Viele Deutsche fürchten sich vor dem sozialen Abstieg

Der Ruf nach dem starken Staat zeigt immer die Annahme einer schwachen Gesellschaft an – wenn Schwäche im Verhängniszusammenhang von Orientierungsverlust und Angst vor dem persönlichen Abstieg besteht. Christian Schüle erläutert: „Individuelle Verlustangst ist die treibende Kraft hinter der Ablehnung jener Mächte, die man dafür verantwortlich macht: Globalisierung, Kapitalismus, Migration. Sie alle, so lässt sich solches Denken personalisieren, nehmen mir auf meiner Scholle in meiner Heimat das mir Zustehende ab.“ Großherzigkeit, Humanitarismus, Toleranz und Solidarität, heißt das im Umkehrschluss, muss man sich leisten können. Und sie sind nur dann möglich, wenn das eigene Ich stabil im Leben steht, getragen von einem formidablen Bruttoinlandsprodukt mit relativer Perspektive von stabilen Wohlstand, Wachstum, Steigerung und Verbesserung, wenn man sich in relativer Ruhe nach oben orientieren kann. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Die Loyalität der Bürger mit ihrem Staat geht verloren

Die Deutschen spielen lieber Lotto, als dass sie Aktien kaufen, weil die Furcht vor Verlusten zur prinzipiellen Vorsicht erzieht. Neben der Angst vor dem Abstieg ist die Ambition zum Aufstieg das treibende Moment. Während der Flüchtling rechtlos durch den Weltenraum treibt und der Migrant in eine neue Heimat einwandert, zieht der Homo faber die Grenze als Schutz seines Heimatlandes. Infrage steht einerseits das Recht auf universell verbindliche Schutzrechte dann, wenn einem der Schutz des eigenen Korpus wichtiger ist als der verfolgte Körper eines anderen.

Und infrage steht andererseits die bisher gültige Vereinbarung einer Loyalität der Bürger mit ihrem Staat. Infrage steht also das ausbalancierte Verhältnis zwischen Sozialstaat und Asylrechtsstaat. Meist geht es um Geld und Gerechtigkeit, dann um Ängste des Verlusts und um die Existenz. Christian Schüle erklärt: „Immer wenn der Mensch verdinglicht, objektiviert, wenn die Würde materialisiert, berechnet und beziffert wird, steht das Humanum infrage. All dem können, müssen aber nicht xenophobe Motive unterliegen.“

Deutschland kann 360.000 Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen

Manchmal ist Ausländerfeindlichkeit ja nur ein kulturelles Unbehagen am „Fremden an sich“. Manchmal ist es auch das „Gefühl“ ungerechter Bevorzugung anderer – in diesem Fall fremder – Menschen, die aus Sicht derer, die sie ablehnen, nichts für ein System getan haben, von dem sie von nun an profitieren. Zuwanderer und Flüchtlinge, so die Denkfigur der Ablehner, zahlten im Durchschnitt weniger Beiträge und Steuern, als sie später an staatlichen Leistungen erhalten würden.

Immerhin stehen nach Auffassung von gut 70 Prozent der sogenannten „Entscheider“ aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung die Chancen, Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren, nicht gut. Diese Elite der Gesellschaft sieht die Grenze der Aufnahmefähigkeit Deutschlands bei einem Schnitt von jährlich 360.000 Menschen erreicht. Mehr kann, so darf man die Umfrageergebnisse deuten, die Bundesrepublik nicht bewältigen. Nach Einschätzung von zwei Dritteln dieser Spitzenkräfte gibt es wenige oder keine Chance, die Flüchtlinge in die Gesellschaft einzugliedern. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies