Heimatstolz und Patriotimus dürfen nicht verwechselt werden

Heimatstolz und Patriotismus ist eine reizvolle, gefährliche und durch die Geschichte leidvoll beglaubigte desaströse Kombination zweier Ideen. Christan Schüle weiß: „Der Stolz auf eine Heimat ist eine leerlaufende Nichtigkeit, weil Heimat nichts außer dem Selbstzweck leistet, da zu sein, und das ewiglich.“ Genauso gut könnte man stolz auf den Himmel oder eine Felsformation sein. Patriotismus dagegen muss keineswegs Heimatstolz heißen. Der Patriot ist ja ein Mensch, der gegenüber seinem Vaterland Loyalität empfindet, manchmal Treue, manchmal den wohligen Schauer der Vertrautheit, jedenfalls verbindliche Zugehörigkeit, gemäß dem unverdächtigen Cicero: „Patria est, ubicumque est bene.“ Übersetzt: „Wo es gut geht, da ist Vaterland.“ Zeitgemäß variiert: „Wo es mir gut geht, da ist meine Heimat.“ Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Gleichberechtigung der Geschlechter hat Verfassungsrang

Jede Form einer Diskriminierung der Frau ist in Deutschland verboten, insofern haben sich alle Kulturfremden im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis diesem deutschen Normverständnis unterzuordnen. Christian Schüle erläutert: „Die Gleichberechtigung der Geschlechter hat Verfassungsrang, und die auf der Verfassung aufbauende Rechtsordnung schützt Mann wie Frau gleichermaßen vor Einschränkungen ihrer Freiheit und Herabsetzung ihrer Würde.“ In Deutschland wie in Europa existiert das Grundrecht expliziter Gleichberechtigung der Geschlechter als Rechtsanspruch auf bedingungslose Würde, in islamischen Ländern hingegen wird meist gleiche menschliche Würde von gleichen Rechten getrennt betrachtet. Wer das thematisiert und artikuliert, ist weder Nationalist noch Fremdenfeind. Jenseits von Polit-Korrektheit und Apokalypse-Geraune darf bei nüchterner Betrachtung ja durchaus die Frage erlaubt sein, wie man einen allgemeine moralische Hilfspflicht gegenüber Menschen die an Leib und Leben bedroht sind, mit einem Regelwerk für kontrollierte Zuwanderung jener, die nicht asylberechtigt und arbeitswillig sind, in Einklang bringt. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Ein Staat muss seine Grenzen schützen

In verstärktem Maße geht es im Reich des Homo faber um die Behauptung des Echten. Christian Schüle nennt Beispiele: „Um die echten Deutschen. Die echten Franzosen. Die echten Dänen. Die echten Polen. Die echten, ethnisch klar und vor allem berechtigterweise auf den Heimatboden Verorteten.“ Um die im Revier Geborenen, die auf der Scholle Lebenden. Der Nationalismus, der an das Gewissen der Echtheit appelliert, hat das Problem, nachvollziehbare Kriterien für seine Voraussetzungen zu liefern. Das Echte kann nur echt durch seine Negation sein: das Unechte, vulgo Fremde. Wenn das Eigene das Echte ist, muss das Fremde das Falsche sein. Solcherart Dialektik rechtfertigt sogar Gewalt, weil das staatliche Monopol aufgegeben ist, wenn der Staat seiner genuinen Aufgabe nicht nachkommt: dem Schutz der Grenzen seines Raumes. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Beschwörung der Heimat geschieht durch Abspaltung

Die kämpferische Verschärfung der Beschwörung der Heimat geschieht durch Abspaltung. Christian Schüle weiß: „Ihre quasi heilige Berufung auf eine glorreiche Vergangenheit ist allen sezessionistischen und separatistischen Gruppierungen eigen.“ Fast immer sind ihre Argumente zugleich ökonomischer und ökologischer Natur: Wohlhabende Regionen grenzen sich gegen jene ab, die ihren Wohlstand von außen bedrohen und ihre Regionen einwandern, weil aus separatistischer Sicht Wohlstand und Region Synonyme sind. Einer politischen Abgrenzung entspricht als typische Geisteshaltung der Separatismus, vielfach zu studieren an Unabhängigkeitsgelüsten in Norditalien, im Baskenland, in Katalonien, in Schottland und in der Ost-Ukraine. Der Traum vom eigenen Ministaat, von der heilen Welt der unverdorbenen, autarken, autonomen Heimat, bringt die Selbstbestimmung der regionalen Bürger in Stellung gegen die Fremdbestimmung durch die eigene Nation oder etwa den „Suprastaat“ der Europäischen Union. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Nation funktioniert nur als Imagination

Seit Benedict Anderson weiß man: Die Nation ist eine „imaginated community“ eine vorgestellte Gemeinschaft. Dieser Titel des wohl bekanntesten Buches (1983) des amerikanischen Politikwissenschaftlers ist zu einem geflügelten Wort geworden. „Imaginated community“ bedeutet, dass die Nation als Vorstellung, als Imagination funktioniert. Isolde Charim fügt hinzu: „Man könnte auch sagen: Die Grundlage der homogenen Gesellschaft war die politische Vorstellungskraft. Die Leute haben an die Nation geglaubt. Sie haben an die Nation als eine Realität geglaubt.“ Und deshalb hat die Nation, so fiktiv sie auch immer gewesen sein mag, funktioniert. Deshalb hat diese Vorstellung, die Vorstellung „wir sind eine Nation“, tatsächlich eine nationale Gesellschaft hervorgebracht. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Nach 1918 brachen die europäischen Demokratien aus vier Gründen zusammen

In seinem Buch „Höllensturz“, das sich mit der Zwischenkriegszeit auseinandersetzt, beschreibt der britische Historiker Ian Kershaw vier Faktoren, die nach 1918 zum Zusammenbruch der europäischen Demokratien führten: Erstens die explosionsartige Ausbreitung eines ethnisch-rassistischen Nationalismus. Zweitens erbitterte und unversöhnliche territoriale Revisionsforderungen. Drittens ein akuter Klassenkonflikt. Viertens eine langanhaltende Krise des Kapitalismus. Philipp Blom schreibt: „Man muss nicht lange suchen, um in dieser Vergangenheit unsere Gegenwart zu erkennen. Keine Facette, die sich in dieser Aufzählung nicht spiegeln würde – von den nationalistisch-rassistischen Rechtspopulisten im Weißen Haus bis zur Krim und dem Krieg in der Ostukraine, von der täglich steigenden sozialen Ungleichheit bis zum Crash von 2008 und zur nächsten großen Finanzkrise eines immer weiter deregulierten Marktes.“ Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Francis Fukuyama verkündet 1989 das Ende der Geschichte

Noch ehe die Berliner Mauer gefallen war, publizierte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Sommer 1989 in der Zeitschrift „The National Interest“ einen Aufsatz, der mit einer spektakulären These aufwartet: Die Geschichte ist an ihr Ende gelangt – wiewohl es weiterhin politische Ereignisse geben wird. Stefan Weidner zitiert Francis Fukuyama: „Die durch den absehbaren Zusammenbruch des Ostblocks symbolisierte weltanschauliche Klärung, gleichzusetzen mit dem Triumpf des Westens, der westlichen Idee, bedeutete den Endpunkt der ideologischen Evolution des Menschen und die Universalisierung der liberalen Demokratie des Westens als der endgültigen Gestalt menschlicher Regierung.“ Freilich vollzieht sich das Ende der Geschichte nur in der Vorstellung: „Der Sieg des Liberalismus hat sich vorrangig auf dem Gebiet der Ideen und des Bewusstseins ereignet. In der materillen Welt ist er noch unvollständig.“ Stefan Weidner studierte Islamwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn.

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Der Wert des Eigenen gründet in der Homogenität

Wer seine Heimat, sein Land, seine Herkunft, für die beste der Welt hält, verschafft sich das Wohlgefühl einer Selbstbeheimatung, liefert andererseits aber auch einen Schlachtruf für die Maßgeblichkeit des Eigenen gegenüber dem Fremden, die durch nichts weiter als die subjektive Sehnsucht nach Großartigkeit gerechtfertigt ist. Christian Schüle fügt hinzu: „Als Einfallstor für Missverständnis und Missbrauch ist die Stilisierung der Heimatscholle als Faktor einer positiv konstruierten Identität immer in Gefahr der Abwertung.“ Der Wert, den man dem Eigenen zuspricht, gründet in der Homogenität: der durch keine Fremdheit kontaminierten Reinheit. Das Biotop wird zum Soziotop erklärt, und alles, was dieses als heimisch deklarierte Soziotop bedroht, wird dann „berechtigterweise“ abgelehnt. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Konrad Paul Liessmann betrachtet Europa unter ästhetischen Gesichtspunkten

Europa, so lautet eine gerne mit abwertendem Unterton vorgetragene These, sei in erster Linie ein ökonomisches Projekt, dem noch die Seele fehle; seit einiger Zeit sei Europa auch ein politisches Projekt, dem es allerdings noch an Demokratie und der Beteiligung der Bürger ermangele; und nicht zuletzt sei Europa ein moralisches Projekt, das den Nationalismus und seine Exzesse ebenso in die Schranken weisen werde wie Fremdenfeindlichkeit, soziale Ungerechtigkeit und jede Form von Ausgrenzung. Konrad Paul Liessmann stellt sich dabei folgende Frage: „Wie wäre es, das europäische Projekt einmal unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten?“ Welche Farbe trägt Europa? Nein, das EU-Blau ist nicht die einzige Antwort. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Viele Deutsche fürchten sich vor dem sozialen Abstieg

Der Ruf nach dem starken Staat zeigt immer die Annahme einer schwachen Gesellschaft an – wenn Schwäche im Verhängniszusammenhang von Orientierungsverlust und Angst vor dem persönlichen Abstieg besteht. Christian Schüle erläutert: „Individuelle Verlustangst ist die treibende Kraft hinter der Ablehnung jener Mächte, die man dafür verantwortlich macht: Globalisierung, Kapitalismus, Migration. Sie alle, so lässt sich solches Denken personalisieren, nehmen mir auf meiner Scholle in meiner Heimat das mir Zustehende ab.“ Großherzigkeit, Humanitarismus, Toleranz und Solidarität, heißt das im Umkehrschluss, muss man sich leisten können. Und sie sind nur dann möglich, wenn das eigene Ich stabil im Leben steht, getragen von einem formidablen Bruttoinlandsprodukt mit relativer Perspektive von stabilen Wohlstand, Wachstum, Steigerung und Verbesserung, wenn man sich in relativer Ruhe nach oben orientieren kann. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Der Nationalismus ist eine typische Ausformung des Populismus

Wo Autorität schwindet, tritt Macht an ihre Stelle. Die aktuelle politische Weltlage zeigt diese Gefahr anschaulich. Die Gefahr kommt aus verschiedenen Richtungen. Die politische Ordnung ist immer weniger demokratisch, besitzt kaum noch Autorität und regiert auf Basis von Macht – häufig genug ist das Ohnmacht, doch das ändert nichts daran. Paul Verhaeghe erklärt: „Die Wähler sehen das, interpretieren es jedoch zu Unrecht als ein Scheitern der Demokratie an sich.“ Das birgt das größte Risiko, das David Van Reybrouck sehr treffend als neue Epidemie beschrieben hat: DES, das demokratische Erschöpfungssyndrom. Der Bürger glaubt nicht mehr an Demokratie, er ist bereit für zwei „Lösungen“, die schlimmer sind als die Krankheit selbst. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

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Eine Nation definiert sich durch Willkür und Wille

Am 11. März 1882 hält der französische Historiker, Schriftsteller und Philosoph Ernest Renan an der Sorbonne in Paris einen Vortrag. „Was ist eine Nation?“, fragt Ernest Renan, dessen Forschungsgebiet nationale Identitäten sind, und unterzieht im Weiteren die vier vermeintlichen Wesensmerkmale einer Nation – Rasse, Sprache, Religion, Geografie – einer kritischen Prüfung. Nationen sind, so darf man Ernest Renan verstehen, in der Geschichte etwas ziemlich Neues: „Das Vergessen – ich möchte fast sagen: der historische Irrtum – spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle, die Vereinigung vollzieht sich immer auf brutale Weise.“ Christian Schüle erklärt: „Über Jahrhunderte hinweg war es üblich, dass die Nation vor allem eine Dynastie war, die eine alte Eroberung repräsentiert, mit der die Masse der Bevölkerung sich zunächst abgefunden und die sie dann vergessen hat.“ Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Das Sicherheitsgefühl der Deutschen ist stark angeschlagen

