Dass die meisten Staaten auf der Welt internationale Abkommen ratifiziert haben, die unter anderem das Recht auf freie Meinungsäußerung festschreiben, und dass sie in ihren Verfassungen ein solches Recht garantieren, ist für Timothy Garton Ash keine Antwort auf die Frage, warum es überhaupt Meinungsfreiheit geben sollte. Man braucht Argumente, die solche Abkommen, Gesetze und politische Maßnahmen entweder rechtfertigen oder in Frage stellen. Timothy Garton Ash erklärt: „In der westlichen Denktradition gibt es für die Meinungsfreiheit vier zentrale Begründungen, jede in mannigfaltigen philosophischen, literarischen oder juristischen Ausführungen, aber mit bemerkenswert beständigen Grundgedanken. Ich verwende für sie die Abkürzung SWSV: Selbst, Wahrheit, Staatsführung, Vielfalt. Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.
Nur durch die Meinungsfreiheit kann ein Mensch ganz er selbst sein
Die erste Begründung lautet, dass man die Meinungsfreiheit braucht, um sein individuelles Menschsein vollständig zu realisieren. Es ist die Gabe der Sprache, die den Menschen von den anderen Tieren und – bisher – von den Computern unterscheidet. Hindert man einen Menschen daran, sie frei zu gebrauchen, kann er nicht ganz und gar er selbst sein. Zu diesem Selbstsein gehört, dass man sich anderen offenbaren kann, wenn man das wünscht. Menschen brauchen das liberale Gut der freien Meinungsäußerung in der Kommunikation mit anderen, um ganz sie selbst sein zu können.
Auch eine philosophische Version der Begründung hat laut Timothy Garton Ash eine Erwähnung verdient: Thomas Scalon argumentiert mit der essenziellen Souveränität des Individuums für die Meinungsfreiheit. Damit sich Menschen als „gleichberechtigte, autonome, vernünftige Akteure“ betrachten können, schreibt er, müssen sie „in der Entscheidung, was sie glauben, und in der Abwägung konkurrierender Gründe zu handeln souverän sein“. Dabei muss man zwei Dinge gegeneinander abwägen: die Rechte des Sprechers und die Folgen für ihn und die Rechte des Hörers und die Folgen für ihn.
Die Meinungsfreiheit ist für eine gute Staatsführung notwenig
Das zweite klassische Argument für die Meinungsfreiheit lautet: diese versetzt einen Menschen in die Lage, die Wahrheit zu finden – oder wenigstens nach der Wahrheit zu suchen. John Stuart Mill spricht sich mit dem Argument gegen ein Zensur aus, eine unterdrückte Meinung könne sich als wahr erweisen, und selbst wenn sie nicht ganz wahr sei, könne sie doch einen wahren Kern haben. Ein drittes klassisches Argument für die Meinungsfreiheit lautet, sie sei für eine gute Staatsführung notwenig.
Die Innovation der Redefreiheit, die die alten Griechen für die liberative Demokratie einführten, um fasst nicht nur ein Ideal, sondern zwei Ideale: parrhesia und isegoria. Parrhesie bedeutet sowohl freie als auch furchtlose Rede. Genauso wichtig war die Isegorie, die „Redegerechtigkeit“, die man in der modernen Rechtssprache als „gleiches Rederecht“ bezeichnet. Die vierte Begründung für die Meinungsfreiheit ist besonders wichtig für die in der Entstehung begriffene Kosmopolis. Die Meinungsfreiheit, so das Argument, erleichtert es mit der Vielfalt zu leben. Quelle: „Redefreiheit“ von Timothy Garton Ash
Von Hans Klumbies