Noch ehe die Berliner Mauer gefallen war, publizierte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Sommer 1989 in der Zeitschrift „The National Interest“ einen Aufsatz, der mit einer spektakulären These aufwartet: Die Geschichte ist an ihr Ende gelangt – wiewohl es weiterhin politische Ereignisse geben wird. Stefan Weidner zitiert Francis Fukuyama: „Die durch den absehbaren Zusammenbruch des Ostblocks symbolisierte weltanschauliche Klärung, gleichzusetzen mit dem Triumpf des Westens, der westlichen Idee, bedeutete den Endpunkt der ideologischen Evolution des Menschen und die Universalisierung der liberalen Demokratie des Westens als der endgültigen Gestalt menschlicher Regierung.“ Freilich vollzieht sich das Ende der Geschichte nur in der Vorstellung: „Der Sieg des Liberalismus hat sich vorrangig auf dem Gebiet der Ideen und des Bewusstseins ereignet. In der materillen Welt ist er noch unvollständig.“ Stefan Weidner studierte Islamwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn.
Die liberale Demokratie ist nach wie vor die mächtigste politische Idee
Mehr als ein Vierteljahrhundert später weiß man, dass die Geschichte mit großen Schritten weitergelaufen ist und die liberalen Demokratien, als deren Sprecher und Ideologe sich Francis Fukuyama verstand, neue ebenso wie altbekannte ideologische Konkurrenz bekommen haben. In einem Punkt jedoch scheint Francis Fukuyama nicht ganz falsch gelegen zu haben. Zwar ist die liberale Demokratie weltweit betrachtet so „incomplete“ wie im Jahr 1989. Auf dem Gebiet der Vorstellungen und des Bewusstseins hingegen, das heißt als Ideologie, stellt sie nach wie vor die mächtigste politische Idee dar.
Selbst die neuen rechten und linken Bewegungen in Europa berufen sich auf die liberale Demokratie und preisen ihre Politik oft sogar als Schutz der bestehenden Ordnung an, etwa vor der Bedrohung westlicher Werte durch den Islam, westlicher Standards durch die Globalisierung oder der Demokratie durch die EU-Bürokratie in Brüssel. Auch beim Liberalismus des Westens handelt es sich um eine Ideologie wie Francis Fukuyama in seinem Aufsatz unverhohlen selbst sagt. In Francis Fukuyamas drei Jahre nach dem Aufsatz erschienen Buch „The End of History And the Last Man“ wird die These vom Ende der Geschichte geschichtsphilosophisch näher begründet.
Der Liberalismus hat als einziger die Crashtests der Geschichte bestanden
Mit Verweisen auf Platon, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Nietzsche konstatiert Francis Fukuyama, dass die politische Ordnung der liberalen Demokratie deshalb den Sieg über andere davongetragen hat, weil das ihr zugrunde liegende Menschenbild der menschlichen Natur am besten entspreche. Als ein Weltbild, dessen Realismus und evolutionäre Überlegenheit durch den Berliner Mauerfall symbolisch bestätigt wurde, ist der Liberalismus keine Ideologie wie alle anderen. Er ist vielmehr diejenige, die als einzige die Crashtests der Geschichte bestanden hat.
Mit der Verknüpfung von Liberalismus und ideologischer Evolution schreibt sich Francis Fukuyama in ein politisches Narrativ ein, das in der Vorstellung besteht, die Geschichte laufe auf ein Ziel zu und sei die Bühne beziehungsweise der Ort, wo die Wahrheit als Wahrheit erscheint. Er beruft sich dabei auf die Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels, der solche Vorstellungen entscheidend geprägt hat. Wobei es den liberalen, kapitalistischen Demokratien des Westens am besten gelungen sei, Vernunft und Begehren zu vereinbaren. Quelle: „Jenseits des Westens“ von Stefan Weidner
Von Hans Klumbies