Die Identitätssynthese ist eine gefährliche Idee

In seinem neuen Buch „Im Zeitalter der Identität“ setzt sich Yascha Mounk mit dem wachsenden Einfluss neuer Ideen von der Rolle der Identität kritisch auseinander. Yascha Mounk schreibt: „Wie ich es darstelle, haben wir in den letzten Jahren nichts weniger als die Geburt einer neuen Ideologie erlebt – einer Ideologie, die weithin als „woke“ bekannt ist, obwohl ich den Begriff der „Identitätssynthese“ für trefflicher halte.“ Die Identitätssynthese wendete sich von Anfang an ausdrücklich gegen die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sie peilt eine Gesellschaft an, in der Kategorien wie das Geschlecht, die Hautfarbe und die sexuelle Orientierung nicht etwa an Bedeutung verlieren – sondern stets bestimmen, wie sich Menschen einander wahrnehmen und behandeln. Yascha Mounk ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Johns Hopkins Universität in Baltimore.

Die Welt lässt sich nicht in Kategorien von Gut und Böse einteilen

Das Problem an der Identitätssynthese ist für Yascha Mounk also nicht, dass sie zu radikal oder zu kompromisslos für hehre Anliegen wie den Kampf gegen den Rassismus einstünde. Im Gegenteil: Das Problem an ihr besteht in ihrer Unfähigkeit, eine Gesellschaft zu inspirieren, in der Menschen friedlich zusammenleben, sich wirklich ebenbürtig fühlen und einander als wahre Mitbürger erkennen. Trotz dieser Makel hat die Identitätssynthese in den letzten zehn Jahren im Rekordtempo an Einfluss gewonnen. Und sie bestimmt auch in Deutschland immer mehr, was es bedeutet, links zu sein.

Gerade Linke sollten sich ihres altbewähren Humanismus entsinnen. Yascha Mounk weiß: „Der moralische Wert einer Person ergibt sich nicht aus der Gruppe, in die sie geboren wurde. Die Welt lässt sich nicht in manichäische Kategorien von Gut und Böse oder von Weiß und Schwarz aufteilen.“ Und nicht entbindet Menschen von der Verantwortung, ihre Verbündeten vorsichtig zu wählen – egal, wie lautstark sie von sich behaupten, für die Anliegen der Unterdrückten zu kämpfen.

Die Identitätsfalle stellt eine echte Gefahr dar

Viele Menschen sind mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass die Identitätsfalle für ihre grundlegenden Werte eine echte Gefahr darstellt. Sie würden sie – ob in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz oder unter Freunden und Bekannten – gern kritisieren. Doch sie haben Angst. Yascha Mounk kennt ihre Gründe: „Schließlich wollen sie weder ihre Freunde gegen sich aufbringen noch ihre Karriere ruinieren. Und sie sind sicher nicht so von Politik besessen, dass sie ihr Leben einem Kreuzzug gegen „Wokeness“ widmen wollen.“

Die Identitätssynthese verspricht Menschen, die sich isoliert fühlen, die dringend benötigte Orientierung, ja sogar Erleuchtung. Doch dieses tröstliche Versprechen entpuppt sich letztlich als Illusion. Die Identitätsfalle verführt Menschen dazu, sich durch äußere Merkmale zu definieren, deren Kombination und Permutationen, so zahlreich sie auch sein mögen, niemals ein reiches Bild ihres Wesens ergeben können. Denn der vermeintliche Fokus auf die Identität als Produkt verschiedener Gruppenattribute lässt wenig Raum für individuellen Geschmack, Talent oder Temperament – also für die Eigenschaften, die jeden Menschen einzigartig machen.

Im Zeitalter der Identität
Der Aufstieg einer gefährlichen Idee
Yascha Mounk
Verlag: Klett-Cotta
Gebundene Ausgabe: 505 Seiten, Auflage: 2024
ISBN: 978-3-608-98699-0, 28,00 Euro

Von Hans Klumbies

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