Nationen sind, so die klassische Definition von Ernest Renan, keine materiellen Phänomene, sondern geistige Prinzipien. Sie beruhen darauf, dass eine Gruppe von Menschen sich aufgrund bestimmter Merkmale wie Staatsangehörigkeit, gemeinsamer Sprache, Kultur oder Geschichte als zusammengehörig begreift. Andreas Rödder ergänzt: „Der Realitätsgehalt dieser Vorstellungen gemeinsamer Geschichte und Kultur ist in der Regel begrenzt, vielmehr beruhen sie oftmals auf Mythen und Erzählungen.“ Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat Nationen daher als „vorgestellte“ oder gar „erfundene Gemeinschaften bezeichnet – was freilich nichts an der durchschlagenden Wirkung dieser Idee in der Geschichte der westlichen Moderne ändert. Denn Gemeinschaften, die sich als Nation verstanden, wollten im 19. Jahrhundert auch in einem Staat zusammenleben. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
In Deutschland ging die Nation dem Staat voraus
So kamen die beiden Phänomene des Staates und der Nation in der Idee des Nationalstaats zusammen – mit einem wesentlichen Unterschied zwischen Deutschland auf der einen sowie Frankreich und England auf der anderen Seite. In ganz Europa hatten sich aus den mittelalterlichen Personenverbänden während der Frühen Neuzeit bürokratisch organisierte Staaten entwickelt. Ihr Territorium war allerdings in unterschiedlichem Maße mit dem Gebiet derjenigen Gemeinschaften deckungsgleich, die sich im 19. Jahrhundert als Nationen begriffen.
In Frankreich und England war dies der Fall; dort ging der Staat der Nation voraus. Dies ist heute noch spürbar, wenn im englischen Begriff des „nation state“ die Betonung eindeutig auf „state“ liegt. In Deutschland lagen die Dinge umgekehrt: Als die moderne Idee der deutschen Nation aufkam, gab es auf ihrem Gebiet keinen Gesamtstaat, sondern eine Fülle von Einzelstaaten. Daher ging die Vorstellung der Nation nicht vom Staat aus. Stattdessen ging die Nation dem Staat voraus.
Deutschland wurde zunächst als Kulturnation verstanden
Andreas Rödder erläutert: „Da sie sich nicht von einem bestehenden Staat her bestimmen konnte, wurde sie zunächst als Kulturnation verstanden.“ Sie berief sich auf kulturelle Faktoren wie gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichte oder gemeinsame Werte, die zumeist nicht präzise zu definieren sind – und das unter den Bedingungen der Romantik mit ihrem Zug zur schwärmerischen Utopie und zur schwermütigen Tiefgründigkeit, ihrem idealistischen Überschuss und ihrer Sehnsucht nach Ganzheit.
Das Ergebnis war ein kulturell befrachteter Nationsbegriff mit allerlei schicksalsschweren Konnotationen wie der „verspäteten“, der „verletzten“ oder der „unvollständigen“ Nation. Sie schwingen bis heute im deutschen Begriff vom „Nationalstaat“ mit, dem die Entspanntheit des englischen „nation state“ abgeht. Entspanntheit wäre aber ohnehin kaum der nächstliegende Begriff, wenn es um die endlos diskutierte Frage geht: „Was ist deutsch?“ Bis 1800 bezog sich die Antwort auf die Frage in erster Linie auf die Sprache, nachdem die Reformation, im Gegensatz zur territorialen und konfessionellen Zersplitterung, das Deutsche als gemeinsame Sprache etabliert hatte. Quelle: „Wer hat Angst vor Deutschland“ von Andreas Rödder
Von Hans Klumbies