Der islamistische Terror ist auch in Deutschland angekommen – nicht nur örtlich und politisch, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Seit dem Sommer 2016 vergeht kaum eine Woche ohne Nachrichten über aktuelle Terroranschläge oder Terrorwarnungen, auch in Deutschland. Die anhaltende Bedrohung hinterlässt Spuren bei der Bevölkerung. Jens Gnisa erklärt: „Das Sicherheitsgefühl der Deutschen ist stark angeschlagen. Die Furcht vor islamischem Terror steigt nach einer Erhebung im Roland Rechtsreport (2017) stetig.“ Das ist nicht nur irgendeine abstrakte Einschätzung. Die Menschen beziehen die Gefahr auf sich persönlich und fühlen sich unmittelbar bedroht. Das beeinflusst auch ihr Verhalten: 45 Prozent sind in größeren Menschenansammlungen verunsichert. Jens Gnisa fordert, dass dies nicht so bleiben darf. Denn dann ginge die perfide Strategie der Terroristen auf, deren Ziel die Einschüchterung der Bevölkerung ist. Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes.

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Die Globalisierung ist weit vielfältiger als sie wahrgenommen wird

Die derzeitige Globalisierung ist weit vielfältiger, als sie üblicherweise wahrgenommen wird. Im Gegensatz zur verbreiteten ökonomistischen Verkürzung findet sie nämlich in drei Dimensionen statt, die Otfried Höffe als „globale Gewaltgemeinschaft“, als „globale Kooperationsgemeinschaft“ und als „globale Schicksalsgemeinschaft von Not und Leid“ bezeichnet. Längst lebt die Menschheit in einer Welt, in der das Netz wirtschaftlicher und sozialer, technischer und ökologischer, wissenschaftlicher und kultureller, nicht zuletzt rechtsmoralischer Kooperation immer enger geknüpft ist. Otfried Höffe ergänzt: „Leider trifft das auch auf das Netz krimineller und anderer Bedrohungen zu. In all diesen Bereichen taucht ein globaler Handlungsbedarf auf.“ Als Bespiele nennt Otfried Höffe den Umwelt- und Klimaschutz sowie den Kampf gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Es gibt immer mehr Grauzonen des Rechts

Eine Mehrheit der Deutschen, 62 Prozent, glaubt, dass die Menschen vor dem Gesetz nicht gleich sind, sondern es zum Bespiel von einem teuren Anwalt abhängt, ob man Recht bekommt. Jens Gnisa ergänzt: „Immer noch 57 Prozent gehen davon aus, dass der Ausgang eines Gerichtsverfahrens vor allem durch den Richter und nicht die Gesetze bestimmt wird.“ Fast zwei Drittel der Bevölkerung hält die Gerichte für überlastet, und ein noch größerer Anteil wünscht sich schnellere Prozessabläufe. Jens Gnisa gibt zu, dass es in der Tat immer mehr Grauzonen des Rechts gibt, die Raum für Interpretation in alle Richtungen lassen. Die aktuellen Ursachen dafür liegen vor allem in dem Verlust der inneren Sicherheit, der den Bürgern intuitiv immer deutlicher bewusst wird. Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes.

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Noch nie gab es so wenig Gewalt wie heute

In seinem Buch „Die Naturgeschichte der menschlichen Moral“ verteidigt Michael Tomasello, Direktor des Leipziger Mex-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, das Mitgefühl als Strategie eigennütziger Interessen. Zudem weist er auf die Tatsache hin, dass sich die Entwicklung der Moral, die das Wohl der Allgemeinheit über den kurzfristigen Lustgewinn des Einzelnen stellt, als gut für die Menschheit und gut für das Individuum herausgestellt hat. Simon Hadler zitiert Steven Pinker, der in seinem Buch „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ folgende These eindrucksvoll darlegt: „Die Gewalt wird historisch gesehen immer wenige, ausgehend von den Jäger- und Sammlergesellschaften über Antike und Mittelalter und quer durch das 20. Jahrhundert bis zur heutigen Zeit, dem Terrorismus und den Kriegen zum Trotz. Noch nie gab es so wenig Gewalt.“ Simon Hadler ist seit 1999 Redakteur bei ORF.at, seit 2009 leitender Kulturredakteur.

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In Demokratien geht alle politische Gewalt vom Bürger aus

Lange Zeit befasste sich die Politische Philosophie vornehmlich mit sozialen Institutionen und Systemen. Otfriede Höffe ergänzt: „Die Politik erschien dabei als eine Auseinandersetzung mit Interessen und um Macht.“ Vernachlässigt wurden die Subjekte, von denen in Demokratien doch alle politische Gewalt ausgeht. Dieser Vernachlässigung steuert das Thema Bürgeridentität entgegen. Das entscheidende Objekt, den Bürger, darf man allerdings weder auf den Bürger im engeren Sinn, den Staatsbürger, verkürzen, noch bei diesem die Bürgertugenden vergessen. Die Bürgertugenden tragen als Rechtssinn, Gerechtigkeitssinn und Gemeinsinn zum Wohlergehen der Demokratie bei. Deshalb gehören sie zum Kern eines aufgeklärten Liberalismus. Neben dem Staatsbürger, dem Citoyen, dem Bourgeois und dem Gemeinschaftsbürger, gibt es mindestens noch als vierte Person den Kultur- und Bildungsbürger. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Ab 1860 prägten die Liberalen die Entwicklung Wiens

Die österreichische Hauptstadt Wien war im Jahr 1860 eine aufblühende Stadt, das schnell gewachsene Zentrum einer Vielvölkermonarchie mit moderner Architektur und vielfältigem Kulturleben. Peter-André Alt erläutert: „Wirtschaftliche Macht, technischer Fortschritt und eine euphorische Gründerstimmung zogen Menschen aus allen Teilen des großen Kaiserreichs an.“ Die äußerliche Situation, die von Dynamik und Aufbruchswillen zeugte, verbarg jedoch, dass das Kaiserreich eine krisenhafte Phase durchlief. Seit Dezember 1848 regierte Franz Joseph I. im Zeichen eines Neoabsolutismus, der jegliche parlamentarische Kontrolle ausschloss und die Errungenschaften der Märzrevolution kassierte. Der Deutsche Bund gegen Preußen verkörperte eine immer instabilere Allianz, die 1866 aufgelöst wurde. Außenpolitisch war Österreich in den 1860er Jahren an die Grenzen seiner Expansionsfähigkeit gelangt. Peter-André Alt ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin.

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Für die Meinungsfreiheit gibt es einige zentrale Begründungen

Dass die meisten Staaten auf der Welt internationale Abkommen ratifiziert haben, die unter anderem das Recht auf freie Meinungsäußerung festschreiben, und dass sie in ihren Verfassungen ein solches Recht garantieren, ist für Timothy Garton Ash keine Antwort auf die Frage, warum es überhaupt Meinungsfreiheit geben sollte. Man braucht Argumente, die solche Abkommen, Gesetze und politische Maßnahmen entweder rechtfertigen oder in Frage stellen. Timothy Garton Ash erklärt: „In der westlichen Denktradition gibt es für die Meinungsfreiheit vier zentrale Begründungen, jede in mannigfaltigen philosophischen, literarischen oder juristischen Ausführungen, aber mit bemerkenswert beständigen Grundgedanken. Ich verwende für sie die Abkürzung SWSV: Selbst, Wahrheit, Staatsführung, Vielfalt. Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

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Eine Demokratie kann ohne freie Presse nicht überleben

Der Begriff „Meinungsfreiheit“ ruft bei Timothy Garton Ash sofort zwei Assoziationen hervor: „Eine freie Presse in einem freien Land und Journalisten, die in unfreien Ländern mit staatlicher Zensur zu kämpfen haben.“ Vom 17. Jahrhundert bis in unser eigenes ist der Kampf für die Pressefreiheit eines der wichtigsten Elemente im Kampf um die freie Meinungsäußerung. In einem Brief aus dem Jahr 1787 schrieb Thomas Jefferson: „Wenn ich die Wahl hätte zwischen einer Regierung ohne Zeitungen und Zeitungen ohne Regierung, würde ich, ohne einen Moment zu zögern, letzteres vorziehen.“ Eine freie Presse ist ein bestimmendes Merkmal eines freien Landes, und Zensur ist ein bestimmendes Merkmal einer Diktatur. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Die Ungleichheit in Deutschland hat zugenommen

Deutschland ist ein gespaltenes Land geworden. Während die Reichen immer reicher werden, stagnieren die Einkommen der unteren Hälfte. Die Mittelschicht schrumpft, der Aufstieg ist schwieriger geworden. Und die breite Masse der deutschen Bevölkerung verfügt über keine nennenswerten Ersparnisse. Alexander Hagelüken weiß: „Zwei Drittel der deutschen Ökonomen konzedieren, dass die Ungleichheit zugenommen hat.“ In vielen Industriestaaten hat jene Hälfte der Gesellschaft, die nur einen Bruchteil des Vermögens besitzt, kaum vom Wachstum profitiert, kritisiert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): „Wenn so etwas passiert, zerfasert das soziale Gefüge.“ Es ist Zeit für die etablierten politischen Parteien, in Deutschland einen neuen Gesellschaftsvertrag zu verankern, der den wirtschaftlichen Erfolg besser aufteilt. Alexander Hagelüken ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig.

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Zensur zielt auf die Kontrolle der Kommunikation ab

Zensur ist ein elementarer und in der Theorie noch nicht hinreichend präzise bestimmter Sachverhalt in der Geschichte der Kommunikation. Das 18. Jahrhundert war für die Ausbildung der Praktiken der Zensur und ihrer Erörterungen eine bedeutsame Epoche. Zensur erfordert bei ihrer Erforschung Interdisziplinarität und Transnationalität. Sie lässt sich kaum auf bestimmte Jahrhunderte beschränken und ist g, geprägt von der Fülle des zumeist ungedruckten, in Archiven überlieferten Materials und von der Vielzahl der Systemkomponenten. Der Gegenstand der Zensur ist äußerst komplex. Der Begriff „Zensur“ wird auf der einen Seite angebunden an rechtliche Verfahren und Institutionen, also an das jeweilige Rechtssystem; auf der anderen Seite wird er, unterbestimmt, benutz als Synonym für eine gesamtgesellschaftlich, also sozial, politisch, religiös und kulturell vermittelte Kontrolle der Normen und Kommunikation von Rede, Schrift und Bild.

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Fremde werden zum Sündenbock der Globalisierung gemacht

Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem System prägt viele Wähler der AfD. In der Regel haben sie gar keine negativen Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht. Die AfD schnitt bei Landtagswahlen besonders erfolgreich in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ab, wo es besonders wenige Fremde und Flüchtlinge gibt. Noch etwas gibt es hier besonders wenig: Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze. Alexander Hagelüken erklärt: „Flüchtlinge lassen sich leichter zum Feindbild machen als abstrakte, anonyme Gewalten wie Globalisierung oder Technologie, die das Leben der Unzufriedenen viel stärker durchschütteln als die Migranten.“ Migranten haben ein Gesicht, sie sind optisch und kulturell von den Deutschen abgrenzbar. Der frühere Weltbank-Ökonom Branko Milanović doziert: „Der Frust über die eigene wirtschaftliche Situation kann einfach in nationalistische Gefühle umgemünzt werden.“ Alexander Hagelüken ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig.

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Die Normen einer Gesellschaft muss man immer wieder infrage stellen

Die Normen einer Gesellschaft und einer Kultur ändern sich mit der Zeit. Man muss sie immer wieder infrage stellen. Timothy Garton Ash erklärt: „Darum geht es bei der Redefreiheit: dass man die normative Kraft des Faktischen nicht ohne weiteres akzeptiert.“ Wenn man Probleme, die real sind oder von vielen für real gehalten werden, in der Öffentlichkeit und vor allem in der Berichterstattung nicht anspricht, etwa im Zusammenhang mit Einwanderern, dann bricht plötzlich etwas hervor – explosionsartig, wie zum Beispiel in Form dieses wirklich schlechten und giftigen Buchs „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin. Es wäre viel besser gewesen, diese schwierigen Themen viel früher anzusprechen, aber eben auf der Basis von Tatsachen und mit der Haltung robuster Zivilcourage. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Die Flüchtlingskrise in Europa ist noch lange nicht beendet

Deutschland und die Europäische Union (EU) haben sich in dem kurzen Zeitraum von 2012 bis 2015 einen kapitalen Fehler geleistet; vielleicht war es sogar ein Fehler von säkularer Fernwirkung. Hans-Peter Schwarz erklärt: „Als die Zahl der Flüchtlinge aus Afrika und aus dem muslimischen Krisenbogen von der Türkei bis Pakistan urplötzlich in die Millionen ging, haben sie das viel zu lange allein als humanitäre Herausforderung verstanden.“ Tatsächlich wurde dadurch eine Völkerwanderung nach Europa wenn nicht in Gang gesetzt, so doch gefährlich verstärkt. Von nun an wissen viele Millionen, die auf der Flucht sind oder in fernen Flüchtlingslagern und anderswo in der eigenen Region Schutz gefunden haben, dass Europa ein erstrebenswertes Migrationsziel ist, mag der Weg dorthin auch beschwerlich, ja lebensgefährlich sein. Hans-Peter Schwarz zählt zu den angesehensten Politologen und Zeithistorikern in Deutschland.

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