Personalität ist ein eingeübtes Rollenspiel

Zwischen Personalität und Individualität besteht ein Unterschied. Personalität ist ein eingeübtes, von Situation zu Situation variables Rollenspiel. Menschen erstreiten damit strategische Vorteile im sozialen Wettbewerb oder erhalten sie aufrecht. Dazu gehört für Markus Gabriel so scheinbar Unproblematisches wie die menschliche Fähigkeit, körperlich unversehrt durch den Alltag zu gelangen. Dennoch ist auch die Alltagswirklichkeit dauernd vom Ausbruch von Gewalt bedroht. Man denke nur an die alltäglichen Einbrüche, Taschendiebe und brutalen U-Bahn-Schubsern. Individualität dagegen ergibt sich aus dem schieren Umstand, dass jeder Mensch unvertretbar er selber ist. Martin Heidegger nannte dies mit einem seiner unzähligen Neologismen auf Neudeutsch „Jemeinigkeit“. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Weiterlesen

Die neue Mittelklasse prägt die Spätmoderne

Andreas Reckwitz nimmt den singularistischen Lebensstil der Spätmoderne, genauer unter die Lupe. In seiner reinsten Form findet er sich in der neuen, akademischen Mittelklasse. Das gelingt ihm am besten, indem er die einzelnen alltäglichen Praktiken betrachtet, aus denen er sich zusammensetzt. Dazu zählt Andreas Reckwitz unter anderem die Rolle, die das Essen und die Ernährung hier spielen sowie die Beziehung zwischen Arbeit und Freiheit. Dazu gehört auch das Verhältnis zum eigenen Körper und die Art und Weise, wie der sich durch die Welt bewegt. Ebenso bedeutend ist dabei die Rolle, die Wohnort und Wohnung samt ihrer Einrichtung spielen sowie die Bedeutung des Reisens und der Auslandsaufenthalte. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Weiterlesen

Die Kultur spielt eine zentrale Rolle

Bereits wenn man die Ökonomie und Technologien betrachtet – den Kulturkapitalismus und die Kulturmaschine – wird deutlich, dass die Gesellschaft der Singularitäten einer Dimension, die in der alten Industriegesellschaft von Marginalisierung bedroht war, einen zentralen Ort verschafft: der Kultur. Andreas Reckwitz erläutert: „Kultur spielt für die Art und Weise, in der sich die Spätmoderne strukturiert, eine ungewöhnliche Rolle.“ Singuläre Objekte, Orte, Zeiten, Subjekte und Kollektive sind heutzutage mehr als bloße Mittel zum Zweck beziehungsweise werden nicht mehr als solche wahrgenommen. Indem ihnen ein eigener Wert zugeschrieben wird, etwa in ästhetischer oder ethischer Weise, sind sie vielmehr in einem starken Sinn Kultur. Wenn Menschen, Dinge, Orte oder Kollektive einzigartig erscheinen, wird ihnen ein Wert zugeschrieben. Dadurch erscheinen sie gesellschaftlich wertvoll. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Weiterlesen

Das Böse ist eine spezielle Form der Blindheit

Es gibt das konzentrierte Bestreben zur Nivellierung der Urteilskraft und damit auch die Gleichmachung jeder Individualität. Dies geschieht im Namen eines stets werthaft überhöhten und letztlich anonymen Kollektivs. Das nennt Ayn Rand nun im eigentlichen Sinne „böse“. Wolfram Eilenberger erklärt: „Denn es ist aus ihrer Sicht ein Streben, das sich mit destruktivster sozialer Macht gegen all das wendet, was unsere Lebensform eigentlich gelingend und lebenswert macht.“ Das Böse ist also nicht eine metaphysische Kraft, ein transzendentes Prinzip oder ein ewiges „Nein“. Sondern es ist eine von anderen Menschen gezielt erzeugte und erwünschte Unfähigkeit, relevante Unterschiede auch als solche zu erkennen und vor allem anzuerkennen. Wolfram Eilenberger war langjähriger Chefredakteur des „Philosophie Magazins“, ist „Zeit“-Kolumnist und moderiert „Sternstunden der Philosophie im Schweizer Fernsehen.

Weiterlesen

Der Mensch erkennt sich selbst in seinem Handeln

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschäftigte sich eingehend mit den Wechselwirkungen zwischen der Welt im Inneren und der Außenwelt. Zudem untersuchte er ihre Funktion für die Selbsttäuschung. Nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel erkennen wir uns selbst in unserem Handeln. Und das Handeln ist an sich sozial. Seine Bedeutung hängt weitgehend davon ab, wie es von anderen wahrgenommen wird. Matthew B. Crawford erläutert: „Die wesentliche Frage der Selbsterkenntnis lautet, wie wir uns anderen durch unser Handeln verständlich machen können. Nur dann können sie uns ein Spiegelbild von uns vorhalten.“ Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel gibt es kein Selbst zu entdecken, das vor dem in der Welt seienden Selbst oder auf einer „tieferen Ebene“ als dieses existieren würde. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

Weiterlesen

Die Ideologen des Internets sind antielitär

Mit der Sorge um das Schicksal der Individualität in der gegenwärtigen Kultur setzt man sich vermutlich dem Verdacht aus, altmodisch zu sein. Denn heutzutage sind nicht wenige Menschen von der „Weisheit der vielen“ und der „Schwarmintelligenz“ fasziniert. Man suggeriert ihnen, das Internet bringe eine überlegene globale Intelligenz hervor. Matthew B. Crawford erklärt: „Dieser kollektive Verstand ist „meta“. Er ist synoptischer und synthetischer als jeder von uns.“ Natürlich passt all diese Liebe zur Crowd sehr schön zur Abneigung des Silicon Valley gegen das Konzept des geistigen Eigentums. Und zu der Tatsache, dass man mit der Anhäufung von Inhalten viel mehr Geld verdienen kann als mit der Produktion dieser Inhalte. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

Weiterlesen

Das Leben fließt nie konfliktfrei dahin

Harmonie bedeutet laut Reinhard K. Sprenger nicht Gleichklang, sondern Zusammenklang. Letzteres funktioniert nur bei „Gegenstimmen“. Harmonie ist also ein kluger Umgang mit Gegenstimmen. Befreien muss man sich aber vor allem von der Erwartung, das Leben müsse irgendwie konfliktfrei fließen. Jede Verhandlung im Geschäftsleben ist im Grunde konfliktär. Als Beispiel nennt Reinhard K. Sprenger die Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Auch in Projekten und Teams ist Konfliktfreiheit wirklichkeitsfremd. Im Grunde ist jede Veränderung mit Spannung verbunden, weil sie alle jene zum Gegner hat, die aus dem Status quo ihre Vorteile ziehen. Das Bild vom ruhigen Fluss führt also in die Irre. Das Gegenteil ist richtig: Konflikt ist das Normale. Reinhard K. Sprenger zählt zu den profiliertesten Managementberatern und wichtigsten Vordenkern der Wirtschaft in Deutschland.

Weiterlesen

In der Renaissance wird das Individuum geboren

Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder hellwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, der Befangenheit eines Kindes und durch Wahn. Zur Zeit der Renaissance erhebt sich zuerst in Italien mit aller Macht das Subjektive – der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. Bernd Roeck weiß: „Die starke These, die Renaissance habe die Geburt des Individuums erlebt, beschäftigt die Forschung noch heute.“ Sicher ist, dass schon seit dem 12. Jahrhundert Zeichen des Individuellen zunahmen: nicht nur, indem Versenkung ins Selbst als Weg zu Gott an Bedeutung gewann, das gab es zu allen Zeiten. Vielmehr tritt auch in der weltlichen Literatur die Bespiegelung des Individuellen, seiner Gefühle seiner Brüche auch, deutlicher hervor. Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

Weiterlesen

Eigenständiges Denken ging Søren Kierkegaard über alles

Individualität muss nicht Isolation bedeuten, aber sie kann – freiwillig oder unfreiwillig – leicht dazu führen. Søren Kierkegaard (1813 – 1855) hatte sich in seinen Tagebüchern die beiden Worte „Jener Einzelne“ als Grabinschrift gewünscht, um zu betonen, dass er der Erkenntnis treu geblieben war, dass nur die individuelle Stellungnahme dem Leben einen Sinn zu geben vermag. Man trifft hier auf den Kern eines Denkers, der in gegensätzliche Weltanschauungen glaubhaft hineinzuschlüpfen vermochte. Ludger Pfeil ergänzt: „Dieser „Einzelne“ war durchaus kein Einzelgänger, denn bei seinem täglichen Flanieren durch die Straßen Kopenhagens traf er auf Zufallsbegegnungen aus allen Ständen, mit denen er gerne untergehakt ein Stück des Weges gemeinsam plaudernd und philosophierend zurücklegte.“ Der Philosoph Dr. Ludger Pfeil machte nach seinem Studium Karriere in der Wirtschaft als Projektleiter und Führungskraft und ist als Managementberater tätig.

Weiterlesen

Das Selbst ist einem ständigen Wandel unterworfen

Es ist das Akzeptieren von Vielfalt, von Zweideutigkeit, von verschiedenen möglichen Wegen, die einem Menschen die Augen für das Eigene öffnen. Dabei geht es auch um das Einräumen von Uneindeutigkeit und inneren und äußeren Grenzen, die man mitdenken muss – und zwar gerade dann, wenn man auf der Suche nach dem Wahren, dem Wahrhaftigen ist. Ina Schmidt weiß: „Es ist der Mut, den wir brauchen, einer solch zweideutigen Wahrheit gegenüberzutreten, eröffnet die Möglichkeit, sich wirklich selbst zu begegnen.“ Es geht also nicht darum, das eigene Wesen aufzudecken, sondern sich in einem werdenden Sein zurechtzufinden, einem Selbst, das aufmerksamer Betrachtung und Begleitung bedarf, um in allem Wandel immer wieder ein Selbst bleiben zu können. Ina Schmidt gründete 2005 die „denkraeume“, eine Initiative, in der sie in Vorträgen, Workshops und Seminaren philosophische Themen und Begriffe für die heutige Lebenswelt verständlich macht.

Weiterlesen

Die Liebe ist ein bevorzugter Ort der Utopie

Die ewige Macht der Liebe lässt sich, wenn auch nur teilweise, aus der Tatsache erklären, dass die Liebe ein bevorzugter Ort utopischer Erfahrung ist. Eva Illouz fügt hinzu: „In den kapitalistischen Gesellschaften enthält die Liebe eine utopische Dimension, die sich nicht einfach auf „falsches Bewusstsein“ oder auf den angeblichen Einfluss der „Ideologie“ auf die menschlichen Sehnsüchte reduzieren lässt.“ Im Gegenteil, die Sehnsucht nach einer Utopie, die den Kern romantischer Liebe bildet weist tief reichende Affinitäten zur Erfahrung des Heiligen auf. Wie Durkheim gezeigt hat, ist diese Erfahrung nicht aus der säkularen Gesellschaft verschwunden, sondern hat sich aus der Sphäre der Religion auf andere kulturelle Bereiche verlagert. Einer dieser Bereiche ist die romantische Liebe. Die Soziologin Eva Illouz ist seit dem Jahr 2006 Professorin für Soziologie an der Hebrew University in Jerusalem.

Weiterlesen

Johann Gottfried Herder prägte die europäische Ideengeschichte

Terry Eagleton ist davon überzeugt, dass der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder ein Autor war, dessen Bedeutung für die Ideengeschichte kaum zu überschätzen ist: „Er war einer der erste historistischen Denker mit einem wachen Sinn für die geschichtliche Bedingtheit von Kulturen, Texten, Ereignissen und Individuen. Man hat diesen Ansatz als eine der großen intellektuellen Umwälzungen des europäischen Denkens bezeichnet.“ Darüber hinaus wurde er als Vater des modernen Nationalismus gepriesen und sogar gerühmt, den Begriff der Kultur als umfassende Lebensweise in das europäische Denken eingeführt zu haben. Und als ob das noch nicht alles eindrucksvoll genug wäre, war Johann Gottfried Herder auch einer der Begründer der modernen Literaturtheorie sowie einer der ersten Denker, der die Bedeutung der Populärkultur für das soziale Leben erkannte. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

Weiterlesen

Der Wettbewerb ist bei der Bildung verloren gegangen

Bildungsinitiativen und Bildungsreformkonzepte aller Art scheinen gegenwärtig ungeachtet allfälliger ideologischer Differenzen in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsanstrengung muss das Kind stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die gleichen Chancen gelten, und niemand darf zurückbleiben. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Individualisierung und Inklusion sind deshalb die zentralen Schlagworte, die mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten angenommen haben, die keinen Widerspruch mehr erlauben.“ Das es einmal Aufgabe von Schulen gewesen ist, eine – im Idealfall an den kognitiven Leistungen des Einzelnen orientierte – soziale Selektion vorzunehmen, kann nur als Relikt einer finsteren Epoche gewertet werden. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Weiterlesen

Gemeinschaften brauchen selbstbestimmte Menschen

Die Tendenz zum Jasagen zur Mehrheitsmeinung einer Gruppe oder zu Autoritäten hat den schlimmen Effekt, dass nicht nur der dümmsten Lösung zum Durchbruch verholfen wird, sondern sogar abscheuliche Verbrechen im Namen des „Das wurde mir so aufgetragen“ geschehen. Es gehört zum menschlichen Gruppenverhalten, das zu tun, was von einem erwartet wird. Und das wird nur in den seltensten Fällen hinterfragt. Anja Förster und Peter Kreuz kennen den Grund: „Wer mitspielt, wird belohnt mit sozialer Anerkennung und Aufstieg.“ Die sozialen Fähigkeiten des Menschen sind in Phasen der Evolution entstanden, in denen es darauf ankam, Feinden zu entkommen, Nahrung zu finden und Gruppen zusammenzuhalten. Und in all diesen Fällen war Mitmachen eine sinnvolle Strategie. Anja Förster und Peter Kreuz nehmen als Managementvordenker in Deutschland eine Schlüsselrolle ein.

Weiterlesen

In Demokratien geht alle politische Gewalt vom Bürger aus

Lange Zeit befasste sich die Politische Philosophie vornehmlich mit sozialen Institutionen und Systemen. Otfriede Höffe ergänzt: „Die Politik erschien dabei als eine Auseinandersetzung mit Interessen und um Macht.“ Vernachlässigt wurden die Subjekte, von denen in Demokratien doch alle politische Gewalt ausgeht. Dieser Vernachlässigung steuert das Thema Bürgeridentität entgegen. Das entscheidende Objekt, den Bürger, darf man allerdings weder auf den Bürger im engeren Sinn, den Staatsbürger, verkürzen, noch bei diesem die Bürgertugenden vergessen. Die Bürgertugenden tragen als Rechtssinn, Gerechtigkeitssinn und Gemeinsinn zum Wohlergehen der Demokratie bei. Deshalb gehören sie zum Kern eines aufgeklärten Liberalismus. Neben dem Staatsbürger, dem Citoyen, dem Bourgeois und dem Gemeinschaftsbürger, gibt es mindestens noch als vierte Person den Kultur- und Bildungsbürger. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

Weiterlesen

Kein Mensch möchte als Steppenwolf enden

Ob eine Person tatsächlich die Auffassungen einer Gruppe teilt, ist manchmal zweifelhaft. Denn der sogenannte Gruppenreflex sorgt dafür, dass die eigenen Meinung zurückgehalten oder unterdrückt wird, weil die Gemeinschaft für das Überleben des Einzelnen sehr wichtig ist. Anja Förster und Peter Kreuz stellen klar: „Das Ausleben von Individualität steht dem Einzelnen also nie völlig frei, sondern ist immer mehr oder weniger eingedämmt.“ Ein Mensch neigt schon aus biologischen Gründen dazu, seine Individualität, sein Freiheitsstreben und seine Eigenständigkeit der Gemeinschaft unterzuordnen. Die Furcht als „Steppenwolf“ zu enden, ist einfach zu groß. Wenn ein Gruppenmitglied dennoch in einer bestimmten Frage „Nein“ sagt, dann betrifft dieses „Nein“ auch immer die Erwartungen und die Forderungen der Gruppe. Anja Förster und Peter Kreuz nehmen als Managementvordenker in Deutschland eine Schlüsselrolle ein.

Weiterlesen

Über moralische Werte herrscht eine deprimierende Sprachlosigkeit

Viele Menschen hören sich oft so an, als seien ästhetische Urteile rein subjektiv, weshalb sie nicht öffentlich in Frage gestellt werden können. Diese Anschauung hat eine lange Tradition: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“, meinten schon die alten Römer. Matthew B. Crawford stellt fest: „Aber in Wirklichkeit denken wir anders. Wer in der Öffentlichkeit ein positives ästhetisches Urteil fällt, geht ein Risiko ein.“ Denn in Wirklichkeit sagt er: „Das hier ist gut.“ In einer 2008 durchgeführten Studie befragten die Soziologen Christian Smith und seine Kollegen von der University of Notre Dame 230 junge Amerikaner zur Bedeutung moralischer Werte für ihre Lebensführung. Sie fanden nichts so Spektakuläres wie moralische Verkommenheit, sondern stießen vielmehr auf deprimierende Sprachlosigkeit. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

