Walter Benjamin blickt auf seine Kindheit zurück

In Walter Benjamins Erinnerungen an seine Kindheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts stößt man auf eine befremdliche, kontraintuitive kritische Bewegung. Diese vollführt er in seinen Texten immer. Stuart Jeffries erläutert: „Er reißt die Ereignisse aus dem von ihm sogenannten historischen Kontinuum heraus, um in einem gnadenlosen Rückblick die Illusionen aufzudecken, die zuvor noch für Wahrheiten gehalten wurden. Er jagt retrospektiv Dinge in die Luft, die in ihrer Zeit ganz natürlich, unproblematisch, gesund gewirkt hatten.“ Man hätte auf den ersten Blick annehmen können, er geben sich dem nostalgischen Abglanz einer idyllischen Kindheit hin. Ermöglicht wäre dies durch das Geld des Vaters und der Arbeit von Dienstboten. Doch in Wahrheit steckte er gewissermaßen Dynamitstangen in die Grundfesten seiner Kindheit und überhaupt des Berlins seiner frühen Jahre. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.

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Die Kritische Theorie ist aktueller denn je

Die „Kritische Theorie“ ist das Thema der neuen Sonderausgabe 19 des Philosophie Magazins. Die Chefredakteurin Catherine Newmark schreibt in ihrem Editorial: „Das innige Zusammenwirken von Theorie und Praxis, von Verstehen und Handeln, ist sicherlich eines der Hauptmerkmale der sogenannten „Kritischen Theorie“, auch bekannt als „Frankfurter Schule“, angefangen bei ihren Gründungsvätern Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – und bis heute.“ Was die Überlegungen derjenigen antreibt, die sich dieser philosophischen Denkrichtung verpflichtet fühlen, ist der Stachel der Unzufriedenheit. Den Auftakt der Sonderausgabe macht ein großes Interview mit Jürgen Habermas, der zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart zählt. An der aktuellen Politik kritisiert er, dass sie auf Orientierung, Gestaltungswillen und Perspektive verzichtet. Sie passt sich opportunistisch der wachsenden Komplexität der beunruhigenden Verhältnisse an – ohne noch erkennbar irgendetwas zu wollen.

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Der Faschismus fördert das Fortbestehen des Kapitalismus

Für den deutschamerikanischen Philosophen, Politologen und Soziologen Herbert Marcuse war der Faschismus in Deutschland kein Bruch mit der Vergangenheit. Er war seiner Meinung nach die Fortsetzung von Tendenzen innerhalb des Liberalismus, die das kapitalistische Wirtschaftssystem unterstützten. Für Stuart Jeffries sah so die orthodoxe Lehre der Frankfurter Schule aus: „Der Faschismus bedeute keine Abschaffung des Kapitalismus, sondern war vielmehr ein Mittel, sein Fortbestehen zu sichern.“ Der deutsche Sozialphilosoph Max Horkheimer schrieb einmal: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Vielleicht musste man Deutscher sein, um dieses Postulat widerspruchslos zu akzeptieren. Max Horkheimer musste vor den Nazis zuerst nach Genf fliehen. Zusammen mit Leo Löwenthal, Erich Fromm und Herbert Marcuse zog er nach Genf um, um zusammen mit ihnen ihre Arbeit fortzusetzen. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.

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Die deutsche Arbeiterklasse leistete keinen Widerstand gegen den Faschismus

Am 13. März 1933 wurde über dem Frankfurter Rathaus die Hakenkreuzfahne gehisst. Am selben Tag schloss die Polizei das Institut für Sozialforschung. Lediglich zwei Jahre nach der Antrittsvorlesung Max Horkheimers, in welcher er die multidisziplinäre Ausrichtung der Arbeit am Institut dargelegt hatte, aus der sich die Kritische Theorie entwickeln sollte, wurden er und seine Institutskollegen ins Exil gezwungen. Stuart Jeffries stellt fest: „Erich Fromms Ergebnis seiner Forschungen über die deutsche Arbeiterklasse hatte sich bestätigt: Was den Widerstand gegen Adolf Hitler betraf, war mit den deutschen Arbeitern nicht zu rechnen.“ Warum hatte der Faschismus in Deutschland triumphiert? An Theorien dazu gab es keinen Mangel, und tatsächlich sollte die Frage zu einer tiefen Spaltung der Frankfurter Schule führen. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.

