Die Vorstellung, dass Vergeltung ein sinnvolles Unternehmen ist und eine Verletzung auszugleichen man, ist allgegenwärtig und wahrscheinlich evolutionär ererbt. Vergeltung hat häufig auch eine psychische Funktion. Martha Nussbaum erklärt: „Wenn Menschen kulturell bedingt der Vorstellung anhängen, dass Vergeltung gut ist, werden sie Befriedigung empfinden, sobald sie ihre Rache bekommen. Diese Befriedigung wird häufig als „Abschluss“ bezeichnet.“ Martha Nussbaum vertritt in dieser Frage allerdings etwas sehr Radikales. Ihrer Meinung nach ist der vom Zorn umfasste Gedanke an Vergeltung oder Heimzahlung bei einer vernünftigen und nicht übermäßig ängstlichen und statusfokussierten Person nur ein kurzer Traum, eine Wolke, die bald durch vernünftigere Vorstellungen vom Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft vertrieben wird. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.
Zorn ist problematisch und ergibt nicht wirklich Sinn
Demnach erledigt sich der Zorn schnell von selbst, da bald auch noch alle übrige Konzentration auf das Bestrafen des Angreifers in einer Reihe von Projekten aufgeht, die zur Besserung nicht nur der Angreifer, sondern auch der Gesellschaft zielen. Die Emotion, die sich mit diesem Ziel verbindet, lässt sich nicht so leicht als Zorn begreifen. Sei erscheint mehr wie eine von Mitgefühl begleitete Hoffnung. Auf einen Satz gebracht, lautet Martha Nussbaums radikale Behauptung also: „Wenn Zorn Sinn ergibt, ist er normativem Aspekt problematisch (weil eng am Status ausgerichtet); wenn er unter normativem Aspekt akzeptabel ist (weil auf die Verletzung gerichtet), ergibt er nicht wirklich Sinn und stellt auf diese Weise ein normatives Problem dar.“
Eine rational überlegende Person, die sich das klar macht, lacht bald über sich und ihren Zorn und lässt ihn verrauchen. Fortan bezeichnet Martha Nussbaum diese gesunde Hinwendung zu einem auf das künftige Wohl gerichtete Denken und das entsprechende Ablassen vom Zorn zugunsten einer von Mitgefühl begleiteten Hoffnung als den „Übergang“. So viel ist allerdings richtig und wichtig: Dem Wohl der Menschen ist damit gedient, wenn Unrechtstaten registriert und Standards der Verantwortlichkeit für sie geschaffen werden.
Der Zorn führt einen Menschen leicht auf Abwege
Wahrheit und Verantwortlichkeit befördern das Menschenwohl, indem sie allen bekannt machen, was die Gesellschaft für wichtig erachtet und welche Dinge unbedingt schützenswert sind. Im Falle von Vergehen plädiert Martha Nussbaum für Protest und öffentliche Verurteilung – und daran anschließend für all jene Strategien, die mit belegbarer Wahrscheinlichkeit vor weiteren solcher Unrechtstaten abschrecken. Die Opfer haben das Recht, Anerkennung und Verantwortlichkeit einzufordern, und die Gesellschaft tut recht daran, ihnen diese zu bieten.
Es gibt viele Möglichkeiten, mit dem Zorn auf Abwege zu geraten. Die betreffende Person könnte sich etwa über das Zielobjekt täuschen. Die zornige Person könnte sich auch bezüglich des Geschehens täuschen, auf das sich ihr Zorn konzentriert. Die Person könnte auch mit ihrer Einschätzung der in dem Geschehnis zum Tragen kommenden Haltungen oder Wertsetzungen falsch liegen. Aristoteles zufolge geraten Menschen oft in Zorn, wenn jemand ihren Namen vergisst, und eine solche Reaktion ist schlichtweg verworren. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum