Noch nie gab es so wenig Gewalt wie heute

In seinem Buch „Die Naturgeschichte der menschlichen Moral“ verteidigt Michael Tomasello, Direktor des Leipziger Mex-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, das Mitgefühl als Strategie eigennütziger Interessen. Zudem weist er auf die Tatsache hin, dass sich die Entwicklung der Moral, die das Wohl der Allgemeinheit über den kurzfristigen Lustgewinn des Einzelnen stellt, als gut für die Menschheit und gut für das Individuum herausgestellt hat. Simon Hadler zitiert Steven Pinker, der in seinem Buch „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ folgende These eindrucksvoll darlegt: „Die Gewalt wird historisch gesehen immer wenige, ausgehend von den Jäger- und Sammlergesellschaften über Antike und Mittelalter und quer durch das 20. Jahrhundert bis zur heutigen Zeit, dem Terrorismus und den Kriegen zum Trotz. Noch nie gab es so wenig Gewalt.“ Simon Hadler ist seit 1999 Redakteur bei ORF.at, seit 2009 leitender Kulturredakteur.

Mit Beginn der Aufklärung setzte sich eine neue Form der Moral durch

Simon Hadler unterscheidet bei einem anderen Thema heutzutage zwei Gruppen: Die einen, die „Lügenpresse“ schreien, ihren nationalen Identitäten nachtrauern und sich geknechtet fühlen, und die anderen, die über eine „postfaktische Gesellschaft“ jammern und die Moral im Niedergang sehen. Was sie gesamte Debatte in Schieflage bringt, ist seiner Meinung nach die Tatsache, dass der Konflikt nicht entlang der Trennlinie moralisch/amoralisch verläuft, sondern zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Moral. Beide Gruppen wähnen sich selbst moralisch.

Simon Hadler ergänzt: „Traditionell galt das Gebot der Kooperation ausschließlich der eigenen Gruppe. Man half einander – und erschlug gemeinsam die Gegner, ohne dabei von Gewissensbissen geplagt zu werden.“ Im Urchristentum gab es dazu Gegentendenzen, und auch im Buddhismus, aber erst mit Beginn der Aufklärung begann sich einen andere Form der Moral durchzusetzen, nämlich eine, die alle anderen Gruppen auch einschließt, gipfelnd in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Bei manchen Menschen geht die Moral nicht über die Grenzen der eigenen Gruppe hinaus

Dieser Gedanke der allgemeinen Menschenrechte ist evolutionär nicht verankert, er ist revolutionär. Man muss ihn sich erarbeiten, er verbreitet sich nur langsam. Auf die Frage, worin nun die eigentliche Schieflage bestehe, antwortet Simon Hadler: „Jene, die den Gedanken der gleichen Rechte für wirklich alle verinnerlicht haben, sprechen dem Rest der Gesellschaft jegliche Moral ab, weil viele von diesem großen „Rest der Welt“ Parteien wählen, die mit Slogans wie „Unser Volk zuerst“ werben. Aber auch dieser „Rest der Welt“ agiert großteils moralisch.“

Sie helfen den Nachbarn, wenn diese Hilfe brauchen, ermahnen ihre Kinder, niemanden zu schlagen, sie bringen sich bei der freiwilligen Feuerwehr oder der Rettung ein und machen bei der Organisation von Schulveranstaltungen mit. Sie wollen sich ihre Moral an sich nicht absprechen lassen, nur weil ihre Moral über die Grenzen der eigenen Gruppe nicht hinausgeht – und schlagen nun wild um sich, weil sie unter Druck geraten sind. Die anderen schauen umso oberlehrerhafter auf sie herunter, ignorieren ihre Bedürfnisse und nehmen ihnen die Würde. Quelle: „Wirklich wahr!“ von Simon Hadler

Von Hans Klumbies