Heimat ermöglicht die Erfahrung von Transzendenz

Heimat ist gleichermaßen Raum wie Idee religiöser Rückbezüglichkeit. Ihre Möglichkeit zur Bewältigung diverser Ambivalenzen ermöglicht vielen Individuen, welcher Religion auch immer, eine Religiosität ohne Gottesbezug. Christian Schüle erläutert: „Die spätmoderne, dauererregte, beschleunigte in ihrer Multioptionalität bedrängende Lebenswelt ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad Paradoxien.“ Heimat als emotional erinnerbare Gegenwart hingegen ist ein fundamentales Versprechen auf Reduktion der Komplexitäten durch Kohärenz: auf den sinnstiftenden Einklang von Selbst und Umwelt, der Ambivalenzen ja gerade auflöst. In der Reduktion eignet Heimat sich als Schutzraum, der ermöglicht, was kaum noch vermittelbar ist: Transzendenz-Erfahrung. Heimat ist auch das, was sich auf Dauer durch sich selbst bewährt. Sie erhält Geltung durch die Bindung des Menschen an Orte, Böden, Rituale, die durch die Biografie beglaubigt sind. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Heimat ist die Chiffre für das Urvertrauen

Jede Gesellschaft braucht Rituale für ihren Fortbestand, lehrte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, weswegen Gesellschaften strukturell konservativ sind. Vielleicht ist „Heimat“ ja die Chiffre für das Urvertrauen einer naturgemäß religiösen Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt. Ein Geborgenheitsraum also, der dem jeweiligen Individuum sein Urvertrauen ermöglicht. Das Urvertrauen ist eine Ursprungserfahrung. Das Ursprüngliche ist ja jenes, was einen anspringt und ein Leben lang haften bleibt.

Christian Schüle erklärt: „Im Moment, da dieses Anspringen geschieht, ist Heimat gegeben. Der Sprung in die Selbsttranszendenz ist der religiöse Akt par excellence.“ Eine der schlimmsten Erfahrungen des Menschen ist seit jeher der Verdacht, Produkt eines Zufalls zu sein. Also austauschbar und überflüssig. Von niemandem erwartet. Von wenigen gewollt und eigentlich sinnlos. Es ist die Sorge, kontingent zu sein, das heißt: für den Lauf der großen Dinge nicht notwendig, aber eben auch nicht unmöglich.

In ihrer Einsamkeit brauchen viele Menschen den Trost der Religion

Anders gesagt: Der Mensch weiß, dass er ist, aber nicht sein müsste. Er weiß, dass er da ist, aber hier nicht zu sein bräuchte. Er weiß, dass die Welt auch ohne ihn vonstattengeht. Ohne subjektiven Sinnhorizont geht es allerdings nicht, bescheinigt den Menschen die Kulturanthropologie, jeder Mensch braucht ein kohärentes Deutungsmuster. Der Fragende sucht nach einem Sinn, auch wenn es keinen messbaren gibt. Also konstruiert er ihn über Mythen und Rituale, über Narrative und Religionen, um die Vielfalt der Naturphänomene erklären zu können oder das Leiden erklärbar zu machen.

Christian Schüle weiß: „Religion lässt den Menschen die eigene Sterblichkeit akzeptieren und das Los des Todes ertragen; Religion mindert Angstgefühle und richtet ein komfortables Weltbild ein; Religion hält die Gesellschaft zusammen, stellt soziale und moralische Ordnung her; Religion bietet die Möglichkeit zur Illusion, da der Mensch alles glaubt, was ihm in seiner Einsamkeit Trost spendet.“ Der Mensch braucht, unabhängig von seinem Kulturkreis, seiner Konfession, seines Wohlstands, offenbar einen letzten und unhintergehbaren Grund. Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies