Deutschland war einst eine „Kulturnation“

Thea Dorn beschäftigt das gemeinsame Erbe der „Reue“, das der Nationalsozialismus und der Holocaust den Deutschen hinterlassen haben. Sie geht der Frage nach, worin das gemeinsame Erbe des „Ruhms“ für die Deutschen liegen könnte. Herfried Münkler hat sich in seinem Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“ ausführlich mit dem schwierigen Thema befasst. Bei sämtlichen Mythen kommt er zu dem Ergebnis, dass sie für Zwecke der heutigen deutschen Selbstverständigung nicht mehr zu brauchen sind. Der aus Thea Dorns Sicht wichtigste und fruchtbarste Mythos der deutschen Geschichte war der, eine „Kulturnation“ zu sein. Unter Kultur versteht sie sie in engem Sinne das Musische, das Geistige und das Künstlerische. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Die Freiheit ermöglicht ein menschenwürdiges Leben

Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler meint in ihrem Editorial, dass die Titelfrage des neuen Philosophe Magazins 06/2021 provokant sei. Sie lautet: „Muss die Freiheit sterben, damit wir leben können?“ Denn immerhin hat die philosophische Strömung des Liberalismus vollkommen zur Recht darauf gepocht, dass gerade die Freiheit es ist, die Leben – wahres, menschenwürdiges Leben – überhaupt erst ermöglicht. Viele Menschen betrachten die Selbstbestimmung als den Kern der Freiheit. Freiheit ist das Gegenteil von Zwang. Ein freier Mensch verfügt über sich und entscheidet selbst. Er ordnet sich nicht unter, sondern gibt sich selbst ein Gesetz. Die Freiheit muss verteidigt werden. Darin sind sich Aufklärer wie Immanuel Kant, Liberale wie John Stuart Mill und Individualisten wie Friedrich Nietzsche einig. Die Freiheit muss geschützt werden vor der Macht des Staates, vor der herrschenden Moral und vor dem Druck der Mehrheit.

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Der Wert des Eigenen gründet in der Homogenität

Wer seine Heimat, sein Land, seine Herkunft, für die beste der Welt hält, verschafft sich das Wohlgefühl einer Selbstbeheimatung, liefert andererseits aber auch einen Schlachtruf für die Maßgeblichkeit des Eigenen gegenüber dem Fremden, die durch nichts weiter als die subjektive Sehnsucht nach Großartigkeit gerechtfertigt ist. Christian Schüle fügt hinzu: „Als Einfallstor für Missverständnis und Missbrauch ist die Stilisierung der Heimatscholle als Faktor einer positiv konstruierten Identität immer in Gefahr der Abwertung.“ Der Wert, den man dem Eigenen zuspricht, gründet in der Homogenität: der durch keine Fremdheit kontaminierten Reinheit. Das Biotop wird zum Soziotop erklärt, und alles, was dieses als heimisch deklarierte Soziotop bedroht, wird dann „berechtigterweise“ abgelehnt. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Macht steckt in allen Handlungen des Alltags

Die Sozialpsychologen haben des Entstehen von Macht häufig auf der Basis des Paradigmas der „führerlosen Gruppendiskussion“ untersucht: Man bringt eine Gruppe Fremder zusammen und bittet sie, ein Problem gemeinsam zu lösen. Es werden dabei keine Rollen zugewiesen, es gibt also auch weder Führer noch Anweisungen noch Hilfestellungen. Dacher Keltner erklärt: „Während der Entscheidungsfindung erlangen einige der Teilnehmer sehr schnell Macht. Einige Teilnehmer bilden rasch Verhaltensmuster heraus, die Einfluss signalisieren und auch so interpretiert werden.“ Das Gleiche gilt auch für die Interaktion von Kindern. Wie Untersuchungen der „führerlosen Gruppendiskussionen“ zeigen, taucht die Macht immer sehr schnell auf. Die Menschen gewinnen sie als das Ergebnis oft unscheinbarer, alltäglicher Verhaltensweisen. Dacher Keltner ist Professor für Psychologie an der University of California in Berkeley und Fakultätsdirektor des UC Berkeley Greater Good Science Center.

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Philosophieren war für Hannah Arendt ein Dienst an der Demokratie

Das Philosophie Magazin hat seine neue Sonderausgabe der deutschen Philosophin Hannah Arendt gewidmet, deren Themen von bleibender Aktualität sind: die Ursprünge politischer Gewalt, die Unbegreiflichkeit des Bösen, die Menschenrechte von politisch Verfolgten und Flüchtlingen sowie den Sinn der Arbeit. Hannah Arendt vertrat leidenschaftlich die Überzeugung, dass ein vernünftiger Streit von zentraler Bedeutung für die Demokratie ist. Im öffentlichen Engagement sah sie geradezu eine staatsbürgerliche Pflicht. Philosophieren hieß für Hannah Arendt immer öffentliches Nachdenken im Dienste der Demokratie. Gleich zu Beginn des Sonderheftes erfährt der Leser alles über die wichtigsten Lebensstationen der streitbaren Philosophin. Anschließend folgt ein Ausschnitt aus dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964. Im Gespräch sagte sie, dass sich nicht in den Kreis der Philosophen gehöre, sondern ihr Beruf die politische Theorie sei.

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Viele Menschen wissen nicht um den Schmutz in ihrer Seele

Rotraud A. Perner kritisiert, dass leider die meisten Menschen auf die reinigende Kraft der Schuldverschiebung vertrauen. Der Psychologe Thomas Kornbichler mahnt: „Viele wissen nicht um den Schmutz in der eigenen Seele und projizieren ihn deshalb fanatisch auf ihre Feindobjekte.“ Denn das ist die Funktion von Feindbildern: Man kann ihnen leichter Schuld andichten als Nahestehenden, die einen zur Rechenschaft ziehen könnten. Da wird meist weitergelogen, obwohl das eine Chance wäre, sich echt zu entschuldigen. Unecht sind auch stellvertretende Entschuldigungen. Egal ob sich Politiker mit der Gnade der späten Geburt für den Holocaust entschuldigen oder irgendwelche Funktionsträger für katastrophale Fehlhandlungen ihrer Soldaten – es wird die direkte Konfrontation mit den Geschädigten oder ihren Nachfahren vermieden. Rotraud A. Perner ist Juristin, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und absolvierte postgraduale Studien in Soziologie und evangelischer Theologie. Eines ihrer zahlreichen Bücher heißt „Die reuelose Gesellschaft“ und ist im Residenz Verlag erschienen.

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Die Geschichte Deutschlands ist im 20. Jahrhundert zweigeteilt

In Deutschland ist das 20. Jahrhundert von zwei Weltkriegen, einer gescheiterten Demokratie, der Hitler-Diktatur und dem Holocaust geprägt. Und vierzig Jahre war Deutschland ein geteiltes Land. Wer dagegen heute von Deutschland spricht, denkt unter anderem an den Sozialstaat, Wohlstand, Liberalisierung, Globalisierung, eine erfolgreiche Demokratie und die längste Friedensperiode in der europäischen Geschichte. Das Projekt Europa ist für Deutschland der einzige gangbare Weg der Gegenwart, aber die deutsche Geschichte bleibt dennoch im Nationalen verwurzelt. Ulrich Herbert erklärt, warum das so ist. Das hat seinen guten Grund, denn persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Traditionen beziehen sich in allen europäischen Ländern, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, nach wie vor zuerst auf das Land, aus dem man kommt und in dem man lebt. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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Die Frauenbewegung ist die größte Revolution der Menschheit

Die ungarische Philosophin Agnes Heller, die zu den bedeutendsten Philosophinnen des 20. und 21. Jahrhunderts zählt, konnte man zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens zu etwas zwingen. Auch wenn sie schlechte Dinge getan hat, hat sie sie freiwillig getan. Gerne zitiert sie ihren Lehrer, den Philosophen Georg Lukács, der immer gesagt hat: „Unglück trifft jeden, aber ein gescheiter Mensch kann daraus Nutzen ziehen.“ Der Nationalsozialismus war für Agnes Heller allerdings kein Unglück, sondern die Hölle. Die Jahre von 1949 bis 1953 in Ungarn waren für die Philosophin zwar ein Unglück, aber auch die Zeit in der ihre Tochter geboren wurde. Agnes Heller erklärt. „Nicht ist nur schwarz oder weiß, alles ist schwarz mit weißen oder weiß mit schwarzen Punkten. Es gibt keinen Gewinn ohne Verlust. Und keinen Verlust ohne Gewinn.“

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