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Die Frankfurter Schule hat Deutschland offener gemacht

Sie waren großbürgerlich, gebildet und elitär – allen voran Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Stuart Jeffries entwirft in seinem neuen Buch „Grand Hotel Abgrund“ eine vielschichtige Biografie der Frankfurter Schule, die sich mitten im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Extreme ereignet. Er schildert, wie Mitte der 20er bis Ende der 60er jahre ihre gesellschaftlichen Utopien entstehen. Entschieden wehrten sich Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und die Mitglieder der Frankfurter Schule gegen die Seilschaften alter Nazis und äußerten sich über Jahrzehnte hinweg unmissverständlich gegen Populismus, rechte Ideologie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Kapitalismus und die Beherrschung von Natur und Mensch. Kritisch beobachtet Stuart Jeffries, wie die sogenannten 68er Bewegung aus der Frankfurter Schule hervorgeht und sich etliche 68er zur Gewalt bekennen. Der Autor beschreibt, wie auch diese Rebellion scheitert und vermerkt bitter, dass nach dem Tod Theodor W. Adornos die „Schule“ plötzlich geschlossen wurde. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.

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Ein Gemeinwesen braucht eine politische Herrschaft

Der Kernbestandteil eines jeden Gemeinwesens besteht in einem Recht, das sich wesentlich mit Zwangsbefugnis verbindet. Seinetwegen hat jedes Gemeinwesen einen Herrschaftscharakter, weshalb nicht die „geordnete Anarchie als philosophisches Leitbild des freiheitlichen Rechtsstaates“ behauptet werden kann. Otfried Höffe erklärt: „Weil angeblich jede Regierung Rechte von Individuen verletzt, taucht selbst gegen eine von den Betroffenen ausgeübte Herrschaft Skepsis auf.“ Es ist überraschend, dass ursprünglich, im Griechischen, die Herrschaftslosigkeit durchweg negativ bewertet wird. Auch in der politischen Neuzeit, etwa von Niccolò Machiavelli über Montesquieu bis Voltaire, herrscht die negative Einschätzung vor. Erst in Karl Marx` und Friedrich Engels` These vom Absterben des Staats, bei dem davon beeinflussten Herbert Marcuse, auch in der subversiven Institutionenkritik eines Michel Foucault und nicht zuletzt in antiautoritären Bewegungen lebt der Gedanke der Herrschaftsfreiheit auf. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Die monogame bürgerliche „Liebesehe“ ist eine heuchlerische Illusion

Die Vorstellung, die romantische Liebe bilde einen Eckpfeiler der Kultur des Kapitalismus, ist nicht neu. In seiner Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ (1884), einer vehementen Kritik der Familie von der griechischen Antike bis zum bürgerlichen Zeitalter, verdammte Friedrich Engels die Familie, weil sie die Frauen den Männern unterwerfe und das Privateigentum schütze – durch das Erbrecht. Eva Illouz schreibt: „Für Engels ist die monogame bürgerliche „Liebesehe“ eine heuchlerische Illusion, die eher klassenmäßig als gefühlsmäßig bedingt ist, und sie bleibt letztlich eher eine Sache der Konvention als der Liebe.“ Nur in der Arbeiterklasse, die materiell nichts zu gewinnen oder verlieren hat, könne sich „wahre“ romantische Liebe entwickeln. Die Soziologin Eva Illouz ist seit dem Jahr 2006 Professorin für Soziologie an der Hebrew University in Jerusalem.

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Herbert Marcuse wagt eine Neubestimmung der Kultur

Zur Neubestimmung der Kultur nimmt Herbert Marcuse eine Definition von Webster zum Ausgangspunkt, wonach Kultur als der Komplex spezifischer Anschauungen des Glaubens, Errungenschaften, Traditionen und so weiter zu verstehen ist, die den Hintergrund einer Gesellschaft bilden. In den Mittelpunkt seiner Analyse stellt Herbert Marcuse das Verhältnis von Hintergrund und Grund einer Gesellschaft. Er schreibt: „Kultur erscheint so als der Komplex moralischer, intellektueller und ästhetischer Ziel, die eine Gesellschaft als den Zweck der Organisation, Teilung und Leitung ihrer Arbeit betrachtet – das Gut, das durch die von ihr eingerichtete Lebensweise erlangt werden soll.“ Herbert Marcuse betrachtet nur dann eine Kultur als existent, wenn die repräsentativen Ziele und Werte erkennbar in die gesellschaftliche Wirklichkeit übersetzt wurden. Das heißt, die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft müssen eine nachweisbare Affinität zu den verkündeten Werten aufweisen.

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Rotraud A. Perner lotet die Grenzen des Schmerzes aus

Wenn Aggressionen, aus welchen Gründen auch immer, nicht kommuniziert werden kann oder darf, dann bleiben die Komponenten des Aggressionsapparats, insbesondere die Angstzentren, neurobiologisch geladen, mahnt Joachim Bauer, Psychiater, Psychotherapeut und Internist, der an der Universität Freiburg Neurobiologie lehrt. Die Genese, des von ihm als „Gesetz der Schmerzgrenze“ bezeichneten Verhaltensprogramms der Aggression wurzle daher in der Notwendigkeit, Schmerz abzuwehren, körperliche Unversehrtheit zu erhalten und lebenswichtige Ressourcen zu erhalten. Joachim Bauer erklärt: „Wenn die Schmerzgrenze eines Lebewesens tangiert wird, kommt es zur Aktivierung des Aggressionsapparats und zu aggressiven Verhalten. Bei sozial lebenden Lebewesen wie dem Menschen zählen Zugehörigkeit und Akzeptanz zu den lebenswichtigen Ressourcen. Demütigung und Ausgrenzung werden vom menschlichen Gehirn wie körperlicher Schmerz erlebt, sie tangieren die Schmerzgrenze.“ Eigentlich müsste dann der solcherart zu aggressivem Verhalten angestachelte Mensch seine Peiniger attackieren, um seinen seelische und damit neuronale Harmonie wiederherzustellen.

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Herbert Marcuse erörtert das Verhältnis von Ethik und Revolution

Herbert Marcuse lässt sich von der Frage leiten, ob man eine Revolution als angebracht, vielleicht sogar als notwendig rechtfertigen kann, und zwar nicht nur im politischen Sinne, sondern auch im ethischen. Unter Rechtmäßigkeit versteht Herbert Marcuse etwas, was dazu dient, Freiheit und Glück der Menschen in einem Gemeinwesen, von welcher Form der Regierung auch immer, herzustellen, zu befördern oder zu erweitern. Herbert Marcuse sieht den Zweck einer Regierung darin, nicht nur die größtmögliche Freiheit der Menschen zu garantieren, sondern auch das maximale Glück, das heißt ein Leben ohne Angst und Elend, ein Dasein in Frieden. Denn dass menschliches Glück individuell und Sache selbst sei und bleiben müsse, lässt sich nicht verteidigen, wenn man auch nur einen Augenblick darüber nachdenkt.

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Herbert Marcuse begibt sich auf die Spur des Existentialismus

Das Gefühl der Absurdität, das in der Welt vorherrscht, drückt das Klima aus, in dem der Existentialismus entsteht. Den weltberühmten Schriftsteller Albert Camus zählt Herbert Marcuse zwar nicht zur Schule des Existentialismus, dafür zeichnet er aber die Grunderfahrung, die sein Denken durchzieht, als Wurzel des Existentialismus. Es ist die Zeit des totalitären Terrors, in der der Existentialismus geboren wird. Das Naziregime ist in Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht, Frankreich von deutschen Truppen besetzt. Die Werte und Normen der Kultur des Abendlandes sind vom System des Faschismus gleichgeschaltet und ersetzt worden. Herbert Marcuse schreibt: „Das Denken ist wieder einmal auf sich selbst zurückgeworfen worden durch eine Wirklichkeit, die allen Versprechungen und Ideen widerspricht, die den Rationalismus so gut wie die Religion, Idealismus so gut wie Materialismus widerlegt.“

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Die Liebe verlangt Ausschließlichkeit

Die Idee der Liebe fordert die individuelle Überwindung der menschlichen Isoliertheit. Sie will laut Herbert Marcuse die erfüllende Hingabe der Individualität in der unbedingten Solidarität von Person zu Person. Diese Hingabe erscheint einer Gesellschaft, in der das gegeneinander der Interessen und die Individualität des Einzelnen die obersten Prinzipien darstellen, rein nur im Tode. Herbert Marcuse erklärt: „Denn nur der Tod beseitigt alle jene äußerlichen, eine dauernde Solidarität zerstörenden Bedingtheiten, im Kampf mit denen die Individuen sich aufreiben. Er erscheint nicht als das Aufhören des Daseins im Nichts, vielmehr als die einzige mögliche Vollendung der Liebe und so gerade als ihr tiefster Sinn.“ Während die Liebe in der Kunst zur Tragödie erhöht wird, droht sie im Alltag der Bürger zur bloßen Pflicht und Gewohnheit zu verkommen.

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Die Vernunft setzt sich gegen das Glück der Menschen durch

Die idealistische Philosophie der bürgerlichen Epoche hatte das Allgemeine, das sich in den isolierten Menschen durchsetzen sollte, unter dem Titel der Vernunft zu verstehen versucht. Der Mensch erscheint als ein gegen die anderen in seinen Trieben, Gedanken und Interessen vereinzeltes Ich. Die Überwindung dieser Vereinzelung, der Aufbau einer gemeinsamen Welt geschieht laut Herbert Marcuse durch die Reduktion der konkreten Individualität auf das Subjekt des bloßen Denkens, das vernünftige Ich. Herbert Marcuse erklärt: „Die Gesetze der Vernunft bringen unter Menschen, deren jeder zunächst nur seinem besonderen Interesse folgt, schließlich eine Gemeinsamkeit zustande.“ Dabei können einige Formen der Anschauung und des Denkens als allgemeingültig sichergestellt werden. Aus der Vernünftigkeit eines Individuums lassen sich gewisse allgemeine Maximen des Handelns gewinnen.

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Die philosophische Erkenntnis soll das höchste Glück gewähren

Die Lehre, dass alle menschliche Erkenntnis ihrem Sinn nach auf die Praxis bezogen sei, gehörte zum Kernbereich der antiken griechischen Philosophie. Aristoteles vertrat die These, dass die erkannten Wahrheiten die Praxis leiten sollten, sowohl in den Erfahrungen des Alltags als auch in den Wissenschaften und Künsten. Die Menschen brauchen in ihrem Daseinskampf die Anstrengung der Erkenntnis, das Suchen nach der Wahrheit, weil ihnen nicht unmittelbar zugänglich ist, was das für sie Gute, Zuträgliche und Richtige ist. Aristoteles vertritt die Auffassung, dass alle Berufsgruppen in ihrem Sachgebiet über das rechte Wissen verfügen müssen, um so handeln zu können, wie es die jeweils wechselnde Situation erfordert. Aristoteles betont so den praktischen Charakter jeder Erkenntnis, macht aber laut Herbert Marcuse einen bedeutenden Unterschied zwischen den verschiedenen Erkenntnissen.

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