War man um die Mitte des 17. Jahrhunderts durch die zermürbende Erfahrung des Krieges klüger geworden? ES kann jedenfalls kein Zufall sein, dass mehr oder weniger simultan europaweit Tendenzen zu beobachten sind, an allem, was mit überkommenen Machtstrukturen zu tun hat, Kritik zu üben. Jürgen Wertheimer weiß: „Das betrifft Regierungsformen wie Denkstile. England unter der republikanischen Diktatur Oliver Cromwells oder die Revolte der Niederlande gegen die spanische Hegemonie sind nur zwei Beispiele für die beginnende Korrosion traditioneller Herrschaftsgefüge.“ Weit deutlicher jedoch als im Bereich der Politik zeigen sich die Zeichen eines generellen Umbruchs im Bereich der Künste und Wissenschaften. Denn der „europäische Geist“ erlebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine massive Krise. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Mythen
Die Kunst schweißt die Menschen zusammen
Kunst schafft Symbole und verwandelt so menschliche Gruppen in Überlebensmaschinen. Sie schweißt die Menschen zusammen. Stefan Klein erklärt: „Kunst wurde demnach umso bedeutender, je mehr Personen zusammenlebten. Zu Schmuckstücken umgewandelte Muscheln etwa können Status und Individualität signalisieren.“ Wenn nämlich Menschen geistig dazu imstande sind, in einem Gegenstand ein Zeichen für etwas ganz anderes zu sehen, hören die bemalten Muscheln auf, nur Kalkschalen von Weichtieren zu sein. Sie sind Zeichen für das Zusammenleben geworden. Solange die Menschen nur sehr wenige waren und kaum Austausch mit anderen pflegten, benötigten sie keine solchen Symbole. Niemand legt im engsten Familienkreis ein Collier an. Stefan Klein zählt zu den erfolgreichsten Wissenschaftsautoren der deutschen Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg.
Durch die Natur versteht der Mensch die Welt
Schon immer haben sich Menschen Aspekten ihrer natürlichen Umgebung zugewandt, um die eigene Existenz zu interpretieren und zu verstehen. Eine besondere Rolle spielten dabei Tiere, Landschaften, Wetterphänomene und biologische Prozesse. Lucy F. Jones betont: „Die Natur hilft uns dabei, die Welt, in der wir uns wiederfinden, zu verstehen und ihr Bedeutung abzugewinnen.“ Selbstverständlich bestehen die frühesten Schöpfungsmythen und Kosmologien aus zahlreichen gemeinsamen Naturmotiven. Dazu zählen Fluten, Schlangen, Eier und animistische Annahmen. Denn die Urahnen der heutigen Menschen waren mit ihrer Umwelt noch wesentlich stärker verbunden. Doch trotz ihrer Entfremdung beziehen sich Menschen auch heute immer noch auf die Natur. Lucy F. Jones ist Journalistin und schreibt regelmäßig zu wissenschaftlichen Themen, Gesundheit, Umwelt und Natur für die BBC, The Guardian und The Sunday Times.
Alle Kulturen besitzen ihre Gründungsmythen
Alle Kulturen beziehen sich sowohl in ihrer Entstehungsphase als auch in ihrer Weiterentwicklung auf ihre Gründungsmythen. Beginnt die Erinnerung oder die Bindung daran zu verblassen, verliert der große Organismus einer Kultur langsam an Energie und Charakter. Oswald Spengler ist der Autor des kulturphilosophischen Werks „Der Untergang des Abendlandes“. Er bezeichnete den Prozess, in dem die lebendigen Geister eines Volkes erlöschen, als den Übergang von der Kultur zur Zivilisation. Erstere verkörpert ein vielversprechendes und kreatives Anfangsstadium. Letztere hingegen Endstadium und Verfall der gesamten Kultur. Isabella Guanzini weiß: „Um eine Kultur am Lebne zu erhalten, bedarf es immer wieder des Rückgriffs auf die eigenen Gründungsmythen.“ Denn jede Renaissance ist stets auch Erinnerung an die eigenen Ursprünge. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.
Der Tod ist nicht tragisch
Gibt es tragische Phänomene? Das hängt davon ab, was man als tragisch bezeichnet. Ágnes Heller stellt fest: „Der Tod ist nicht tragisch, denn wenn er es wäre, wären wir alle tragische Helden.“ Sokrates ist kein tragischer Held, Christus wurde nie als tragisch angesehen. Leiden ist nicht tragisch. Man spricht heute von einem tragischen Tod, wenn ein junger Mann bei einem Autounfall getötet wird oder Selbstmord begeht. Man empfindet Mitgefühl für einen gefallenen Soldaten oder einen verratenen Liebhaber, ohne ihr Schicksal als tragisch zu bezeichnen. Ágnes Heller, Jahrgang 1929, war Schülerin von Georg Lukács. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ágnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Ungarn.
Die Bedeutung der Mythen ist bis heute nicht geklärt
Sigmund Freud war der Überzeugung, alle Mythen der Welt bärgen in sich den Gemeinschlüssel zum Verständnis der menschlichen „psychosexuellen Entwicklung“. Dazu zählte er auch die biblische Erzählung von Adam und Eva. Dagegen vertrat Gustav Jung die These, Mythen seinen nichts weniger als die destillierte Essenz des „kollektiven Unbewussten“ der Menschheit. Und für Claude Lévi-Strauss bildeten die gesamten Mythologien der Welt zusammengenommen ein großes und unübersichtliches Rätselbild. Dieses würde die „Tiefenstrukturen“ der menschlichen Psyche offenbaren, wenn es sich richtig entschlüsseln ließe. Die Bedeutung der Mythen und Mythologien ist bis heute nicht vollständig geklärt. Aber James Suzman weiß: „Ganz sicher offenbaren sie uns jedoch Einsichten in einige universelle Aspekte der menschlichen Erfahrung.“ James Suzman ist Sozialanthropologe und Autor des Buches „Wohlstand ohne Überfluss“, in dem er die Gesellschaften der Jäger und Sammler als erste Wohlstandsgesellschaften porträtierte.
Bildung sorgt für individuelles Glück
Dass sich Menschen und Gesellschaften durch Bildung verändern lassen, gehört zu den zentralen Mythen moderner Bildungsideologien. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Vielen gilt Bildung als jenes Instrumentarium, mit dem nicht nur die Menschen ihr individuelles Glück finden, sondern mit dem man auch die sozialen, politischen und ökonomischen Probleme unserer Zeit lösen kann.“ Wer einen Menschen aus dem Netz rassistischer oder sexistischer Vorurteile befreien und zum Positiven verändern möchte, empfiehlt, ihn zu bilden. Wer eine Gesellschaft gerechter und friedlicher haben möchte, empfiehlt, damit in der Schule zu beginnen. Konrad Paul Liessmann stellt sich die Frage, ob Bildung hält, was man sich hier von ihr verspricht. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.
Jede Person hat ihre eigenen Mythen
Fast alle Menschen denken eher in Geschichten als in Fakten, Zahlen oder Gleichungen. Und je einfacher die Geschichte ist, desto besser. Yuval Noah Harari erklärt: „Jede Person, jede Gruppe und jede Nation hat ihre eigenen Erzählungen und Mythen.“ Doch im Verlauf des 20. Jahrhunderts formulierten die globalen Eliten in New York, Berlin und Moskau drei große Erzählungen. Diese nahmen für sich in Anspruch, die gesamte Vergangenheit zu erklären und die Zukunft der ganzen Welt vorherzusagen. Dabei handelt es sich um die faschistische, die kommunistische und die liberale Erzählung. Der Zweite Weltkrieg machte dem faschistischem Narrativ den Garaus, und von Ende der 1940er Jahre bis Ende der 1980er Jahre wurde die Welt zum Schlachtfeld zwischen nur noch zwei Erzählungen: Kommunismus und Liberalismus. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.
Italien ist für viele der Inbegriff der Zivilisation
Die Kultur Italiens wurde ebenso stark von außen geprägt wie durch seine innere Vielfalt. In seinem Buch „Die Macht der Schönheit“ zeigt Volker Reinhardt wie sich seit dem 11. Jahrhundert aus all diesen Faktoren die italienische Kultur entwickeln konnte. Zu den äußeren Einflüssen zählt der Historiker beispielsweise das Erbe der Antike, arabische Vorbilder auf Sizilien, byzantinische Prägungen in Venedig. Die italienische Kultur ist aus Krisen und Katastrophen erwachsen. Dennoch gehört zu ihrer DNA eine optimistische Lebenskraft. Diese Lebensfreude spricht jeden an und entwickelt dabei eine bezaubernde Wirkung. Für die italienischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts war Italien der Inbegriff der Zivilisation, die Prometheus-Nation schlechthin. Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg. Er gehört international zu den führenden Italien-Historikern.
Griechische Mythen bestimmen das europäische Weltbild
Der Historiker Paul Veyne zeigte in den 80er Jahren in seinem Buch „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“, dass die griechischen Mythen Geschichten sind, die das europäische Weltbild und die Wahrnehmung der Europäer bestimmen. Dabei handelt es sich auch durchaus um doppelbödige Geschichten. Sie machen laut Jürgen Wertheimer deutlich, wie konstruiert und fragil, wie skrupellos und kreativ die europäische Art ist, Geschichte herzustellen und zu schreiben. Und auch wie virtuos sie damit umzugehen verstehen. Jürgen Wertheimer erläutert: „Einerseits wandeln wir gläubig auf den Spuren der Alten und lesen jedes Gran Wirklichkeit andachtsvoll auf. Zugleich bezweifeln wir jeden Echtheitsanspruch und lösen die Illusionen in der Säure unseres kritischen Verstandes auf.“ Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Jürgen Wertheimer beschreibt die Geburt Europas
Irgendwo zwischen Syrien und Libyen beginnt laut Jürgen Wertheimer die Geschichte Europas. Dabei handelt es sich allerdings um eine genuin griechische Geschichte, vielleicht sogar um die Mutter aller Geschichten. Göttervater Zeus hat sich in Europé, die Tochter des mythischen Phönikerkönigs Agenor, verliebt. Er entführt sie, in der Gestalt eines Stieres, über das Meer nach Kreta. Dort verwandelt er sich zurück und zeugt mit Europé drei Söhne. Einer davon war Minos, der später das kretische Labyrinth erfand. Jürgen Wertheimer erklärt: „Entsprechend einer frühen Verheißung Aphrodites, wurde die neue Heimat nach ihr „Europa“ benannt.“ Noch in der Nacht vor ihrer Entführung hatte Europé davon geträumt, dass zwei Kontinente um sie stritten: Asia und das zukünftige Europa. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Friedrich Nitzsche wollte die dionysische Kultur stärken
Friedrich Nietzsches Gegenentwurf zur sokratischen Kultur wird tragische Kultur genannt. Sie entwickelt sich aus seiner grundlegend kritischen Stellung zu Sokrates (469 – 399 v. Chr.). Der griechische Philosoph gilt als Stammvater einer Epoche. Diese suchte die Vernunft und Wissenschaft zur Herrschaft zu bringen und keine Mythen mehr kennt. Christian Niemeyer erläutert: „Entsprechend auch sah sich der frühe Nietzsche weniger als ein den Ideen der Aufklärung verpflichteter Jünger der Wahrheit denn als ein von Friedrich Wagner ermunterter Exponent der über sich selbst zu Bewusstsein gelangten griechischen Antike.“ Friedrich Nietzsches Programm bestand entsprechend darin, die als dionysisch gefasste künstlerische Kultur zu stärken. Er wollte sie der apollinisch strukturierten, auf Erkenntnis, Wissenschaft und Wahrheit setzenden Gegenwart als andere, bessere Seite entgegenhalten. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.
Timothy Snyder kritisiert die Politik der Unausweichlichkeit
Die Politik der Unausweichlichkeit beruht auf der Annahme, dass es keine Ideen gibt. Wer sich sklavisch der Unausweichlichkeit unterwirft, leugnet, dass Ideen von zentraler Bedeutung sind, und zeigt damit nur, dass er seinerseits dem Einfluss einer mächtigen Idee unterliegt. Der Leitspruch der Politik der Unausweichlichkeit lautet: „Es gibt keine Alternativen.“ Timothy Snyder kritisiert: „Wer das akzeptiert, leugnet, dass er als Individuum Verantwortung dafür trägt, geschichtliche Entwicklungen zu erkennen und verändernd einzugreifen. Er wird zum Schlafwandler, der seinem bereits markierten, vorab gekauften Grab entgegenwankt.“ Die kapitalistische Version einer Politik der Ungleichheit, in der der Markt an die Stelle der Politik tritt, schafft eine ökonomische Ungleichheit, die jeden Glauben an Fortschritt unterminiert. Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University und Autor der Bücher „Über Tyrannei“, „Black Earth“ und „Bloodlands“.
Nationen gründen sich oftmals auf Mythen und Erzählungen
Nationen sind, so die klassische Definition von Ernest Renan, keine materiellen Phänomene, sondern geistige Prinzipien. Sie beruhen darauf, dass eine Gruppe von Menschen sich aufgrund bestimmter Merkmale wie Staatsangehörigkeit, gemeinsamer Sprache, Kultur oder Geschichte als zusammengehörig begreift. Andreas Rödder ergänzt: „Der Realitätsgehalt dieser Vorstellungen gemeinsamer Geschichte und Kultur ist in der Regel begrenzt, vielmehr beruhen sie oftmals auf Mythen und Erzählungen.“ Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat Nationen daher als „vorgestellte“ oder gar „erfundene Gemeinschaften bezeichnet – was freilich nichts an der durchschlagenden Wirkung dieser Idee in der Geschichte der westlichen Moderne ändert. Denn Gemeinschaften, die sich als Nation verstanden, wollten im 19. Jahrhundert auch in einem Staat zusammenleben. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Heimat ermöglicht die Erfahrung von Transzendenz
Heimat ist gleichermaßen Raum wie Idee religiöser Rückbezüglichkeit. Ihre Möglichkeit zur Bewältigung diverser Ambivalenzen ermöglicht vielen Individuen, welcher Religion auch immer, eine Religiosität ohne Gottesbezug. Christian Schüle erläutert: „Die spätmoderne, dauererregte, beschleunigte in ihrer Multioptionalität bedrängende Lebenswelt ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad Paradoxien.“ Heimat als emotional erinnerbare Gegenwart hingegen ist ein fundamentales Versprechen auf Reduktion der Komplexitäten durch Kohärenz: auf den sinnstiftenden Einklang von Selbst und Umwelt, der Ambivalenzen ja gerade auflöst. In der Reduktion eignet Heimat sich als Schutzraum, der ermöglicht, was kaum noch vermittelbar ist: Transzendenz-Erfahrung. Heimat ist auch das, was sich auf Dauer durch sich selbst bewährt. Sie erhält Geltung durch die Bindung des Menschen an Orte, Böden, Rituale, die durch die Biografie beglaubigt sind. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Gerald Hüther bewundert die Plastizität des Gehirns
Es gibt für Gerald Hüther wohl keine wissenschaftliche Entdeckung, deren Bedeutung für das menschliche Leben und das Zusammenleben so lange und so sehr unterschätzt worden ist, wie die nun schon vor einem halben Jahrhundert nachgewiesene Plastizität des menschlichen Gehirns. Gerald Hüther erläutert: „Sie bildet die Grundlage unserer enormen und bis ins hohe Alter fortbestehenden Lernfähigkeit. Diesem neuroplastischen Potential verdanken wir alles, was wir Menschen bisher geschaffen haben.“ Auch das, was einzelne Völker oder Staaten anderen Menschen und der Vielzahl anderer Lebewesen auf diesem Planeten angetan haben. Die Lernfähigkeit der Menschen und die aus ihr gespeiste Entdeckerfreude und Gestaltungslust bilden die Grundlage für das, was aus der Menschheit geworden ist. Dabei war die Herausbildung lernfähiger Gehirne im Verlauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Tiere kein Zufall. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.
Eine Kultur lässt sich nie vollständig beschreiben
Die Aufgabe der Intellektuellen besteht darin, dem kollektiven Denken der Menschen einen besonders klaren Ausdruck zu verleihen – und das nicht nur zu ihrem privaten Vergnügen. Beispielsweise sah W. B. Yeats die Aufgabe seiner Dichtkunst darin, den Mythen und Archetypen der irischen Landarbeiter eine Stimme zu geben. Genauso wie in „Das wüste Land“ nicht T. S. Eliot spricht, sondern das, was er selbst ziemlich vollmundig den europäischen Geist nannte, so sieht sich W. B. Yeats einfach als Medium – fast im spiritistischen Sinne – für die zeitlose Weisheit des Volkes. Terry Eagleton nennt ein weiteres Beispiel: „Nach Martin Heideggers etwas düsterer Sichtweise besteht die Aufgabe des Dichters darin, dem Schicksal der Nation seine Sprache zu schenken. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.
Ein Staat muss seine Grenzen schützen
In verstärktem Maße geht es im Reich des Homo faber um die Behauptung des Echten. Christian Schüle nennt Beispiele: „Um die echten Deutschen. Die echten Franzosen. Die echten Dänen. Die echten Polen. Die echten, ethnisch klar und vor allem berechtigterweise auf den Heimatboden Verorteten.“ Um die im Revier Geborenen, die auf der Scholle Lebenden. Der Nationalismus, der an das Gewissen der Echtheit appelliert, hat das Problem, nachvollziehbare Kriterien für seine Voraussetzungen zu liefern. Das Echte kann nur echt durch seine Negation sein: das Unechte, vulgo Fremde. Wenn das Eigene das Echte ist, muss das Fremde das Falsche sein. Solcherart Dialektik rechtfertigt sogar Gewalt, weil das staatliche Monopol aufgegeben ist, wenn der Staat seiner genuinen Aufgabe nicht nachkommt: dem Schutz der Grenzen seines Raumes. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Große Kulturen haben niemals autochthone oder nationale Wurzeln
Wie kein anderes Volk der Antike suchten die Griechen nach Erkenntnis und versahen die Dinge mit Namen. Schon das Wort „Philosophie“, „Weisheitsliebe“, entstammt der griechischen Sprache. Bernd Roeck erläutert: „Mit der ionischen Naturphilosophie zeigt sich das Fragen und Forschen, die Erkundigung, „historie“, erstmals als systematisches Unterfangen.“ Zur kommunikationsfreudigen Geografie des Mittelmeers, zu politischen und sozialen Umständen kam ein weiterer, das Gespräch bereichernder Faktor: die Beziehungen zum Orient. Große Kulturen haben niemals autochthone oder nationale Wurzeln. Sie entstehen durch Austausch und fruchtbaren Streit. So verdankt griechischer Geist dem Orient mehr, als das Geschichtsbild des humanistischen Gymnasiums wahrnahm. Die griechische Skulptur zum Beispiel nimmt mit Kulturtransfers aus Ägypten ihren Anfang. Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.
Der Traum ist der „Königsweg“ zum Unbewussten
Träume spielen sich nach Sigmund Freuds Auffassung nicht im Unbewussten ab, sondern im Gegenteil im Bewusstsein. Ihre Verbindung zum Unbewussten ist seiner Meinung nach anderer Natur. Philipp Hübl erklärt: „Die Trauminhalte, die bizarren Bilder und Eindrücke in Träumen, haben Sigmund Freud zufolge ihren Ursprung im Unbewussten. Um dem näher zu kommen, muss man die Inhalte der Träume sorgfältig analysieren, denn darin zeigen sich die unbewussten Wünsche.“ Weil Wünsche sich im Schlaf besonders auffällig umformen, hielt Sigmund Freud den Traum für den „Königsweg“ zum Unbewussten. Im Traum brodeln die Energien des Es so stark, dass der Zensor überlastet ist. Am Tag kann er zwar fast alle geheimen Wünsche zurückhalten, doch jetzt drängen sie mit Macht ins Bewusstsein. Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart.
In der Kunst spielt die Freiheit eine herausragende Rolle
Von vielen Theoretikern der Freiheit unterschätzt, spielen im Prozess der Moderne die Kunst und bei ihr das Prinzip der Freiheit eine herausragende Rolle. Ein Grund für das Unterschätzen liegt für Otfried Höffe auf der Hand: „Die wenigsten Freiheitstheoretiker verfügen über hinreichende Sachkenntnis für die so vielfältige wie vielseitige Kunst, reicht diese doch von der Musik über die bildenden Künste samt Architektur bis zur Dichtung, dem Theater und dem Film.“ Nicht minder vielfältig sind die freiheitstheoretischen Aspekte. Wie die frühe, später die klassische Philosophie Europas spricht auch die älteste europäische Literatur griechisch. Die ältesten Dichtungen des europäischen Kulturraums werden einem gewissen Homer zugesprochen, der die Epen „Ilias“ und „Odyssee“ schuf. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.
Verschwörungstheorien bieten simple Erklärungen
Populisten bedienen sich auch in Deutschland gezielt Verschwörungstheorien. Auf die Frage, warum plötzlich so viele Leute dazu bereit sind, den größten Irrsinn zu glauben, antwortet Michael Butter: „Weil Verschwörungstheorien den Zufall beseitigen und dem Einzelnen die Chance geben, eine simple Erklärung für etwas zu finden, was ihn nervt, verängstigt oder belastet.“ Außerdem erlauben es Verschwörungstheorien, mit dem Finger auf Schuldige zu zeigen. Das können dann wahlweise die Politik, die Medien oder auch die Flüchtlinge sein. Zudem kann sich der Einzelne mit Verschwörungstheorien aus der Masse herausheben, weil er derjenige ist, der weiß, wie der Hase läuft. Der Kulturhistoriker Michael Butter ist Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen und Initiator eines EU-Forschungsprojekt zur vergleichenden Analyse von Hintergründen, Nutzen und Gefahren von Verschwörungstheorien.
Die Liebe macht viele Menschen demütig
Wenn man heute von „Gemeinsinn“ spricht, stellt man sich darunter jemanden vor, der Petitionen, Demonstrationen und Proteste organisiert und der seine Stimme zum Wohl der Allgemeinheit erhebt. David Brooks ergänzt: „Aber in früheren Epochen war damit eine Person gemeint, die ihre Leidenschaften gezügelt und ihre Meinungen gemäßigt hat, um einen umfassenden Konsens zu erreichen und unterschiedlichste Menschen zusammenzubringen.“ Viele Menschen stellen sich Gemeinsinn als Durchsetzungskraft vor, aber früher verstand man darunter die Fähigkeit zu Selbstbeherrschung. Dabei lernt man eine innere Struktur zu entwickeln, um die chaotischen Impulse im Innern zu kontrollieren. Sündhaftigkeit wird dabei indirekt durch uneigennütziges Verhalten bekämpft. Damit führt man das Leben von den schlimmsten Tendenzen weg. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.
Die Jugendbewegung wollte um 1900 zurück zur Natur
Besonders deutlich wird das Zusammenspiel von Aufbruch und Orientierung am Überkommenen um 1900 in der Jugendbewegung. Ulrich Herbert erklärt: „Sie war zunächst ein Teil der wesentlich breiteren Bewegung der Lebensreformer, die danach strebten, in der als einengend und bedrückend empfundenen Welt des Wilhelminismus neue, eigene Wege zu finden, nach Freiheit, Natur und Ursprünglichkeit zu suchen und den Zwängen der Konvention zu entkommen.“ Diese Bestrebungen wirkten sich sowohl auf die Bereiche des Wohnungs- und Städtebaus sowie der Erziehung oder der Sexualpolitik aus. Die Jugendbewegung war jedoch wesentlich breiter, in den Zielsetzungen auch diffuser als die Lebensreformer. Vor allem aber hatten sie besonders viel Einfluss – und das über Jahrzehnte hinweg. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
Die Auswahl des Essens steht unter gesellschaftlichem Druck
Im neuen Philosophie-Magazin 04/2015 setzt sich das Titelthema mit der Frage „Bin ich, was ich esse? auseinander. Dabei wird festgestellt, dass heute mehr denn je die Auswahl des Essens unter gesellschaftlichem Druck steht. Dabei bilden selbstgewählte Nahrungstabus das Zentrum der menschlichen Identität, ersetzen zunehmend religiöse und auch politische Erkenntnisse. Dr. Catherine Newmark, die am Institut für Philosophie an der Freien Universität Berlin arbeitet, schreibt: „Die damit verbundenen Haltungen pendeln zwischen lebensfroher Heilserwartung und genussferner Hypersensibilität, revolutionärer Energie und Angst vor staatlicher Überregulierung. Sie zitiert in ihrem Beitrag Friedrich Nietzsche, der einst behauptete: „Oft entscheidet ein einziger Bissen Nahrung, ob wir mit einem hohlen Auge oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen.“ Viele Menschen sind heutzutage geradezu besessen vom Essen, und das gerade nicht, weil es so schwer zu besorgen wäre.