Der „europäische Geist“ erlebte eine Krise

War man um die Mitte des 17. Jahrhunderts durch die zermürbende Erfahrung des Krieges klüger geworden? ES kann jedenfalls kein Zufall sein, dass mehr oder weniger simultan europaweit Tendenzen zu beobachten sind, an allem, was mit überkommenen Machtstrukturen zu tun hat, Kritik zu üben. Jürgen Wertheimer weiß: „Das betrifft Regierungsformen wie Denkstile. England unter der republikanischen Diktatur Oliver Cromwells oder die Revolte der Niederlande gegen die spanische Hegemonie sind nur zwei Beispiele für die beginnende Korrosion traditioneller Herrschaftsgefüge.“ Weit deutlicher jedoch als im Bereich der Politik zeigen sich die Zeichen eines generellen Umbruchs im Bereich der Künste und Wissenschaften. Denn der „europäische Geist“ erlebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine massive Krise. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Erkenntnistheorie wird zur Bedrohung der Macht

In deren Verlauf entstand das, was man modernes europäisches Bewusstsein nennen könnte. Es galt eine Politik ohne göttliches Recht, eine Religion ohne Mysterien und eine Moral ohne Dogmen zu schaffen. Und man baute die Wissenschaft zur „Natur“-Wissenschaft um. Eine Naturwissenschaft, die sich im Weiteren wiederum zur Lebenswissenschaft entwickeln sollte. Die Erkenntnis des Menschen greift ohne göttliche Vermittlung nach den Dingen selbst, widmet sich ihnen in ihrer Diesseitigkeit.

Jürgen Wertheimer betont: „Erkenntnistheorie wird zur Bedrohung für die Bastionen der Macht – insbesondere die Dogmen der Kirchen. Ein Prozess von unglaublicher Dynamik setzt ein.“ „Discours de la méthode“ von René Descartes und „Pensées“ von Blaise Pascal sind nur zwei Bausteine des revoltierenden geistigen Puzzlespiels. Viele andere Werke der Zeit flankieren den Angriff auf die Bastion der überkommenen Denkgebäude. Giordano Bruno, in dessen Kosmos kein Raum für das Jenseits mehr vorgesehen war, landete auf dem Scheiterhaufen.

Das Denken bekundet das Dasein einer Person

Die Thinktanks des 17. Jahrhunderts hatten der Reformation zum Trotz noch immer einen Hauptfeind: die katholische Kirche. Aus Furcht vor der Inquisition musste selbst ein René Descartes seine Schriften zunächst anonym erscheinen lassen. Ihnen allen liegt eine zentrale Formel zugrunde. Sie halten auf einen zentralen gedanklichen Fluchtpunkt zu. Nämlich auf die Selbstreflexion über die Bedingungen des Erkenntnisvermögens und der Erforschung dessen, was als „Wahrheit“ anzusehen ist.

Einziges Mittel zur Erkenntnisprüfung: der auf alle Voraussetzungen des Denkens gerichtete Zweifel. Jürgen Wertheimer erklärt: „Der Zweifel ist nicht Ketzerei, als Häresie, sondern als Methode!“ In diesem Sinne ist die zentrale Formel von René Descartes „Cogito, ergo sum“ zu verstehen. Nämlich dass sich in der Wirkung des Denkens das Dasein einer Person „klar und deutlich“ bekundet. Der Denkakt als Existenzbeweis. Und als „wahr“ hat zu gelten, was „klar und deutlich“ zu erkennen ist – auch Gott macht da keine Ausnahme. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies