Paul Kirchhof fordert in seinem neuen Buch „Beherzte Freiheit“ ein neues Denken der freiheitlichen Autonomie des Menschen. An zahlreichen Beispielen zeigt er, wie Menschen durch das Recht und die Politik aus falschem Wohlmeinen eingeschränkt werden. Die Globalisierung und Digitalisierung kann eine Person von einem handelnden Subjekt in ein lenkbares Objekt verwandeln. Paul Kirchhof warnt: „Wenn wir die Sorge für die Freiheit allein dem Staat überlassen, verkümmert unsere innere Kraft dazu.“ Echte Freiheit, so zeigt der Autor, lässt sich in einer an Gütern, Chancen und Informationen übervollen Gesellschaft nicht allein durch die Verbesserung der äußeren Lebensbedingungen gewinnen. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.
Das Recht schützt den Einzelnen vor der Willkür der Obrigkeit
Beherzte Freiheit gibt es nicht ohne Anstrengung. Sie will errungen sein, ist allerdings nicht jedermanns Sache. Menschen müssen immer wieder auf die Idee der Freiheit eingestimmt, können aber auch umgestimmt werden. In einem Umfeld, das von einer Informationsflut geprägt ist, die jeden Tag auf einen einprasselt, bewahrt ein Mensch seine Freiheit nur bei hinreichender Gelassenheit. So gewinnt er Distanz zu sich, seinem Ehrgeiz, seinem Erwerbsstreben und Machtwillen, entfaltet ein Selbstbewusstsein, unterscheidet zwischen Muße und Gedankenlosigkeit.
Traditionell beansprucht der Mensch Freiheitsrechte, um sich gegen willkürliche Verhaftung und übermäßige Steuern, gegen Feudalstrukturen und Verachtung zu wehren. Der Anspruch des Individuums auf Freiheit hält die Obrigkeit auf Distanz und unterbindet deren Willkür durch Recht. Doch heute legt der Staat das Instrumentarium des Rechts oft aus der Hand und führt den Bürger fast unmerklich als wohlwollenden Partner in staatlich erwünschte Verhaltensweisen. Dadurch verliert man ganz schnell oder schleichend seine Distanz zum Staat und Bürgerstolz.
Der freie Mensch versteht Freiheit als Wagnis und Chance
Wenn die Verfassung die Freiheitsrechte der Bürger garantiert, macht sie ihnen das Angebot, diese Rechte wahrzunehmen und Freiheit zu lernen. Denn Freiheit beginnt mit dem Lernen. Eine wache Aufmerksamkeit für das öffentliche Leben schult die politische Urteilskraft. Der Mensch muss sich ständig zur Freiheit qualifizieren. Wobei die Freiheit Sensibilität, Menschlichkeit, Verantwortung und Weltoffenheit zur Voraussetzung hat. Der Freie muss sich für die Ansprüche der modernen Welt immer mehr in Freiheit selbst befähigen.
Freiheit ist zwar angeboren und rechtlich garantier, muss aber von jedem Menschen täglich errungen werden. Dazu braucht der Mensch Urteilskraft und Gestaltungswillen. Paul Kirchhof fasst zusammen: „Der Mensch ist frei, wenn er nicht existentiell durch Macht und Naturgewalt, durch Krankheit und Hunger, durch Angst bedroht ist, wenn die anderen Menschen sein Leben, seine Körperintegrität, seine Ehre und sein Eigentum achten, wenn er sein eigenes Leben beherzt selbst gestalten und in der Gemeinschaft demokratisch mitwirken darf.“ Der freie Mensch handelt beherzt, versteht Freiheit als Wagnis, als Chance, als eigenen Weg.
Beherzte Freiheit
Paul Kirchhof
Verlag: Herder
Gebundene Ausgabe: 367 Seiten, Auflage: 2018
ISBN: 978-3-451-38178-2, 26,00 Euro
Von Hans Klumbies