Irgendwo zwischen Syrien und Libyen beginnt laut Jürgen Wertheimer die Geschichte Europas. Dabei handelt es sich allerdings um eine genuin griechische Geschichte, vielleicht sogar um die Mutter aller Geschichten. Göttervater Zeus hat sich in Europé, die Tochter des mythischen Phönikerkönigs Agenor, verliebt. Er entführt sie, in der Gestalt eines Stieres, über das Meer nach Kreta. Dort verwandelt er sich zurück und zeugt mit Europé drei Söhne. Einer davon war Minos, der später das kretische Labyrinth erfand. Jürgen Wertheimer erklärt: „Entsprechend einer frühen Verheißung Aphrodites, wurde die neue Heimat nach ihr „Europa“ benannt.“ Noch in der Nacht vor ihrer Entführung hatte Europé davon geträumt, dass zwei Kontinente um sie stritten: Asia und das zukünftige Europa. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Der gesamte Mittelmeerraum geht auf Kurs „West“
Asia wollte sie mit dem Argument an sich binden, dass sie doch hier geboren sei und deshalb hierhergehöre. Der neue Kontinent verwies darauf, dass der Mensch frei sei, zu gehen wohin er wolle. Und entführte sie in die neue Welt, nach Kreta. In anmutigen Bildern beschreibt das griechische Märchen einen programmatischen Neuanfang. Dieser beginnt mit einer Entführung und endet in einem Gründungsmythos. Auf Kreta wird Europé zur Mutter einer neuen, antilevantinischen Mittelmeerkultur.
Der gesamte Mittelmeerraum wird sozusagen neu vermessen und geht auf Kurs „West“. Die alten ägyptisch-orientalischen Kulturen wurden verpflanzt und umgewidmet auf die Inseln der Ägäis. Für Jürgen Wertheimer ist das ein geopolitischer Paradigmenwechsel par excellence. Sich kulturell zu formieren, sich zu positionieren heißt auch, sich abzugrenzen und Trennungslinien zu ziehen. Das geschieht exemplarisch. Mythen fungieren als Medien der Inklusion beziehungsweise Exklusion.
Kreta wird zum Ausgangspunkt der minoischen Kultur
Zudem sind Mythen Teil eines göttlich legitimierten, menschlich gemachten politischen Schachspiels. Und dieses „Europa“ ist ein Kunstprodukt aus dem Geist der strategischen Abgrenzung. Da es im Mittelmeer kaum natürliche Grenzen gibt, musste man künstliche, ideologische Abgrenzungen finden. Das Meer galt den Griechen nicht als Barriere, sondern als Verbindung. Sie nannten es „ho pontos“ – die Brücke. Mit der kleinen Entführungsgeschichte wird hier jedoch eine für Jahrtausende gültige kulturelle wie geopolitische Grenze zwischen West und Ost gezogen.
Kreta wird zum Ausgangspunkt jener minoischen Kultur, die sich innerhalb kurzer Zeit über weite Teile des ägäischen Raums ausbreiten sollte. Funde belegen, dass der Einfluss der kretisch-minoischen Kultur bis ins östliche Mittelmeer reichte. In den langen Jahrhunderten seiner Blüte – grob gerechnet zwischen 2500 und 1500 v. u. Z. – hatte Kreta eine einzigartige kulturelle Signatur entwickelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts legte der britische Archäologe Arthur Evans Überreste gewaltiger Paläste ohne schützende Umfassungsmauern frei. Dies lässt auf eine ebenso reiche wie verfeinert-raffinierte Kultur schließen. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer
Von Hans Klumbies