Weiterlesen

Johann Wolfgang von Goethe arbeitete über 50 Jahre am „Faust“

Als Krönung, nicht nur des Altersschaffens, sondern des Werks insgesamt, gilt die Faust-Dichtung, an der Johann Wolfgang von Goethe über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren als seinem „Hauptgeschäft“ gearbeitet hat. Noch vor 1775 schrieb der Schriftsteller einzelne Szenen nieder, die aber erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden und als „Urfaust“ bekannt geworden sind. Während seiner italienischen Reise (1786 – 88) arbeitete er erneut am „Faust“ und veröffentlichte 1790 „Faust, ein Fragment“. Um die Jahrhundertwende nahm er, inspiriert von Friedrich Schiller, die Arbeit am Faust-Thema wieder auf und veröffentlichte 1808 „Faust, der Tragödie erster Teil“. Dass für ihn das Thema keineswegs abgeschlossen war, macht nicht nur der Untertitel „erster Teil“ deutlich, sondern auch die Tatsache, dass Johann Wolfgang von Goethe sich damals bereits mit dem Helena-Akt beschäftigte.

Weiterlesen

Der Mensch ist nicht auf seine Gene reduzierbar

Ein Grundziel sexueller Fortpflanzung ist der Erhaltung beziehungsweise gewissermaßen die Steigerung von genetischer Diversität. Durch bestimmte unter dem Begriff Rekombination zusammengefasste Prozesse wird dabei dafür Sorge getragen, dass die Nachkommen genetisch anders sind als die Eltern und auch zwischen den Mitgliedern einer Generation ein signifikantes Maß an genetischer Verschiedenartigkeit existiert. Markus Hengstschläger erklärt: „Abgesehen von zwei eineiigen Zwillingen ist das Genom eines Menschen einzigartig. Andererseits ist der genetische Unterschied zwischen zwei Menschen, wenn man ihn in Prozent der gesamten DNA ausdrückt, eigentlich auch wieder nur gering.“ Aber eben signifikant und relevant, sodass es sich dabei gemeinsam mit den für jeden Menschen individuellen Umwelteinflüssen aller Art und die beiden Komponenten handelt, die die Basis menschlicher Individualität bilden. Markus Hengstschläger ist Professor für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien.

Weiterlesen

Die Verbindlichkeit hält die Zivilgesellschaft zusammen

Was die Verbindlichkeit zu einem Schlüsselbegriff der Gegenwart werden lässt: Sie weist jeglichen Fundamentalismus zurück. Auf der anderen Seite gelten verbindliche Menschen schnell als langweilig. Maximilian Probst zeigt in seinem Buch „Verbindlichkeit“, dass die Verbindlichkeit wertvoller denn je ist, in einer Zeit, in der sich alles Verbindliche aufzulösen scheint. Er beschreibt, wo Verbindlichkeit und Verfügbarkeit sich unvereinbar gegenüberstehen und wie dieser Widerspruch sich auflösen und aufhalten lässt. Maximilian Probst schreibt: „Verbindlich ist der, der sagen kann, auch morgen werde er noch zu dem, was er gestern gesagt hat, stehen. Verbindlichkeit geht also davon aus, dass in Zukunft nicht alles anders sein wird, dass einiges beim Alten bleibt.“ Der Journalist Maximilian Probst schreibt seit 2011 vorwiegend für die Wochenzeitung die „Zeit“.

Weiterlesen

Matthew B. Crawford widmet sich der Wiedergewinnung des Wirklichen

Die sie umgebende Welt flutet die Menschen mit immer mehr und stärkeren Reizen. Es gibt sie, eine Krise der Aufmerksamkeit. Das geistige Leben wird zunehmend durch äußere Einflüsse manipuliert und fragmentiert. Zugleich wird die eigene Selbstverortung beeinträchtigt, denn viele Menschen eigenen sich die Wirklichkeit oft nur mittelbar an – aus zweiter Hand, über die Medien, nach Vorgaben der Wirtschaft oder des Mainstream. Der Philosoph Matthew B. Crawford fordert, dass sich die Menschen wieder einen direkten Zugang zu ihrer Umgebung erschließen müssen. Denn nur im konzentrierten Gesprächen und Auseinandersetzung mit echten Menschen und konkreten Tätigkeiten wird es den Individuen gelingen, eine wahre Individualität zu entwickeln. Dazu ist es erforderlich im Einklang mit der Welt zu handeln und sie nicht nur zu beobachten. Am Beispiel des Handwerks zeigt Matthew B. Crawford, wie wichtig dabei die konkrete Praxis ist. Denn diese hilft den Menschen dabei, sich in der Welt außerhalb ihres Kopfes zu verankern. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

Weiterlesen

Eltern müssen ihre Kinder „fit for life“ machen

Eltern haben einen Auftrag in Bezug auf ihre Kinder. Und auf den sollten sie sich bei aller Selbstinszenierung, eigener Bedürftigkeit nach Anerkennung und allem „modern sein Wollen“ auch tunlichst besinnen. Es ist ziemlich einfach und wenn man selbst genügend erwachsen ist, auch durchwegs erfüllbar. Martina Leibovici-Mühlberger erläutert: „Das ganze basiert auf einem einfachen und grundsätzlich unauflöslichen Vertrag, der in dem Moment in Kraft tritt, in dem wir Kinder in die Welt setzen. Wir sind für sie verantwortlich und müssen sie „fit for life“ machen. Wir müssen sie durch ihre Kindheit und Jugend begleiten, bis wir sie im jungen Erwachsenenalter endlich in die Unabhängigkeit entlassen können.“ Die Ärztin Martina Leibovici-Mühlberger leitet die ARGE Erziehungsberatung und Fortbildung GmbH, ein Ausbildungs-, Beratungs- und Forschungsinstitut mit sozialpsychologischem Fokus auf Jugend und Familie.

Weiterlesen

Viele Eltern bieten ihren Kindern keine Orientierung

Martina Leibovici-Mühlberger konzentriert sich in ihrem Buch „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden“ auf die Misere vieler Kinder, die von ihren Eltern verkauft, instrumentalisiert, betrogen und in der sensiblen Zeit des Aufwachens und der Orientierungssuche einfach im Stich gelassen wurden. Die meisten Menschen wollen heute frei leben, absolut frei, und ja keine Zwänge oder irgendetwas, das ihre Freiheit beschränken könnte, akzeptieren. Jeder will in sein Mickymaus-Leben hineinpacken, was ihm gerade gefällt, und es natürlich auch jederzeit wieder verändern, wenn eine Durststrecke droht und das Gewählte sich vielleicht als mühevoll herausstellt. Sonst wären sie ja blöderweise nicht mehr frei. Die Ärztin Martina Leibovici-Mühlberger leitet die ARGE Erziehungsberatung und Fortbildung GmbH, ein Ausbildungs-, Beratungs- und Forschungsinstitut mit sozialpsychologischem Fokus auf Jugend und Familie.

Weiterlesen

Michael Carolan kritisiert die Kosten der Kosten-Nutzen-Analyse

Von dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain stammt folgender populäre Aphorismus: „Es gibt drei Arten von Lügen: einfache Lügen, verdammte Lügen und Statistiken.“ Mark Twain starb, bevor die Kosten-Nutzen-Analyse zum Grundstein politischer Entscheidungsfindung avancierte. Wenn er sie gekannt hätte, hätte er zu seinen drei Lügen wahrscheinlich eine vierte hinzugefügt. Michael Carolan blickt in die Geschichte zurück: „Offiziell zum ersten Mal angewandt wurden Kosten-Nutzen-Analysen von der US-Regierung für Wasserwirtschaftsprojekte in den 1930er-Jahren.“ Aber erst in den 1980ern nahm die Kosten-Nutzen-Analyse eine zentrale Rolle in der politischen Gestaltung ein. Eigentlich wirkt sie auch ungeheuer sinnvoll. Dieser Ansatz, die ganze Welt mit konkreten Zahlen zu bewerten, hat viele blinde Anbeter gefunden. Michael Carolan ist Professor für Soziologie an der Colorado State University.

Weiterlesen

Den Menschen ist das Erlebnis der Humanität verloren gegangen

Die ganze Vorstellung der Humanität und des Humanismus gründet in der Idee der menschlichen Natur, die allen Menschen gemeinsam ist. Das war laut Erich Fromm die Prämisse des buddhistischen wie des jüdisch-christlichen Denkens. Der Buddhismus entwickelte ein Bild vom Menschen in existentialistischen und anthropologischen Begriffen und nahm an, dass die gleichen psychischen Gesetze für alle Menschen gelten. Denn die conditio humano ist für alle die gleiche, da alle Menschen in der Illusion der Getrenntheit und Unzerstörbarkeit des eigenen Ichs leben. Jedes Individuum sucht eine Antwort auf das Problem seiner Existenz zu finden, indem es versucht, sich gierig an allen Dingen, einschließlich des Ichs, festzuklammern. Alle Menschen leiden und können nur vom Leiden erlöst werden, wenn sie die Illusion ihres Abgetrenntseins und ihre Gier überwinden.

Weiterlesen