Demokratie ist undenkbar ohne politische Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Der Wert dieser Rechte erhöht sich entscheidend, wenn Organisationen ihren Gebrauch erleichtern. Dabei handelt es sich um „vermittelnde Institutionen“. Offensichtlich vermögen Vereinigungen, politische Parteien und die sogenannten alten Medien wahre Wunder zu wirken, wenn es darum geht, eine Botschaft zu vervielfältigen. Jan-Werner Müller weiß: „Politische Gleichheit lässt sich am besten begreifen als Gleichheit der Chancen auf politische Partizipation. Konkret setzt das einen einigermaßen leichten Zugang zu intermediären Mächten voraus sowie nicht völlig illusorische Möglichkeiten, neue Instanzen dieser Art zu schaffen.“ Die Öffentlichkeit ist ein niemals endender Film, kein Schnappschuss, oder eher noch eine Vielzahl gleichzeig laufender Filme und Plots. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.
Parteien
Parteien und Medien bilden Systeme
Vermittelnde Institutionen erfüllen ihre Aufgaben nicht automatisch von selbst, und offensichtlich operieren sie nicht im luftleeren Raum. Jan-Werner Müller erläutert: „Sie sind vielmehr Teil von Systemen: Parteien bilden Parteiensysteme, Medien bilden Mediensysteme. Deren Struktur kann sich von Land zu Land beträchtlich unterscheiden.“ Welche Art von System jeweils entsteht, hänge ganz wesentlich von dem ab, was der US-amerikanische Soziologe Paul Starr „konstitutive Entscheidungen“ genannt hat. Das lässt sich gut am Beispiel von Parteien nachvollziehen. In den USA einigte man sich 1842 auf das Prinzip der Mehrheitswahl. Das soll heißen: Der Gewinner bekommt alles, der Verlierer nichts.“ In Verbindung mit der Direktwahl des Präsidenten machte diese Entscheidung die Entstehung eines Zweiparteiensystems so gut wie unvermeidlich. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.
Parteien und Medien sollten weithin zugänglich sein
Wie sollten intermediäre Institutionen, insbesondere Parteien und Medien, also idealerweise beschaffen sein, um ihre Funktionen für die Demokratie zu erfüllen? Jan-Werner Müller antwortet: „Sie sollten weithin zugänglich sein, und der Zugang darf nicht zu einem Privileg für ohnehin Bessergestellte werden. Sie sollten auf Fakten basieren, selbst wenn Fakten, wie Hannah Arendt bemerkte, stets fragil sind.“ Außerdem sollten sie autonom sein – das heißt, nicht auf korrupte Weise von mehr oder weniger verborgenen Akteuren abhängen. Sie müssen für alle Bürger relativ klar einzuschätzen sein, sodass sie von ihnen auch zur Rechenschaft gezogen werden können. Wie leicht sollte es beispielsweise sein, eine politische Partei zu gründen? Viele Länder verlangen eine Mindestzahl an Mitgliedern und den Nachweis einer ernsthaften Absicht, sich an Wahlen zu beteiligen. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.
Politische Wahlen müssen ungewiss sein
Eine gute ausbalancierte repräsentative Demokratie benötigt mehrere Dinge. Jan-Werner Müller betont: „Nach einer Niederlage sollte es eine realistische Chance gegen, dass unsere Seite später auch wieder gewinnen kann. Wir müssen sicher sein können, dass dies zumindest eine Möglichkeit ist. Denn anderenfalls stellt sich die Frage, warum wir das Spiel nicht gleich ganz verlassen sollten.“ Wenn man jedoch stets sicher ist, das Spiel zu gewinnen, mag das einem zwar ganz lieb sein, aber Beobachter könnten zu Recht den Verdacht haben, dass es mit der Demokratie eigentlich vorbei ist. Deshalb definiert der Politologe Adam Przeworski Demokratie als eine Form „institutionalisierter Ungewissheit“. Diese sperrige Formulierung enthält eine profunde Erkenntnis: Politische Ergebnisse – insbesondere Wahlen – müssen auf eine spezifische Weise ungewiss sein. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.
Das Leben in den USA ist von Unzufriedenheit geprägt
Turbulente Zeiten veranlassen viele Menschen, die Ideale abzurufen, nach denen sie leben. Doch im heutigen Amerika ist das nicht so einfach. Michael J. Sandel erläutert: „In einer Zeit, in der demokratische Ideale in anderen Ländern wanken, kann man sich aus gutem Grund fragen, ob wir sie zu Hause verloren haben. Unser öffentliches Leben ist von Unzufriedenheit geprägt.“ Die Amerikaner glauben nicht, dass sie bei der Art, in der sie regiert werden, viel mitzureden hätten. Außerdem trauen sie der Regierung nicht zu, dass sie das Richtige tut. Inzwischen sind die politischen Parteien unfähig, den aktuellen Verhältnissen einen Sinn zu geben. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.
Die Wähler könnten mehrheitlich blöde sein
Nach jeder Wahl rühmen Politiker den Souverän ob seiner weisen Entscheidung. Das gehört sich natürlich so. Ob es den Tatsachen entspricht, ist eine andere Frage. Cora Stephan stellt fest: „Wahlkampagnen jedenfalls lassen, woraus man aus Form und Inhalt schließen kann, keine große Wertschätzung des Souveräns erkennen. Wir wissen nicht, ob der Wähler mehrheitlich blöde ist.“ Politiker indes halten ihn offenbar dafür – worin sie sich mit jenen einig wären, die deutsche Fernsehprogramme verantworten. Was aber, wenn beide recht hätten? Während man in einer behüteten Gesellschaft für vieles ein amtliches Zertifikat braucht, den Waffenschein, die Hundemarke, den Führerschein, darf man ungleich folgenschwerere Tätigkeiten völlig ungeprüft ausüben. Zum Wählen muss man lediglich 18 sein. Zum Kinderkriegen noch nicht einmal das. Dr. Cora Stephan ist Buchautorin, Kolumnistin und Essayistin.
Rechte Parteien verbrüdern sich
Bis vor Kurzem arbeiteten die Führungen der nationalistischen und identitäre Parteien Europas kaum zusammen. Anders als die Christdemokraten und Konservativen, die mit ihrer Zusammenarbeit die Europäische Union schufen, sind die nationalistischen Parteien in ihrer jeweils eigenen Geschichte verwurzelt. Anne Applebaum weiß: „Die französischen Rechte hat ihre fernen Ursprünge im Vichy-Regime. Die nationalistische Rechte Italiens stand lange unter dem Einfluss der geistigen Erben von Benito Mussolini.“ Darunter befand sich auch die Enkelin des Diktators. Die polnische PiS begründet sich im Flugzeugabsturz von Smolensk und ihrem eigenen historischen Wahn. Versuche der Verbrüderung scheiterten oft an alten Streitfragen. Die Beziehung zwischen der italienischen und der österreichischen Rechten ging in die Brüche, als die Rede auf die Zugehörigkeit von Südtirol kam, das früher österreichisch war. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.
Der Bürger muss dem Staat vertrauen können
Dass Staaten stark von ökonomischen Interessen dominiert werden, ist kein neues Phänomen. Im England des späten 18. Jahrhunderts bis tief ins 19. Jahrhundert war dies nicht anders. Richard David Precht stellt fest: „Neu ist allerdings, dass die mit Abstand mächtigsten Großunternehmen keine nationalen Unternehmen mehr sind.“ In einer solchen Lage stellt sich die Frage nach dem Staat und den Bürgern anders als in den vergangenen Jahrzehnten. Was halten sie in Zukunft zusammen? Wie achtet der Bürger den Staat? Und wie schützt der Staat den Bürger? Die Fragen bedingen einander, denn das entscheidende Wort heißt „Vertrauen“. Vertrauen die Menschen dem Staat, dass er sie vor skrupellosen Geschäftsinteressen schützt?“ Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Der Markt regelt Angebot und Nachfrage
Nicht nur Wirtschaftstheoretiker, sondern auch Philosophen setzen sich für den Wettbewerb ein. In der Neuzeit etwa von Montesquieu über David Hume und Condorcet bis Immanuel Kant. Montesquieu spricht im „Esprit des Lois“ (Geist der Gesetze, 1748) von der zivilisierenden Kraft des „sanften Handels“. Denn dieser löst den Krieg der Leidenschaften durch den Kompromiss zwischen divergierenden Kräften ab. Otfried Höffe ergänzt: „Und nach Kant ist der Mensch dazu bestimmt, alle seine auf den Vernunftgebrauch abzielenden Naturanlagen vollständig zu entwickeln. Das geschieht wiederum außer durch gezielte Förderung mittels eines Wettbewerbs. Denn dieser erweckt „alle Kräfte des Menschen. Er bringt ihn dahin, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen“.“ Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.
Die Neue Rechte fordert die Altparteien heraus
Die Neue Rechte zieht Profit aus den Kalamitäten und Disparitäten, die jetzt die Gesellschaft kopfscheu machen. Roger de Weck erläutert: „Die Angstgesellschaft ist ihr Revier, von der Verunsicherung lebt sie. Sie nutzt und beschleunigt die Erosion der Glaubwürdigkeit traditioneller Parteien, die der Ultrakapitalismus zusehends überfordert.“ Ein Teil der Konzernwelt hat den Staat zur Flickbude degradiert, und die Regression der Politik zur Flickschusterei lädiert die Politiker. Umso leichter schleusen reaktionäre Parteien den Groll ihrer Klientele nur in die eine Richtung. Versagt haben einzig die Politik, die Demokratie, die Europäische Union – nie und nimmer das Wirtschaftssystem. Das Problem des Prekariats, das die Neue Rechte besonders umwirbt, sind nie Amazon und andere ausbeuterische Arbeitgeber, sondern die „Altparteien“. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.
Eine Demokratie lebt vor allem von seinen Bürgern
Demokratie ist, so schreibt Jan-Werner Müller in seinem neuen Buch „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit, nicht zuletzt auf funktionierende vermittelnde Institutionen angewiesen. Dazu zählen unabhängige Medien, die Öffentlichkeit schaffen und Parteien, die politische Konflikte auf demokratische Weise strukturieren. Eine Demokratie lebt aber vor allem von seinen Bürgern, die bereit sind, unbequem, ja sogar ungehorsam zu sein, um demokratische Prinzipien zu verteidigen. Jan-Werner Müller beantwortet zudem folgende Fragen: Was macht Demokratie eigentlich aus? Was soll Demokratie eigentlich sein und leisten? Bei der Beantwortung dieser Fragen wird man nicht weit kommen, wenn man nicht zunächst auf Grundprinzipien zurückgeht. In seinem Buch bietet Jan-Werner Müller dafür eine Route an. Dabei wäre es seiner Meinung nach falsch, jegliches Nachdenken über die Demokratie müsste sich heute als Antwort auf die neuen Autoritären verstehen. Jan-Werner Müller ist Roger Williams Straus Professor für Sozialwissenschaften an der Princeton University.
Die Demokratie ist in Gefahr
Die Demokratie durchlebt gefährliche Zeiten. Die Gefahr erkennt man in zunehmender Fremdenfeindlichkeit und wachsender öffentlicher Unterstützung für autokratische Gestalten. Diese testen die Grenzen demokratischer Normen aus. Das ist an sich schon beunruhigend. Michael J. Sandel warnt: „Ebenso alarmierend ist jedoch die Tatsache, dass Parteien und Politiker der Mitte kaum verstehen, welche Unzufriedenheit die Politik in aller Welt in Aufruhr versetzt.“ Manche prangern das Anschwellen des Populismus als wenig mehr denn eine rassistische, fremdenfeindliche Reaktion auf Immigranten und Multikulturalismus an. Ander betrachten ihn vorwiegend in ökonomischen Begriffen. Nämlich als Protest gegen den Verlust von Arbeitsplätzen, den der globale Handel und neue Technologien mit sich bringen. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph, der seit 1980 in Harvard lehrt. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.
Die SPD stirbt
Die SPD hat laut Michael Wolffsohn ihre historische Mission erfüllt. Deshalb stirbt sie ab. Denn ein verwirklichter und sich ständig weiter entwickelnder Wohlfahrtsstaat in nämlich in Deutschland sowie im politisch westlichen Europa gelebter Alltag. Zudem gehört er zur unumstrittenen Basis fast aller Parteien. Sogar der sozialpolitische Anspruch der Anti-System-Partei AfD und vergleichbarer Rechtspopulisten Europas ist nicht wirklich bestreitbar. Auch das ist für Michael Wolffsohn ein Grund, weswegen den sozialdemokratischen Parteien ihre traditionellen Wähler in Scharen davonlaufen. Seit jeher konzentrierte sich die Sozialdemokratie aufs materielle Wohl der Menschen. Das war sozusagen ihre politische DNA. Ihr Ursprung, Seinsgrund, Werden und Wachsen sowie das der Arbeiterbewegung insgesamt war das Elend der Arbeiterschaft. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.
Moralische Urteile drücken Wertungen aus
Bei moralischen Prinzipien geht es darum, Schaden zu vermeiden. Warum gilt: „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht stehlen“? Weil die Folge einen Schaden für jemanden darstellt: den Verlust des Lebens und des Besitzes. Philipp Hübl stellt fest: „Unsere moralischen Urteile drücken also Wertungen aus. Und unsere Emotionen in gewisser Weise auch.“ Eine Spielart der Angst ist die Hemmung, andere zu töten. Auf der Seite der Moral ist das Tötungsverbot für alle Menschen und Kulturen ein universelles Gesetz. Jedem ist klar, dass das Leben einen Wert darstellt und der Tod als Verkürzung des Lebens somit einen Schaden anrichtet. Die Stärke der Angst spielt also für die moralische Einschätzung eine nicht unbedeutende Rolle. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).
Rechtspopulisten stehen der Globalisierung feindlich gegenüber
Die AfD ist im Jahr 2020 in Deutschland die konsequenteste – und einzige – Partei, die der Globalisierung feindlich gegenübersteht. Herbert Renz-Polster fügt hinzu: „Und blickt man auf die Wirtschaftspolitik der neuen Rechten in den USA, so zeigen sich die Rechtspopulisten sogar als die einzigen erfolgreichen Globalisierungsgegner.“ Globalisierung und Rechtspopulismus, da scheint Feuer auf Wasser zu treffen. Der erste Grund dafür dürfte ein offensichtlicher sein: Der grenzüberschreitende Austausch von Ideen, Waren, Kapital und Dienstleistungen passt einfach nicht zu dem identitären Rückzugsprogramm der Rechtspopulisten – da hat man dann doch eher die eigene Volksgemeinschaft im Blick als den Abbau von Barrieren, die den weltweiten Handel behindern. Der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster hat die deutsche Erziehungsdebatte in den letzten Jahren wie kaum ein anderer geprägt.
Der Populismus macht sich zum Anwalt der Beleidigten
Der Populismus bezieht sich unter anderem auf die negativen Gefühle, die beim Brüchigwerden von Einbindungen freigesetzt werden. Er bezieht sich auf Kränkungserfahrungen. Isolde Charim erläutert: „Diese sind wesentlich an die Veränderungen gebunden, die mit der Pluralisierung der Gesellschaft einhergehen.“ Früher war der Anhänger des Populismus Teil der Gruppe, die fürs Ganze stand, er war Teil jener, die vorgaben, was Normalität ist. Und nun, zurückgeworfen auf seine Einzelheit, auf sein prekarisiertes Weniger-Ich, fühlt er sich nicht gehört, vergessen, unverstanden, ausgeschlossen, entmächtigt. Die Reaktion darauf ist das grundlegende Begehren nach Anerkennung. Es geht dabei nicht darum, ob der Populismus dieses Begehren erfüllt. Es geht auch nicht darum, ob diese Kränkung berechtigt ist. Es geht darum, dass der rechte Populismus genau hier einhakt – und sich zum Advokaten der Beleidigten macht. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.
Der Fundamentalist diskutiert nicht
Wer nicht integrieren kann, muss ausschließen. Wer zu keiner Weite gekommen ist, dem scheint das Enge natürlich. Wem die lustbetonte Vielfalt Unbehagen bereitet, der findet in strenger Einfalt Entlastung. Georg Milzner stellt fest: „Auf verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Sektoren lässt sich gegenwärtig wie in einigen Religionen dasselbe beobachten: die Hinwendung zum Fundamentalismus.“ Dieser Fundamentalismus hat spezifische Kennzeichen. Zum einen: Der Fundamentalismus diskutiert nicht. Oder zumindest nicht wirklich. Denn wenn zu einer Diskussion die Möglichkeit der Überzeugung durch das bessere Argument gehört, so merkt man im Gespräch mit dem Fundamentalisten, dass dies hier nicht gilt. Denn es sind seine Grundannahmen, die das Gespräch bestimmen. Grundannahmen, die nicht diskutierbar scheinen. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.
Die Politik der Gegenwart ist von Nationalismus und Wut geprägt
Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sucht in seinem neuen Buch „Identität“ nach den Gründen, warum sich immer mehr Menschen antidemokratischen Strömungen zuwenden und den Liberalismus ablehnen. Er zeigt, warum die Politik der Gegenwart von Nationalismus und Wut geprägt ist, welche Rolle linke und rechte Parteien bei dieser Entwicklung spielen, und was die Menschen tun können, um ihre gesellschaftliche Identität und damit die liberale Demokratie wieder zu beleben. Die Identitätspolitik ist kein nebensächliches Phänomen mehr, vielmehr ist sie zu einem Leitmotiv geworden, mit dem sich die meisten Vorgänge der globalen Politik erklären lassen. Wirtschaftliche Nöte sind Gefühlen von Ausgrenzung und dem Verlust der Identität gewichen. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.
Der Mittelschicht droht der soziale Abstieg
Fast alle Deutschen wünschen sich einen Platz in der Mittelschicht. Sie war und ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. In den 50er Jahren rief der Soziologe Helmut Schelsky die Bundesrepublik zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ aus. Alexander Hagelüken erläutert: „Das kennzeichnete eine Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen Kapitalisten und Arbeitern nicht mehr so groß waren wie in den 150 Jahren der Industrialisierung davor.“ Aufstieg war möglich, Arbeiter konnten als Facharbeiter einen Platz in der Mittelschicht ergattern. Dazu gehörte auf jeden Fall die Vorstellung, dass man besser leben würde als die eigenen Eltern. Und den eigenen Kindern sollte es noch besser gehen. Weil Aufstieg möglich war oder sogar wahrscheinlich, schuf dies eine nachhaltige Zufriedenheit mit dem Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland. Alexander Hagelüken ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig.
Die politischen Parteien sind in eine Krise geraten
Der Bürger, das war einmal der Angehörige eines definierten sozialen Standes mit bestimmten Interessen, Lebensformen und Werten, die sich in einer politischen Partei artikulierten und ausdrücken sollten. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Und der Bürger ist das Mitglied einer politischen Gemeinschaft, das je nach Lebenslage, Herkunft, Sozialisation und Perspektiven unterschiedliche, oft divergierende und rasch wechselnde Interessen, Präferenzen und Lebenskonzepte vertritt, die sich nur noch schwer im Angebot einer Partei fassen lassen und zu einer Fluktuation im Bekunden politischer Vorlieben führt.“ Traditionelle Weltanschauungsparteien mit starken Wurzeln in einer bestimmten sozialen Schicht werden mit den offenen und sich rasch wandelnden Konzepten einer Multioptionsgesellschaft konfrontiert. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.
Ohne Wohlstand funktioniert keine Demokratie
Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk sieht einen klaren Zusammenhang zwischen der Existenz von liberalen Demokratien und Wohlstand oder, genauer gesagt, steigendem Wohlstand. Philipp Blom ergänzt: „Tatsächlich gründen funktionierende Demokratien auf weit aufgefächerten Strukturen, auf Parlamenten, Gerichten, Schulen, Universitäten, Infrastruktur, Landesverteidigung.“ Ohne Wohlstand kann nichts von alledem gewährleistet werden. Gerade der strukturelle Zusammenbruch der westeuropäischen und US-amerikanischen Parteienlandschaft und die dort weit verbreitete Verbitterung zeigen, dass Wohlstand augenscheinlich nicht ausreicht. Denn trotz der immer weiter aufklaffenden Einkommensschere und der manifesten wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten sind die Gesellschaften der reichen Welt heute wohlhabender als je zuvor in ihrer Geschichte. Ein typischer amerikanischer oder europäischer Haushalt ist heute fünfmal so reich wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.
Die klassischen politischen Institutionen sind in Gefahr
Die Demokratie gibt es seit rund 2500 Jahren, aber in unterschiedlicher Gestalt. Von der überschaubaren Herrschaft der Bürger, wie sie die antike Polis zeitweilig bestimmte, über die römische res publica bis zu den neuzeitlichen Formen des Parlamentarismus wandelte sich die Gestalt einer Idee, die, und das scheint entscheidend, Politik als eine öffentliche, gemeinsame Angelegenheit und Herrschaft, als eine vom Volk legitimierte und kontrollierte Form der begrenzten Machtausübung verstanden hatte. Heute ist die Demokratie laut Konrad Paul Liessmann in Gefahr: „Wir beobachten nicht nur eine Erosion und Schwächung klassischer demokratischer Institutionen, sondern überhaupt die Verdrängung des Politischen durch die Interessen der Ökonomie.“ Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.
Der Nationalismus ist eine typische Ausformung des Populismus
Wo Autorität schwindet, tritt Macht an ihre Stelle. Die aktuelle politische Weltlage zeigt diese Gefahr anschaulich. Die Gefahr kommt aus verschiedenen Richtungen. Die politische Ordnung ist immer weniger demokratisch, besitzt kaum noch Autorität und regiert auf Basis von Macht – häufig genug ist das Ohnmacht, doch das ändert nichts daran. Paul Verhaeghe erklärt: „Die Wähler sehen das, interpretieren es jedoch zu Unrecht als ein Scheitern der Demokratie an sich.“ Das birgt das größte Risiko, das David Van Reybrouck sehr treffend als neue Epidemie beschrieben hat: DES, das demokratische Erschöpfungssyndrom. Der Bürger glaubt nicht mehr an Demokratie, er ist bereit für zwei „Lösungen“, die schlimmer sind als die Krankheit selbst. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.
Noch nie gab es so wenig Gewalt wie heute
In seinem Buch „Die Naturgeschichte der menschlichen Moral“ verteidigt Michael Tomasello, Direktor des Leipziger Mex-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, das Mitgefühl als Strategie eigennütziger Interessen. Zudem weist er auf die Tatsache hin, dass sich die Entwicklung der Moral, die das Wohl der Allgemeinheit über den kurzfristigen Lustgewinn des Einzelnen stellt, als gut für die Menschheit und gut für das Individuum herausgestellt hat. Simon Hadler zitiert Steven Pinker, der in seinem Buch „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ folgende These eindrucksvoll darlegt: „Die Gewalt wird historisch gesehen immer wenige, ausgehend von den Jäger- und Sammlergesellschaften über Antike und Mittelalter und quer durch das 20. Jahrhundert bis zur heutigen Zeit, dem Terrorismus und den Kriegen zum Trotz. Noch nie gab es so wenig Gewalt.“ Simon Hadler ist seit 1999 Redakteur bei ORF.at, seit 2009 leitender Kulturredakteur.
Die Ungleichheit in Deutschland hat zugenommen
Deutschland ist ein gespaltenes Land geworden. Während die Reichen immer reicher werden, stagnieren die Einkommen der unteren Hälfte. Die Mittelschicht schrumpft, der Aufstieg ist schwieriger geworden. Und die breite Masse der deutschen Bevölkerung verfügt über keine nennenswerten Ersparnisse. Alexander Hagelüken weiß: „Zwei Drittel der deutschen Ökonomen konzedieren, dass die Ungleichheit zugenommen hat.“ In vielen Industriestaaten hat jene Hälfte der Gesellschaft, die nur einen Bruchteil des Vermögens besitzt, kaum vom Wachstum profitiert, kritisiert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): „Wenn so etwas passiert, zerfasert das soziale Gefüge.“ Es ist Zeit für die etablierten politischen Parteien, in Deutschland einen neuen Gesellschaftsvertrag zu verankern, der den wirtschaftlichen Erfolg besser aufteilt. Alexander Hagelüken ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig.