Eine moderne Gesellschaft prägen Konflikte und Kontroversen

Gestützt auf die Erfahrung der Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer langen Geschichte religiöser und ethnischer Vielfalt, entwickelt der amerikanische Wissenschaftler Lee Bollinger die These, dass die freie Meinungsäußerung „unsere Fähigkeit auf die Probe stellt, in einer Gesellschaft zu leben, die unvermeidlich von Konflikten und Kontroversen geprägt ist; sie schult uns in der Kunst der Toleranz und wappnet uns gegen die Wechselfälle [einer solchen Gesellschaft]“. Da die Menschen äußerst verschieden sind, werden sie sich nicht alle für das gleiche Leben entscheiden. Sie werden nicht alle einig sein. Timothy Garton Ash erklärt: „Wie schon Immanuel Kant wusste, würde die menschliche Gesellschaft stagnieren und wäre einfältig, wenn wir das täten.“ Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

Das Recht kann keine Grenze zwischen Freiheit und Zügellosigkeit ziehen

Menschen können jedoch durch Übung lernen, mit den nicht reduzierbaren Unterschieden zu leben, ohne deshalb aneinanderzugeraten. Bestenfalls einigen sie sich darauf, worüber sie sich nicht einig sind. Dass man das Recht hat, etwas zu sagen, bedeutet nicht, dass es auch richtig wäre, es zu sagen. Und das Recht zu beleidigen, bedeutet nicht die Pflicht zu beleidigen. Der Juraprofessor Zechariah Chafee stellt fest: „Für das Recht ist es hoffnungslos, die Grenze zwischen Freiheit und Zügellosigkeit zu ziehen, doch der Mensch kann sich selbst prüfen und diese Entscheidung treffen, bevor er sich äußert.“

Dass die Gabe der Sprache missbraucht wird, um andere zu täuschen, oder ihnen Schaden zuzufügen, wird allgemein als inakzeptabel betrachtet. Wie der Buddhismus lehrt, sind vier mit der Sprache verübte Taten „unreine Fehler im Leben“: „Das Lügen als Eigennutz oder zum Nutzen anderer oder wegen eines materiellen Vorteils; Äußerungen, die Unfrieden stiften, die unter Einigen Zwietracht säen und die Uneinigkeit unter Uneinigen noch verstärken; hartes und beleidigendes Sprechen, das Wut und Ablenkung im Geist anderer erzeugt; Äußerungen, die nicht ratsam oder zügellos und schädlich sind.

Die Redefreiheit darf so wenig wie möglich durch Gesetze eingeschränkt werden

Es ist eine zentrale These von Timothy Garton Ash, dass man die Redefreiheit so wenig wie möglich durch Gesetze oder durch Maßnahmen von Regierungen oder Privatpersonen einschränken und stattdessen gemeinsam Normen und Praktiken für den optimalen Gebrauch dieser essenziellen Freiheit entwickeln sollte. Timothy Garton Ash sieht einige Hauptgründe, warum man sich auf die grundlegenden Prinzipien und Normen konzentrieren sollte. Das erste ist das Wesen der Kosmopolis. Die Gesetze, die ein einzelner Staat auf seinem Territorium durchzusetzen versucht, werden durch die Entstehung der Kosmopolis nicht irrelevant.

Selbst in reifen liberalen Demokratien ist die Meinungsfreiheit verzerrt durch die enorme und häufig versteckte Macht des Geldes, die sowohl spricht als auch zum Schweigen bringt; durch politische Manipulation; durch populäre Vorurteile; durch Eigentum an Medien und schlechten Journalismus; durch Machtbeziehungen am Arbeitsplatz, in den verschiedensten Gemeinschaften und in der eigenen Familie; und durch Machtbeziehungen zwischen Geschlechtern, Klassen und ethnischen Gruppen. Nicht zuletzt ist sie auch verzerrt durch die Gewalt, mit der ein Mann oder (seltener) eine Frau Schwächere zum Schweigen bringt. Quelle: „Redefreiheit“ von Timothy Garton Ash

Von Hans Klumbies