Viel zu lange glaubten die Staaten des Westens, dass sich ihre Maximen wie Fortschritt, Säkularität und Liberalismus sich irgendwann auf der ganzen Erde durchsetzen würden. Aus einer radikal aufklärerischen Position heraus stellt Stefan Weidner diese vermeintliche Überlegenheit in seinem Buch „Jenseits des Westens“ in Frage: Gerade heute braucht es seiner Meinung nach ein kosmopolitisches Denken, das ganz unterschiedliche Weltenwürfe ernst nimmt. Auch in Arabien, Afrika und China haben sich etwa Vorstellungen von der Würde des Menschen entwickelt und wie sie durch das Recht garantiert werden kann. Jedem Weltbild geht eine Grammatik, ein Vokabular, eine Überlieferung, eine Erzählung voraus. Dieses Narrative, das heißt, die Geschichten, die über die Welt erzählt werden, interessieren Stefan Weidner mehr als das, was angeblich die Welt selbst sein soll. Stefan Weidner studierte Islamwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn.
Der neue Kosmopolitismus ist scharf vom Universalismus zu unterscheiden
In einem ersten Schritt nimmt sich Stefan Weidner Autoren wie Francis Fukuyama und Samuel Huntington vor, weil sie besonders typische Vertreter einer bestimmten Geisteshaltung sind und am Leitfaden ihrer Schriften noch am besten erklärt werden kann, was bis heute die Rede vom Westen ausmacht, was als Westen begriffen wird, was Westen bedeutet. Nicht nur jenseits des Westens, sondern auch in marginalisierten europäischen Traditionen wie etwa der Frühromantik findet Stefan Weidner Weltvorstellungen, die einen Weg aus den Sackgassen des Denkens weisen.
In Zeiten des internationalen Austauschs, der auch die vorgegebenen ideologischen Grenzen überschreitet und außer Kraft setzt, ergibt sich das Bedürfnis nach einem anderen, umfassenden Narrativ, das laut Stefan Weidner nur ein kosmopolitisches sein kann. Es steht für einen neuen Kosmopolitismus, der scharf vom herkömmlichen Universalismus zu unterscheiden ist. Dabei muss es allerdings gleichgültig sein, woher dieser Kosmopolitismus kommt und ob er als von der europäischen Philosophie losgelöst betrachtet werden kann oder nicht.
Eine letzte Wahrheit gibt es nicht
Wo Politik ein Heilsversprechen beinhaltet, also selbst religiös wird, ist das Maß überschritten, wird sie übergriffig – auf die Religion, die Moral selbst. Keineswegs aber dort, wo Politik versucht, moralisch zu sein, ohne dadurch Erlösung zu versprechen. Politik darf, ja soll moralisch sein; wo sie sich aber anheischig macht, Religion zu ersetzen, Heil und Sühne zu versprechen; wo sie absolut, wahr, alternativlos und dergleichen zu sein vorgibt, ist sie, religiös gesprochen, Götzendienst, Selbstzweck, ersetzt die Moral und läuft Gefahr, sich als Moral zu inkarnieren, wo sie doch in Wahrheit nur Politik ist.
Stefan Weidner zitiert in seinem Buch „Jenseits des Westens“ auch Mahatma Gandhi, der sein Narrativ so weit wie möglich auf das Leernarrativ, auf den Nullpunkt zurückführt. Statt die Wahrheit mit Gott gleichzusetzen, setzt Mahatma Gandhi Gott mit der Wahrheit gleich. Er hat dabei oft betont, dass man die Wahrheit zwar suchen, aber nie endgültig erreichen kann, genauso wie man die absolute Vollkommenheit, das Ideal indischer Religiosität, nicht letztgültig erreichen kann. Eine letzte Wahrheit gibt es nicht, weil Wahrheiten immer Wahrheiten in und durch ein Narrativ sind.
Jenseits des Westens
Für ein neues kosmopolitisches Denken
Stefan Weidner
Verlag: Hanser
Gebundene Ausgabe: 368 Seiten, Auflage: 2018
ISBN: 978-3-446-25849-5, 24,00 Euro
Von Hans Klumbies