfindet die Germanen

Im März des Jahres 60 v. Chr. war die Bedrohung durch barbarische Asylsuchende das wichtigste Gesprächsthema in Rom, wie der Philosoph, Anwalt und Politiker Cicero schrieb. James Hawes erläutert: „Nachdem es weiter nördlich zu Kriegen und Unruhen gekommen war, überfluteten sie die bereits unterworfenen, romanisierten Gebiete Galliens – also im Wesentlichen das heutige Südfrankreich und Oberitalien.“ Es schien, als wäre im weiter nördlich gelegenen Gallien eine neue, Ärger verheißende Macht aufgetaucht. Gaius Julius Caesar, der als neuner Prokonsul der gallischen Provinzen mit einem Eroberungskrieg seinen Ruf steigern und seine Schulden tilgen wollte, gab ihr im Jahr 58 v. Chr. einen Namen: Germani. Bereits mit der ersten Erwähnung auf Seite eins seines Bestsellers „Der Gallische Krieg“ verbindet Caesar mit diesen Germani die Vorstellung, dass sie das Gebiet jenseits des Rheins bewohnen. Der englische Germanist James Hawes ist Universitätsdozent für kreatives Schreiben in Oxford und Schriftsteller.

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Es gibt durchaus nicht wenige Kosmopoliten

Thea Dorn behauptet, dass „Heimat“ nur ein anderes Wort für „kulturelle Identität“ ist. Im Anschluss an Norbert Elias spricht Thea Dorn von der „Wir-Schicht“, ohne die kein individuelles Projekt der Identität gelingen kann. Thea Dorn bringt noch eine zweite Begrifflichkeit ins Spiel, die der Soziologe geprägt hat, um die „Gesellschaft der Individuen“ und ihre Probleme zu analysieren. Und zwar spricht Norbert Elias vom „Wir-schwachen Ich“ als einem typischen Phänomen in offenen pluralen Gesellschaften im Gegensatz zum „Ich-schwachen Wir“, das alle traditionalistischen, kollektivistischen oder gar totalitären Gemeinwesen kennzeichnet. Thea Dorn hält diese Gegenüberstellung für äußerst wichtig. Außerdem vermutet sie, dass es nicht wenige gib, die sich durchaus als Kosmopoliten verstehen. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Christian Schüle untersucht die Sehnsucht nach Identität

In einer Epoche des Verlustes von Grenzen mag die Sehnsucht nach Identität vor allem ein Verlangen nach Leiblichkeit in einer Welt sein, die sich im Zuge der Globalisierung zugleich entleiblicht. Christian Schüle erläutert: „Heimat ist immer auch Raum-Philosophie – die Philosophie einer spürbaren, in ihren Grenzen erfahrbaren Identität. Die Klärung dessen, was unter zeitgemäßer Identität zu verstehen sein könnte, ist mittlerweile zu einem globalen Desiderat geworden.“ Was aber begründet nationale Identität? Sprache? Sitte? Tradition? Vermutlich von allem etwas. Die Meinungsforscher des amerikanischen Pew Research Centers bestätigen, dass 80 Prozent der 2016 von ihnen Befragten Europäer der Auffassung sind, nationale Identität erfordere die Kenntnis der Landessprache. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Heimat ermöglicht die Erfahrung von Transzendenz

Heimat ist gleichermaßen Raum wie Idee religiöser Rückbezüglichkeit. Ihre Möglichkeit zur Bewältigung diverser Ambivalenzen ermöglicht vielen Individuen, welcher Religion auch immer, eine Religiosität ohne Gottesbezug. Christian Schüle erläutert: „Die spätmoderne, dauererregte, beschleunigte in ihrer Multioptionalität bedrängende Lebenswelt ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad Paradoxien.“ Heimat als emotional erinnerbare Gegenwart hingegen ist ein fundamentales Versprechen auf Reduktion der Komplexitäten durch Kohärenz: auf den sinnstiftenden Einklang von Selbst und Umwelt, der Ambivalenzen ja gerade auflöst. In der Reduktion eignet Heimat sich als Schutzraum, der ermöglicht, was kaum noch vermittelbar ist: Transzendenz-Erfahrung. Heimat ist auch das, was sich auf Dauer durch sich selbst bewährt. Sie erhält Geltung durch die Bindung des Menschen an Orte, Böden, Rituale, die durch die Biografie beglaubigt sind. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Migrantion ist das beherrschende Phänomen der Gegenwart

Kein Mensch wird absichtlich heimatlos. Vermutlich keiner verlässt gerne den Ort, an dem die Vorfahren gelebt und gestorben sind. Christian Schüle erläutert: „Wer migriert, hat fast immer seine Heimat verloren oder war gezwungen, sie zu verlieren.“ Ihm wurde die Heimat genommen, durch Krieg, Gewalt, Dürre, Hunger, Verfolgung, Vergewaltigung, Verstoßung. Sein Zuhause ist von da an die Unbehaustheit, sein Habitat die Heimatlosigkeit. Das Selbstverständnis eines Fliehenden besteht in seiner Vertriebenheit. Migration ist das beherrschende Phänomen der Gegenwart, und der Flüchtling das traurige Extrem erzwungener Wanderungsbewegungen. Heimat richtet heute an jeden Einzelnen die Frage, wie er mit Fremdheit umgehen kann und will und was er, bezogen auf das Fremde, unter dem Eigenen versteht. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Der Mensch erlebt Vertrautheit durch Bindung

Als „animale sociale“, als soziales Tier, ist dem Menschen von Geburt an das Bedürfnis nach Beziehung eingeschrieben. Christian Schüle erklärt: „Die sogenannte „attachment“-Theorie der Entwicklungspsychologie macht in der Bindung des Kindes an die Mutter die basale Identitätserfahrung eines Menschen aus – Sicherheit und Kontinuität des Ur-Vertrauens in den guten Gang der Dinge.“ Gemäß der Bindungstheorie des Psychoanalytikers und Arztes John Bowlby wird in der frühkindlichen Sozialisation mit dem Selbstbild ein spezifischer Bindungsstil generiert, der auch das spezifische Glaubensmuster prägt. Kinder übernehmen die Bewertungsmuster der Eltern. Jeder Mensch strebt nach einem positiven Selbstbild. Kein System funktioniert ohne Vertrauen. Das System ist eine Art objektive Wahrheit, und keine Wahrheit funktioniert ohne Glauben an ihre Tatsächlichkeit. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Naturverbundenheit der Bayern ist legendär

Der Stolz auf die Heimat, Freistaats-Patriotismus und die Verhaftung an Traditionen führen vornehmlich im Bundesland Bayern zu einem, man darf schon sagen, überaus „angemessenen Selbstbewusstsein“. Christian Schüle schreibt: „Der Bezug zur vermeintlichen Ewigkeit des eigenen Existierens lässt sich bis heute am ostentativen Sprachgebrauch des latinisierten Begriffs „Bavaria“ ablesen, als wäre man auf Augenhöhe mit dem längst untergegangenen Römischen Reich, das bekanntlich nur wenige ausgesuchte Volksgruppen überdauert haben.“ Das so geschichtsträchtige wie stolze Bayern ist jene deutsche Region mit dem stärksten Bewusstsein seiner eigenen Sichtbarmachung. In Bavaria übersetzt man den Begriff der Heimat bündig mit „Dahoam“ und meint nicht das Heim, sondern vor allem das „Da!“, nämlich: dort in Bayern. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Oscar Wilde besaß einen ungewöhnlichen Widerspruchsgeist

Der irische Schriftsteller Oscar Wilde studierte am Trinity College in Dublin und machte dann Furore in London. Er beschäftigte sich als extravaganter Ästhet intensiv mit Kunst. Er begeisterte sich dabei für die Kunst um ihrer selbst willen und betrachte sie zudem als eine verstecke Form des politischen Radikalismus. Terry Eagleton weiß: „Oscar Wilde war Salonlöwe und Homosexueller, Angehöriger der Oberklasse und Underdog, angesehener Bürger und Freier von Strichjungen, schamloser Bon Viveur und, nach eigenen Bekunden, Sozialist. Genauso vertraut, wie er mit den Lady Bracknells umging, verkehrte er auch in aufständischen Kreisen und zählte Revolutionäre wie William Morris und Peter Kropotkin zu seinen Freunden. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Eine Kultur lässt sich nie vollständig beschreiben

Die Aufgabe der Intellektuellen besteht darin, dem kollektiven Denken der Menschen einen besonders klaren Ausdruck zu verleihen – und das nicht nur zu ihrem privaten Vergnügen. Beispielsweise sah W. B. Yeats die Aufgabe seiner Dichtkunst darin, den Mythen und Archetypen der irischen Landarbeiter eine Stimme zu geben. Genauso wie in „Das wüste Land“ nicht T. S. Eliot spricht, sondern das, was er selbst ziemlich vollmundig den europäischen Geist nannte, so sieht sich W. B. Yeats einfach als Medium – fast im spiritistischen Sinne – für die zeitlose Weisheit des Volkes. Terry Eagleton nennt ein weiteres Beispiel: „Nach Martin Heideggers etwas düsterer Sichtweise besteht die Aufgabe des Dichters darin, dem Schicksal der Nation seine Sprache zu schenken. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Multikulti versus Monokulti spaltet Deutschland

Als der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi 1998 den Begriff „Leitkultur“ ins öffentliche Gespräch brachte, ging das intellektuelle Ringen um das Selbstverständnis einer erwachsen gewordenen Nation nach dem Historikerstreit Mitte der 80er- Jahre in eine neue Runde. Christian Schüle erläutert: „Bassam Tibi hatte versucht, mit Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechten und Zivilgesellschaft eine kollektive Identität europäischer Nationen zu begründen.“ Zwei Jahre später nationalisierte Friedrich Merz, der damalige Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, den so eingeführten Begriff mit dem Satz, Migranten hätten sich einer „gewachsenen, freiheitlichen deutschen Leitkultur“ anzupassen – was gewiss als Gegenentwurf einer multikulturellen Gesellschaft zu verstehen war. Eine heftige Debatte folgte, Publizisten, Herausgeber, Juristen und Politiker ergriffen das Wort, und die Grünen konterten Merz` Forderungen mit dem Vorwurf, von nun an sei ein „Feuerwerk des Rassismus“ aus der Union zu befürchten. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Heimatstolz und Patriotimus dürfen nicht verwechselt werden

Heimatstolz und Patriotismus ist eine reizvolle, gefährliche und durch die Geschichte leidvoll beglaubigte desaströse Kombination zweier Ideen. Christan Schüle weiß: „Der Stolz auf eine Heimat ist eine leerlaufende Nichtigkeit, weil Heimat nichts außer dem Selbstzweck leistet, da zu sein, und das ewiglich.“ Genauso gut könnte man stolz auf den Himmel oder eine Felsformation sein. Patriotismus dagegen muss keineswegs Heimatstolz heißen. Der Patriot ist ja ein Mensch, der gegenüber seinem Vaterland Loyalität empfindet, manchmal Treue, manchmal den wohligen Schauer der Vertrautheit, jedenfalls verbindliche Zugehörigkeit, gemäß dem unverdächtigen Cicero: „Patria est, ubicumque est bene.“ Übersetzt: „Wo es gut geht, da ist Vaterland.“ Zeitgemäß variiert: „Wo es mir gut geht, da ist meine Heimat.“ Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Deutschsein hat etwas mit Herkunft und Tradition zu tun

Deutschsein ist mehr als nur formelle Staatsbürgerschaft. Sogar Anhänger der Grünen sind offensichtlich mehrheitlich der Meinung, es gebe so etwas wie einen Nationalcharakter. Christian Schüle fügt hinzu: „Der Begriff Nationalcharakter hat als vermeintlich veraltetes Konzept keinesfalls ausgedient und wird mitnichten von der nachwachsenden Generation als überwunden erachtet.“ Drei Viertel der Deutschen finden, dass deutsche Kultur „Leitkultur“ für die in Deutschland lebenden Ausländer sein sollte; und gut die Hälfte der Deutschen meint, dass Deutschsein mit Herkunft und Tradition zu tun habe. Das heißt: Politik muss sich an der Wirklichkeit orientieren, und dazu gehört, dass mindestens eine relative Mehrheit der Bevölkerung ihre eigene Nationalität auch über eine in Jahrhunderten gewachsene Kulturtradition und eine gemeinsame Herkunft definiert. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Gleichberechtigung der Geschlechter hat Verfassungsrang

Jede Form einer Diskriminierung der Frau ist in Deutschland verboten, insofern haben sich alle Kulturfremden im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis diesem deutschen Normverständnis unterzuordnen. Christian Schüle erläutert: „Die Gleichberechtigung der Geschlechter hat Verfassungsrang, und die auf der Verfassung aufbauende Rechtsordnung schützt Mann wie Frau gleichermaßen vor Einschränkungen ihrer Freiheit und Herabsetzung ihrer Würde.“ In Deutschland wie in Europa existiert das Grundrecht expliziter Gleichberechtigung der Geschlechter als Rechtsanspruch auf bedingungslose Würde, in islamischen Ländern hingegen wird meist gleiche menschliche Würde von gleichen Rechten getrennt betrachtet. Wer das thematisiert und artikuliert, ist weder Nationalist noch Fremdenfeind. Jenseits von Polit-Korrektheit und Apokalypse-Geraune darf bei nüchterner Betrachtung ja durchaus die Frage erlaubt sein, wie man einen allgemeine moralische Hilfspflicht gegenüber Menschen die an Leib und Leben bedroht sind, mit einem Regelwerk für kontrollierte Zuwanderung jener, die nicht asylberechtigt und arbeitswillig sind, in Einklang bringt. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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