Deutschland ist nicht „überschuldet“

Finanzielles Sparen ist die Kehrseite von Verschuldung. Marcel Fratzscher erklärt: „Als Individuum kann ich nur dann finanziell sparen, wenn jemand anders gewillt ist, dieses Geld anzunehmen, also direkt oder indirekt mir gegenüber in die Schuld zu gehen.“ Deshalb muss jeder Sparer wollen, dass es ausreichend Schuldner gibt, welche die Ersparnisse nutzen und verlässlich in der Zukunft zurückzahlen können. Je mehr Schuldner und je größer die Nachfrage nach Ersparnissen, desto höher kann auch der Zins sein, also desto lohnender das Sparen. In Einzelfällen mag Überschuldung existieren, in der Gesamtheit kann es sie jedoch nicht geben. Oft wird davon gesprochen, dass Deutschland „überschuldet“ sei. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Den größten Teil der Schulden Deutschlands halten die Bürger

In den meisten Fällen ist es jedoch so, dass die Regierung, also der Staat, hohe Schulden angehäuft hat – häufig aus guten, manchmal aus weniger guten Gründen. Das bedeutet jedoch gleichzeig, dass andere, meist Bürger desselben Landes, diese Ersparnisse und Forderungen gegenüber ihrem Staat haben. Marcel Fratzscher fügt hinzu: „In der Tat können ganze Gesellschaften überschuldet sein. Das ist dann der Fall, wenn die Summe der Verschuldung von Staat, Unternehmen und Bürgern größer ist als die finanziellen Ersparnisse.“

Es gibt jedoch kaum ein Land auf der Welt, das höhere Nettoersparnisse hat – also finanzielle Ersparnisse abzüglich von Schulden – als Deutschland. Den größten Teil der Schulden des deutschen Staates halten also die Bürger. Marcel Fratzscher weiß: „Vor allem aber halten Staat, Unternehmen und Bürger in Deutschland gigantische Nettoforderungen von weit mehr als 2500 Milliarden Euro gegenüber dem Rest der Welt.“ Das sind im Durchschnitt mehr als 30.000 Euro pro Kopf oder mehr als 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung.

Schulden sind nicht unbedingt ein Nullsummenspiel

Marcel Fratzscher betont: „Deutschland ist also nicht überschuldet, sondern hat fast unvorstellbar große Nettoforderungen gegenüber Menschen und Unternehmen im Rest der Welt.“ Schulden sind nicht unbedingt ein Nullsummenspiel. Zu häufig wird im öffentlichen Dialog fälschlich suggeriert, der Gewinn an Wohlstand durch eine Verschuldung sei gleichzusetzen mit der Verringerung des Wohlstands in der Zukunft, wenn die Schulden zurückgezahlt werden müssen. Dem ist aber häufig nicht so.

Ob 150.000 Euro Schulden eines Einzelnen nun gut oder schlecht sind, lässt sich erst einmal überhaupt nicht sagen. Marcel Fratzscher erläutert: „Jeder von uns würde wohl fragen, wofür sie oder er das Geld verwendet hat. Wenn es für den Konsum, also für große Reisen und einen teuren Lebensstil genutzt wurde, dann fällt die Bewertung dieser Verschuldung auch objektiv anders aus, als wenn das Geld als Hypothek für eine eigene Wohnung ausgegeben wurde, die seit dem Kauf möglicherweise um 20 Prozent an Wert gewonnen hat.“ Quelle: „Geld oder Leben“ von Marcel Fratzscher

Von Hans Klumbies

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